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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus


Stoffpuppe Linsenmaier: Echter Kerl und Gefährte im Dick und Dünn einer Familie.

Rezension zu Anna Katharina Hahn: Aus und davon

Ursula Pietsch-Lindt



Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance



Zitationsvorschlag: PIETSCH-LINDT, U. Stoffpuppe Linsenmaier: Echter Kerl und Gefährte im Dick und Dünn einer Familie: Rezension zu Anna Katharina Hahn: Aus und davon. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 63–65, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/108

Copyright: Ursula Pietsch-Lindt. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992

Veröffentlicht am: 16.09.2021

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Der Linsenmaier, ein Puppenkerl ...

Der Linsenmaier, ein Puppenkerl, um den es in diesem Buch auch, vornehmlich aber in dieser Buchrezension gehen wird, taucht erst ab Seite 78 auf, obwohl er bereits lange zuvor Zeuge und Objekt einer trans-generationalen Familiendynamik war. Bis dahin geht es aber zunächst einmal um die im Buchtitel anklingenden Aus- und Aufbruchsbewegungen in diesem schwäbischen Familienpanorama eines Zusammenlebens in verschiedenen Konstellationen der Protagonisten im Stuttgart der Jetztzeit (vgl. Abbildung 1).

Aus und davon. Buchcover

Abbildung 1: Anna Katharina Hahn. Aus und davon. (Cover: Suse Kopp). Berlin: Suhrkamp, 2020

Da ist einmal der Aufbruch in der langjährigen Ehe von Elisabeth mit Hinz. Nach einem Schlaganfall und dem darauffolgenden Rehabilitationsaufenthalt ist Hinz ganz plötzlich auf und davon zu einer Frau, die er kurz zuvor in eben dieser Reha kennengelernt hat.
Aus ist es schon etwas länger mit der Ehe von Cornelia und Dimitrios, der nach Griechenland, dem Land seiner Herkunftsfamilie, gezogen ist. Cornelia, die jüngere der beiden Töchter des Ehepaars Elisabeth und Hinz, musste mit den gemeinsamen Kindern umziehen und ist nun, erschöpft von ihrem Vollzeitberuf als Physiotherapeutin sowie von Haushalt und Kindererziehung, einem Burnout nahe. Um sich selbst davor zu retten, beansprucht sie für sich eine Auszeit in den USA auf den Spuren ihrer Großmutter Gertrud, der Mutter ihrer Mutter Elisabeth. Während ihrer Abwesenheit – geplant für einige Wochen – übernimmt die frisch von ihrem Mann Hinz verlassene Elisabeth die Betreuung der zwei Enkel – die des adipösen Grundschülers Bruno und der pubertierenden Stella.
Aus ist auch der Aufenthalt für Hamid in einer wohlsituierten Familie, die ihn als minderjährigen Flüchtling aus Syrien aufgenommen hatte und in den sich Stella verliebt hat. Von jetzt auf gleich verlässt er auf Wunsch seiner in Aleppo lebenden Mutter die Stuttgarter Gastfamilie, um in Berlin bei seinem Onkel zu leben.

Im Gegensatz zu den wechselhaften Liebes- und Lebensbeziehungen der Menschen in diesem Roman scheint die Beziehung zu einer Puppe Beständigkeit zu versprechen. Als äußerlich sichtbar abgegriffenes „Trösterle“ ist die Stoffpuppe nun schon in der vierten Generation angekommen. Ihr ursprüngliche Name Linsenmaier verweist auf seinen mit schwäbischen Linsen gefüllten Korpus, ein Inhalt, der sich weich und fest zugleich anfühlt. Sein roter Basthaarschopf, die unterschiedlichen Knopfaugen und der aufgestickte rote Mund betonen die selbstgemachte Beschaffenheit.

Innerhalb dieses Erzählrahmens entpuppt sich die Geschichte seiner Abenteuer als Fluchtgeschichte aus dem Jahr 1923. Darin begleitet Linsenmaier seine von ihm „Liebste“ genannte Besitzerin, ein junges Mädchen aus einfachsten Verhältnissen, auf ein Auswandererschiff in die USA. Eine weitere Passagierin ist das 17jährige Mädchen Gertrud, genannt Trudeli, Mutter von Elisabeth und Urgroßmutter von Bruno und Stella. Ihre einst wohlhabende Stuttgarter Familie ist wie viele andere in dieser Zeit der Weltwirtschaftskrise verarmt und leidet unter der Hungersnot. Hilfe erhoffen sich die Eltern von den in der Gastronomie erfolgreichen Verwandten in Pennsylvania. Und so schicken sie Trudeli, die bislang verwöhnte und unerfahrene Tochter, in die Hotelier-Familie der Tante.
In Trudelis Begleitung befindet sich ebenfalls eine Puppe, von der Linsenmaiers Liebste gleich beim ersten Anblick fasziniert ist, woraus sich sofort ein Kontakt zwischen den beiden Mädchen ergibt. Schon bald werden auf dieser Schiffspassage zwischen Europa und den USA die Puppen getauscht. Die Liebste verrät ihren Linsenmaier, tauscht ihn, den einfachen handfesten Kerl, gegen den Franzosen „Michel“, eine blasse Pariser Porzellanpuppe in blauseidener Rüschenhose und schwarzen Stiefelchen.
Erleichtert wird dieser Tausch, weil für Trudeli während der Reise weder die eine noch die andere Puppe wichtig ist, sondern ein echter junger Mann, der ihr großes Interesse erweckt. Um ihn kennenzulernen, wird der von ihr bislang vernachlässigte Linsenmaier als Vermittlungsobjekt benutzt. Trudeli wirft ihrem Auserwählten die Stoffpuppe vor die Füße, woraufhin Alfred, Werkzeugmacher schwäbisch-pietistischer Herkunft, den Linsenmaier mit großer Aufmerksamkeit der jungen hübschen Frau zurückgibt. So kommt er als Tauschobjekt für Michel und Ersatzobjekt für Alfred mit Trudeli nach Meadville, Pennsylvania. In der fremden und ihr zum Teil feindlich gesinnten Umgebung gewinnt der Linsenmaier an Bedeutung und wird zum Trösterle der tränenreichen Trudeli: „Der Linsenmaier und sie lagen eng aneinandergedrückt in der Finsternis wie zwei Nusshälften in der Schale“ (Hahn 2020, 166).
Ihre Hauptaufgabe bei den Verwandten besteht in der Pflege der Frau ihres Onkels, die durch ein Schiffsunglück verkrüppelt und im Gesicht entstellt ist und von allen – auch von den eigenen Kindern – isoliert in einem Zimmer vor sich hindämmert. Die gruselhafte Situation, ihr Heimweh, ihre Sehnsucht nach Alfred – das alles lässt sich nur aushalten durch das üppig vorhandene Essen, von dem sie Unmengen verzehrt, bis aus dem dünnen Mädchen eine fette junge Frau geworden ist. Ausgerechnet in dieser Phase der aufkeimenden Liebe zu Linsenmaier gibt sie ihm den Todesstoß, den er schon in seiner Phantasie antizipiert hatte: „Wenn der Linsenmaier es vor Sehnsucht nach seiner Liebsten nicht mehr aushielt, stellte er sich sein eigenes Ende vor“ (81f.). In einer stürmischen Schneenacht, allein mit ihrer moribunden Tante im großen Haus, wird Trudeli von einer Hungerattacke überfallen. Sie schneidet der Stoffpuppe unter vielen Entschuldigungen den Leib auf, kocht die Linsen und verzehrt sie mit Heißhunger. Mit den Eingeweiden des Linsenmaier hat sie sich Gleichgültigkeit einverleibt, aus der sie erst wiederauflebt, als Alfred kommt und sie als seine Verlobte zurück nach Deutschland bringt.
Dort lebt Linsenmaier als leere Hülle im Schrank weiter, bis er von Trudeli nach dem Krieg wiederentdeckt wird. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Elisabeth befüllt sie ihn neu mit Linsen und er beginnt, „sich endlich wieder wie ein richtiger Kerl zu fühlen...“ (270). So ausgestattet, wird er wieder zum Begleiter, Freund und Trösterle der Kinder der nächsten und übernächsten Generation, bis ihn Elisabeth im Bett von Enkel Bruno findet: „Herrschaft Sechser! Das ist ja der Linsenmaier!“ (78).

Damit schließt sich zwar der Kreis der Stoffpuppenbesitzer:innen, aber seine Geschichtspartikel sind weit verstreut. In Elisabeth setzt die Wiederentdeckung Erinnerungen frei. Sie, die keine Geschichten erzählen kann, beginnt nachts in der Küche der abwesenden Tochter auf herumliegenden Blättern Linsenmaiers Geschichte aufzuschreiben. Die Symbolik des Romans aufgreifend, sucht Elisabeth Linse um Linse in ihren Erinnerungen, um die leere Stoffhülle damit zu füllen, schließlich sind es zwei Hefte geworden, aus denen sie Bruno vorliest. Nun ist Linsenmaier auf der erzählerischen Metaebene angekommen und der wieder Auferweckte wird zum anthropomorphen Medium der Familiengeschichte. Als solches ist Linsenmaier mit reichhaltigem Gefühlsleben ausgestattet – er ist enttäuscht vom Verrat seiner Erstbesitzerin, eifersüchtig auf seinen Konkurrenten, die Porzellanpuppe und auf Alfred, Trudelis Verlobten. Mit Freude beobachtet er Trudelis gesteigerten Appetit und ihre Gewichtszunahme, kommentiert kritisch die pietistisch-asketische Einflussnahme Alfreds auf Trudeli, fühlt ihre Trauer und ihre Angstzustände, bis er bei seiner Rückkehr endlich wieder die vertraute schwäbische Mundart hört und – ermattet in seiner körperlichen Leere als Stoffhülle – in einen Dauerschlaf fällt. Am Ende sitzt er zwar zwischendurch auf Brunos Schoß, aber wichtiger noch als Linsenmaier ist dem Jungen die frisch adoptierte Katze mit ihren neugeborenen Kätzchen. Dass nicht alle von ihnen überleben, setzt den Schlusspunkt des Romans und ist zugleich ein Element von Erfahrungszuwachs für Bruno.

Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Anna Katharina Hahn hat diesen Roman vielstimmig angelegt. Der Wechsel der Erzählperspektiven unterstützt die Unruhe der Auf- und Ausbruchsbewegungen in den ausgefransten Familienszenarien einer sich radikal beschleunigenden Gegenwart. Ein Ausdruck davon spiegelt sich in den verschiedenen und wechselnden Leibesumfängen der Figuren einschließlich des Linsenmaier. Vor dem Hintergrund historischer und aktueller Ernährungssituationen, die von Hunger bis Fast Food-Trend reichen, werden sie detailreich geschildert. Auch in dieser Hinsicht scheint Linsenmaier ein Hort der Beständigkeit – stoisch überlebt er den kannibalischen Akt seiner Schlachtung, seine innere Leere und Wiederauffüllung. Allerdings verstummt seine Stimme zu dem Zeitpunkt, als Elisabeth ihre Hefte gefüllt hat. Mit seiner Verschriftlichung scheinen auch seine Aufgaben als Begleiter und Trösterle erfüllt. Doch vermutlich nicht für die Autorin – denn Linsenmaier, als der „arg liebe[...] Kerle“ und „treue Gesell“ (269) ist es doch, der ihr beisteht in all diesem Wirrwarr von Familiengeschichten und ihren Verwerfungen, von denen sie so gekonnt und schillernd „unzuverlässig“ (vgl. Booth 1961, 158) zu erzählen weiß. Erzählungen verlebendigen Puppen als Geschöpfe der Sprache und Akteure von Beziehungen (vgl. Mattenklott 2014). So ist es wieder einmal eine Puppe, die als erzählter Text über die Bedeutung als Kindheitsgefährte hinauswächst und sich als lebenslanger imaginäre(r) Begleiter und „heimliche[r] Menschenflüsterer“ (Fooken 2012) durch die Um- und Aufbrüche einer Biographie behauptet.


Literaturverzeichnis

Booth, Wayne C. (1961). Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press.

Fooken, Insa (2012). Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut (unter Mitarbeit von Robin Lohmann). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mattenklott, Gundel (2014). Heimlich-unheimliche Puppe: Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge. In Insa Fooken, Jana Mikota (Hrsg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 29 – 42). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.



Über die Rezensentin / About the Reviewer

Ursula Pietsch-Lindt

Dr. phil. Ursula Pietsch-Lindt, Buchhändlerin, Volksschullehrerin, Magistra, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinierungsstelle Wissenschaft und Öffentlichkeit der Universität zu Köln und Geschäftsführerin der Kölner Kinder- und Junioruniversität (bis 2014); Promotion 2019 an der Universität Siegen zum Thema „Tod und Sterben alter Eltern“; Lehrbeauftragte im Gasthörer- und Seniorenstudium der Universität zu Köln mit dem Arbeitsschwerpunkt: Intergenerationelle Projekte im Bereich Kulturelle Bildung.

Ursula Pietsch-Lindt

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