denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus
Nils C. Ritter
Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios
Abstract:
Das von einem schwankenden Erzähler begleitete und reflektierte Bekleiden,
Beleben, Traktieren, Malträtieren und schließlich Vernichten und Bestatten einer
Puppe in Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe kann als ritueller
Zyklus eines animistischen Bildhandelns gelesen werden, der überdies das soziale Leben
eines Dings dialektisch miterzählt. Darüber hinaus offenbart die kulturwissenschaftliche
Re-Lektüre des Puppenspiels, wie Keller als Autor des poetischen Realismus einerseits
diejenigen Formen literarischen Bildhandelns fortführt, die wir bereits in Texten der
Frühromantik und der Goethezeit vorfinden, andererseits kulturwissenschaftlichen
Diskursen des späten 20. Jahrhunderts vorgreift: Anhand des Lebens einer Puppe formuliert
Keller lange vor allen cultural turns zentrale Fragen der material culture studies zu ambiguen
Dispositionen menschlicher Interaktion mit Dingen. Hierin bietet die Novelle einen
paradigmatischen Zugriff auf die Kernfrage des pictorial turn zum doppelten Bewusstsein
von uns Menschen im Handeln mit und durch Dinge. Der Umgang der Kinder mit der Puppe
zwischen kindlichem Spiel und rites de passage, zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus
sowie das Oszillieren des Erzählers zwischen Beschreibung und Anteilnahme, reflektiert
nicht nur den ambiguen Charakter, der dem Bild- und Ritualhandeln in ästhetischen wie
sozialen Dispositionen inhärent ist, sondern er zeigt auch, wie Poetologien des Wissens zur
Mitte des 19. Jahrhunderts jenseits von naivem Animismus und nüchternem Materialismus
Reflektionen zur agency von Artefakten mit Bildcharakter versammeln und erzählen.
Schlagworte: Handlungs- und Wirkmacht; Dingpoetik; Initiationsriten; poetischer Realismus; pictorial turn
Abstract:
Children’s dressing, animation, torture, mistreatment and ultimate destruction of a
doll, as accompanied and reflected on by an ambivalent narrator in Keller’s Romeo
und Julia auf dem Dorfe, can be understood as a ritualistic cycle of animistic
image-based action that recounts the social life of a thing; a re-reading of the children’s
play with dolls in this novella also reveals how Keller, as a representative of poetic realism,
not only perpetuates forms of the literary image-based action found in early romantic texts
and, more broadly, in texts from the age of Goethe, but also anticipates late twentieth-century
discourses of cultural studies. In this respect the novella exhibits a poetological topicality.
Long before the cultural turns, Keller, through a recreation of the life of a doll, provided a
literary treatment of central questions of material culture studies regarding the ambiguous
aspects of human interaction with things. His novella offers a paradigmatic approach to the
core question of the pictorial turn regarding the double consciousness of us humans in our
dealings with things. The children’s interaction with the doll, something between play and
rites de passage, between idolatry and iconoclasm, and the narrator’s oscillation between
description and empathy reflect not only the ambiguous character inherent in both
image-based and ritualistic action in aesthetic and social arrangements, but also reveal
how mid-nineteenth-century poetologies of knowledge offer observations on the agency
of artifacts that surpass naïve animism and sober materialism.
Keywords: agency, theory and poetics of things, rites of passage, literary realism, pictorial turn
Zitationsvorschlag: Ritter, N. C. Zauberfrau Und Marterleib: Das Leben Der Puppe in Gottfried Kellers Novelle Romeo Und Julia Auf Dem Dorfe Und Die Episteme Von Ritual- Und Bildhandeln Im Poetischen Realismus. de:do 2018, 1, 64-72. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Copyright: Nils C. Ritter. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Veröffentlicht am: 17.05.2018
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Gottfried Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe (1855/56)1
gehört nicht nur zu den herausragenden Erzählungen des poetischen Realismus,
der Text offenbart obendrein in umfassender symbolischer und
metaphorischer Dichte, wie eine Puppe quasi-narrative Qualitäten epistemischer
Dimension erreicht und eine agency, also eine Handlungs- und Wirkmacht
innerhalb der Diegese etabliert, die bei anderen Autoren der Jahrhundertmitte in
dieser Intensität nicht zu finden ist.
Kellers Novelle beginnt mit einem eindringlichen Bild herbstlicher Natur, in der
die beiden Bauern Marti und Manz ihre Felder pflügen. Dorthin begeben sich
die beiden Kinder der Bauern, „ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen
von fünfen“ (4, 76), um ihren Vätern einen Imbiss zu bringen und im Feld mit
einer Puppe zu spielen. Die sich aus dieser Konstellation entwickelnde Handlung
verbindet gegenzyklisch die zwischen den Kindern Vrenchen und Sali aufkeimende
Liebesgeschichte mit dem fortschreitenden Zerstörungswerk beider Familien
durch die sich zunehmend entzweienden Väter (Honold, 2016, 56). In der Eingangssequenz
entwickelt der Erzähler darüber hinaus fundamentale, sich
kreuzweise verschränkende Handlungs- und Kommunikationsprozesse zwischen
Kind und Puppe, zwischen Mensch und Ding, zwischen Ritual- und Bildhandeln,
und dies alles kulminiert in der Puppe, die die parallelen und antithetischen
Konfigurationsmuster der symmetrisch angelegten Figuren in sich vereint. Wie
alle Kinderspiele, so kreist auch das Puppenspiel von Vrenchen und Sali inmitten
des verwilderten Ackers „um die ernsten Dinge des Lebens, um Mutter- und
Vaterschaft, um Zeugung und Zerstörung“ (Honold 2004, 447). Das ludische
Handeln mit der Puppe geht jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter, es
steht pars pro toto für Kellers Gabe, Phänomene literarisch zu beschreiben, die
erst viel später kommunikations- und bildwissenschaftlich, ritualanalytisch und
auch entwicklungspsychologisch2 beschrieben werden sollten.
Zu Beginn der Novelle ziehen die beiden Kinder Vrenchen und Sali einen dicht bepackten Kinderwagen die Höhe empor zu den Feldern. Neben den Speisen für die Väter trägt der Wagen noch weitere Dinge:
Und außerdem waren da noch verpackt allerlei seltsam gestaltete angebissene Äpfel und Birnen, welche die Kinder am Wege aufgelesen, und eine völlig nackte Puppe mit nur einem Bein und einem verschmierten Gesicht, welche wie ein Fräulein zwischen den Broten saß und sich behaglich fahren ließ (4, 76).
Abbildung: „Sali und Vrenchen“, Illustration von Ernst Würtenberger (1917) zur Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe von Gottfried Keller. Quelle: https://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/ seiler/novellen/05kell1/bilder/kap01. htm
Die Puppe der Kinder ist nur Fragment und über
ihre fehlenden, deformierten Aspekte zu erfassen:
Sie ist nackt, amputiert und hat ein völlig
verschmiertes, also nicht bildlich als menschlich
zu erfassendes Gesicht. Sie wird als ambivalentes
Ding präsentiert: Einerseits ist sie entmenschlicht,
unbeseelt, inaktiv, andererseits weiß der
Erzähler zu berichten, dass sie sich wie ein Fräulein
in dem Wagen fahren lässt. Diese Ambiguität
beschreibt auf einer dinglichen Ebene
Bild und Bildwirkung: Bilder durchlaufen
stets einen doppelten Produktionsprozess, sie
werden einerseits als materiell fassbare Artefakte
hergestellt, sind also zugleich Medium und
in einem Medium manifest, andererseits müssen sie
erst von einem Menschen beschaut werden, damit
aus dem Gebilde ein Bild wird (Sachs-Hombach 2009, 282).3 Die Puppe ist somit
wie alle anderen Bildobjekte ein wahrnehmungsnahes Medium. Nur durch die Betrachtung
und durch eine spezifische, an unsere Wahrnehmungskompetenzen und
-gewohnheiten gebundene Rezeption wird das Ding in ein Bild transformiert. Im
Wagen ist die Puppe also zunächst ein Ding ohne Repräsentations- und Perzeptionswirkung
und darin den aufgesammelten Äpfeln und Birnen in ihrer Dinglichkeit
gleich. Keller beschreibt folglich in der einleitenden Sequenz die Puppe einerseits anthropomorphisiert als Entität, die auf dem Wagen der Kinder sitzt und sich
behaglich fahren lässt, andererseits als Ding in einer Phase des Nicht-Seins, der
Nichtbeachtung und Unvollständigkeit. Sie vereint in diesem Stadium zwei im
Grunde unvereinbare Zustände: Die Puppe ist, und sie ist nicht.
Die Kinder ziehen den Wagen in den Schatten von grünendem Gebüsch, ehe
sie sich mit der Puppe in die „ungewohnte und merkwürdige Wildnis“ (4, 79)
des verwilderten Ackers begeben, also des unbestellten dritten Feldes, welches
zwischen den Feldern der beiden Väter liegt und zu Peripetie und Katastrophe der
beiden Familien führen wird. In diesem Ort kultureller Unordnung – gleichsam
der Antithese zur symmetrisch geordneten bäuerlichen Welt – findet die Puppe
nun Beachtung: Der Acker hat narrativ für den weiteren Verlauf der Novelle
fundamentale Bedeutung; zudem erlangt er für Vrenchen und Sali strukturmotivischen
Wert, ist Ort des Puppenspiels und hat quasi-magische Bedeutung
als räumlicher Fokus kindlicher Zweisamkeit, der jugendlichen Liebe und des
diese Liebe beendenden Steinwurfs durch Sali.
Der soziologischen Raumkonzeption Martina Löws folgend stellt sich der
verwilderte Acker als Anordnung von Menschen und sozialen Gütern materieller
und symbolischer Natur dar, die durch spacing, also durch das aktive Platzieren von
und Handeln mit Objekten innerhalb eines definierten Raums, aktiviert werden
(Löw 2001, 158). Durch das bewusste Deponieren von Steinen und die verhinderte
agrarische Nutzung haben Marti und Manz einen abgrenzbaren Raum geschaffen,
der einen Gegenentwurf zu deren sauber bestellten und geometrisch klar
strukturierten Äckern bildet und zugleich Lebensraum der Puppe wird: Hier wird
das Ding belebt, hier entfaltet es seine agency auf die Kinder und wird schließlich
auch hier bestattet. Durch die Syntheseleistung der Kinder, vor allem durch ihre
Wahrnehmung und Imagination entsteht hier somit der Raum und der Erfahrungsbereich,
in dem sich der Lebenszyklus des Übergangsobjekts Puppe vollenden
kann (vgl. Fooken 2012, 31).
Auf dem verwilderten Acker findet eine kindlich verspielte, zugleich aber stark symbolisch aufgeladene ritualähnliche Handlung statt, die die weiteren Schicksale der handelnden Figuren antizipiert und symbolisch auf den Niedergang der beiden Familien verweist. Zunächst wird die Puppe von Vrenchen spielerisch mit einem grünen Rock aus Wegekraut bekleidet,
so daß sie einen schönen grünen und ausgezackten Rock bekam; eine einsame rote Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase festgebunden, und nun sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau, besonders nachdem sie noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen roten Beerchen erhalten (4, 79).
Die erste Aufgabe von Bildern wird gemeinhin in ihrer Eigenschaft als Ersatz
und Repräsentation gesehen, und ohne Zweifel haben sie mitunter simulative
Funktionen als Surrogatbilder. Diese Eigenschaft ist bei einer Puppe von vornherein
gegeben, im kindlichen Spiel ist sie ganz anthropomorphisiert: Sie ist ein
Mensch, hat ein Geschlecht, zumeist einen Namen, eine soziale Funktion, ist also
Substitut eines belebten Wesens und erlangt hierdurch eine eigene transformative
Handlungsmacht und -kompetenz (Hillard 2009, 365). Zu diesem belebten Wesen
wird die Puppe durch den performativen Initiationsritus des Bekleidens, wobei
hier kein Übergang vom infantilen zum juvenilen Ich, sondern vielmehr eine
Beseelung vom amorphen Ding zur anthropomorphen Figur mit Handlungs- und
Wirkmacht lesbar wird. Durch das Bekleiden wird die einbeinige Puppe mit
verschmiertem Gesicht zunächst visuell und auch haptisch verändert und genau
dadurch in ein neues Lebensstadium überführt: Die Behandlung des Ritualobjekts
Puppe durch das Ritualsubjekt Vrenchen innerhalb des Ritualraums des verwilderten
Ackers unter Hinzunahme von Ritualdesign aus Mohnblume, Wegekraut
und Beeren als Kopfputz, Rock und Schmuck im Rahmen der Performanz des
Bekleidens und Platzierens markieren den rite de passage der Puppe in eine neue
Phase.
Hierin ist die Puppe nicht nur auratisch, sie erscheint als Zauberfrau beseelt, als
manifestes Gegenüber, und wird zu einem Agens, zu einem kommunikativen
Gegenüber: „Dann wurde sie hoch in die Stengel der Distel gesetzt und eine Weile
mit vereinten Blicken angeschaut“ (4, 79). Nach dieser Investitur ist die Puppe
also anwesend und evoziert die vereinte Aufmerksamkeit der Kinder durch
körperliche Erfahrbarkeit und somatische wie sensuelle Wahrnehmung. Der
Blick macht die Puppe.
Das Leben der Puppe erstreckt sich über zwei Phasen, die durch Sali unterbrochen
werden. Der Junge wirft die auf der Distel thronende Puppe mit einem Stein
herunter (4, 79) und zerstört damit nicht nur die rituelle Anordnung, sondern entseelt auch (zumindest kurzzeitig) die deformierte Puppe. Im Hier wird etwas
getan, das sich auf ein Dort bezieht; etwas Abwesendes wird sichtbar und präsent
gemacht (Dücker 2007, 33). In literarischen Texten, die Ritualhandeln erzählen,
stellt die strukturmotivische Verweisung auf den Fortgang der Erzählung das
Dort in absentia dar. Denn so wie Sali die Puppe mit einem Stein trifft und
beschädigt, wird er später Vrenis Vater an eben diesem Ritualort mit einem Stein
am Kopf treffen, was dessen geistige Umnachtung auslösen wird (4, 118). Die
Puppe wird zu Vrenchens Vater in effigie.
Sali betreibt gleichzeitig Ikonoklasmus: Das geschmückte, initiierte Bildnis wird
von ihm missachtet, geschändet und seiner Integrität beraubt. Nachdem er die
Puppe mit einem Steinwurf von ihrem arrangierten Ort entfernt, wirft er sie in die
Luft und zerstört damit das Arrangement vollends. Dies wird auch stilistisch in
Szene gesetzt, die Puppe ist nun keine „Zauberfrau“ (4, 79) mehr, sie ist lediglich
noch ein Spielzeug in desolatem Zustand.
Nachdem die Initiation der Puppe zur Zauberfrau abgeschlossen, diese wieder
zu einem Spielzeug degradiert wurde, beginnt die zweite Phase ihrer Biografie,
die mit erheblichen Modifikationen einhergeht. Gleich einer Vivisektion entfernt
Sali zunächst durch ein Loch in dem einzigen verbliebenen Bein der Puppe deren
Füllung aus Kleie, „bis das ganze Bein dürr und leer herabhing als eine traurige
Hülse“ (4, 80). Dies markiert eine Rückformung, eine evolutionäre Regression,
das einst humanoide Wesen wird nun amphibisch (vgl. Honold 2004, 447).
Sali schockiert Vrenchen mit der malträtierten Puppe zunächst; nach kurzer
Besinnung entschließt sie sich jedoch zu weiteren Gewalthandlungen, sodass
Vrenchen
mit ihm gemeinschaftlich die Zerstörung und Zerlegung fortsetzte. Sie bohrten Loch auf Loch in den Marterleib und ließen aller Enden die Kleie entströmen, welche sie sorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen sammelten, umrührten und aufmerksam betrachteten (4, 80).
Der Nexus von Öffnen und Entleeren des Körpers weckt das Interesse der Kinder. Die Zauberfrau wird entmystifiziert und zu einem Gegenstand der Realienkunde (Mühlemann 2007, 180). Wie Gert Sautermeister beschreibt, ist dem Zerstörungsimpuls der Kinder ein phantasievoller Belebungswille beigesellt (Sautermeister 2003, 13). Eben dieses Zwischenstadium markiert zugleich die Metamorphose zur zweiten Lebenshälfte der Puppe. Zur Wiedergeburt bedarf es erst der Zerstörung, Deformation und Destruktion entpuppen sich als conditio sine qua non einer Palingenese.
Nachdem die Kinder den Körper der Puppe zu einem „Marterleib“ (4, 80) mutiliert
zerlegt haben, konzentrieren sie sich auf den Kopf, der nun in den Fokus der
Aufmerksamkeit rückt. Zunächst trennen sie gemeinschaftlich das Haupt
„sorgfältig los von dem ausgequetschten Leichnam“ (4, 81). Nachdem die Kinder
das Innere des Kopfes studiert haben, füllen Sie ihn mit Kleie und – hier wird ein
zweiter rite de passage vollführt – mit etwas Belebtem, einer großen blauen Fliege:
„Hierauf wurde die Fliege hineingesperrt und das Loch mit Gras verstopft. Die
Kinder hielten den Kopf an die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen
Stein“ (4, 81). Mit dem Einschluss eines lebendigen Wesens in den hohlen Kopf
der Puppe wird diese wahrhaftig mit Leben gefüllt. Die feierliche Inthronisation
des lebendigen Kopfes als hybride Entität bildet den liturgischen Höhepunkt
des Puppenspiels auf dem verwilderten Acker und markiert die Puppe als Opfer
und Orakel zugleich: Durch die Öffnung des Leibes und die Entfernung der
Kleie erinnert der „Marterleib“ (4, 80) zunächst an das Blut, die Passion und den
Märtyrertod Christi (Hillard 2009, 365). Die unschuldig geopferte Fliege steht
soteriologisch für das stellvertretende Opfer, als stigmatisiertes φαρμακός
(pharmakós), das heißt als lebendiges Opfer für Reinigungsrituale, aus dem die
Erlösung aller hervorgeht; denn „in einer Welt, in der der geringste Konflikt […]
verheerende Folgen haben kann [wie etwa die Streitigkeiten der Bauern um den
verwilderten Acker, Anm. N. Ritter] führt die Opferung die aggressiven Tendenzen
auf wirkliche oder gedachte, belebte oder unbelebte Opfer ab, von denen nie
angenommen werden muss, sie könnten je gerächt werden […]“ (Girard 2012, 32).
In Kellers Novelle jedoch verhindert kein Opfer auch nur die geringste aggressive
Tendenz. Die Belebung mittels eines Opfers führt die Puppe immerhin zurück
ins Leben. Hier nun „glich der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte und die
Kinder lauschten in tiefer Stille seinen Kunden und Märchen, indessen sie sich
umschlungen hielten“ (4, 81); die Kinder werden zu Adoranten eines sakralisierten
Fetisches (vgl. Böhme 2015).
In der ersten Phase des Ritualhandelns wurde die Puppe durch Bekleiden zu einer
Zauberfrau, deren Genese mit Salis Steinwurf abgeschlossen war. In der hier
beschriebenen Körperinszenierung ist die zweite, umfassendere Phase des Ritualhandelns erfasst: Mittels eines Lebewesens wird der modifizierte Kopf zu
einem tönenden, weissagendem Haupt (4, 81), welches einem Orakel und Erlöser
gleich erscheint. Darin präfiguriert die summende Fliege im leeren Puppenkopf
den Zustand von Vrenchens Vater, den Sali durch den bereits erwähnten Steinwurf
auslösen wird (4, 118). Die zweite Belebung antizipiert also, wie in der ersten
Belebung, die weitere Handlung der Erzählung und richtet den Blick auf den
zukünftigen geistigen Zustand Martis.
„Aber jeder Prophet erweckt Schrecken und Undank; das wenige Leben in dem dürftig geformten Bilde erregte die menschliche Grausamkeit in den Kindern“ (4, 81). Gewalt erzeugt wiederum Gewalt, eine Krise des Opferkultes wird in den Kindern manifest, der Gewalttätige sieht sich als Opfernder und muss sein Werk vollenden (vgl. Girard 2012, 84; Latour 2015, 62f.). So wie die Gewalt der Bauern erst mit ihrer vollständigen gegenseitigen Vernichtung an ein Ende gelangen kann, müssen auch Vrenchen und Sali die Belebung der Puppe wieder rückgängig machen. Die Puppe war Zauberfrau, tönendes Orakel und Prophet, vor allem aber lebendiges Bild, wie es der Erzähler beschreibt. Die durch den performativen Umgang evozierte Aura des Lebendigen, die der summende und auf dem Stein thronende Kopf ausstrahlt, macht diesen zu einem Katalysator von Wahrnehmung und Empfindung. Aber die andächtige Betrachtung des Puppenkopfs weckt zugleich kindliche Grausamkeit (Hillard 2009, 366). Die Konsequenz ist das Ritual des Orakels durch das Ritual der Bestattung abzulösen:
So machten sie ein Grab und legten den Kopf, ohne die gefangene Fliege um ihre Meinung zu befragen, hinein und errichteten über dem Grabe ein ansehnliches Denkmal von Feldsteinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes Stück von der unheimlichen Stätte (4, 81).
Die Kinder begraben die Puppe in einem Erdloch und errichten darüber ein
Denkmal aus Steinen, eine Praxis räumlicher Trennungsriten. Das Begräbnis
selbst stellt wiederum einen Übergangsritus dar. Durch die Bestattung endet die
Biografie der Puppe und sie erweist sich hier im Feld als Ort der Erinnerung, als
Mnemotop (Honold 2004, 478).
Nach wie vor stimuliert die Wirkmacht des begrabenen Puppenkopfes Denken und Handeln der Kinder, sie empfinden Grauen, was zu einem Entfernen aus der
Kinder dem Ritualraum des verwilderten Ackers und somit zur Aufhebung des
spacings führt. Von nun an beginnt der Untergang der beiden Familien.
Der im empirisch durchgeführten Ritual evozierten diesseitigen oder transzendenten
Bestätigung entspricht in erzählten Ritualhandlungen eine narrative, den
Fortgang von Handlung und handelnden Subjekten determinierende und antizipierende
Verweisstruktur. Und hier zeigt sich, dass sich erzähltes Ritualhandeln
als Kippfigur empirischer Rituale erweisen kann. Im Gegensatz zum eigentlichen
Zweck von Ritualen als Kanalisierung individueller oder kollektiver Emotionen
und der Vermeidung von Verhaltensunsicherheiten und Konflikten evoziert
rituelles Handeln bei Keller das exakte Gegenteil.
Wie Burkhardt Dücker ausführt, ermöglicht die Durchführung eines Rituals eine
finale, selbstreferentielle Beziehung, die eine bestimmte Wirkung hervorruft
(Dücker 2007, 62). Diese symbolische Transferleistung spiegelt sich in Romeo
und Julia auf dem Dorfe vor allem in zwei Ereignissen, im Steinwurf Salis
sowie der Unterbringung Martis im Irrenhaus. Darin fungiert das Puppenspiel als
symbolische Vorwegnahme des Verfalls der Familie oder – wie Hillard betont
– als Evokation mythischer Kräfte, die die anstehende Gewalt zwischen den
Familien heraufbeschwört (Hillard 2009, 365).
Das Ding Puppe ist nicht nur Spielzeug und Übergangsobjekt, es ist Ritualobjekt
und erhält in dieser Rolle gleichsam eine epistemische agency (vgl. Krüger,
Nijhawan u. Stavrianopoulou 2005; Sax 2013). Wie die Subjekte der Erzählung, so
gehört auch die Puppe verschiedenen sozialen Kategorien oder sogar Identitäten
an, die der Erzähler durch alternierende Beschreibungen erfasst: Von der dinglichen
Grundkategorie Puppe ausgehend werden ihr biografische Facetten als Fräulein,
Zauberfrau, Spielzeug, Marterleib, Leichnam, Kopf, Tönender, weissagendes
Haupt, Prophet, dürftig geformtes Bild und Leichnam zugeschrieben. Ritualanalytisch
betrachtet ist nicht nur die transformative agency der Puppe im Sinne
ihrer Wirksamkeit, ihrer efficacy beachtenswert, auch strukturell wird hier die
Geschichte einer Puppe erzählt, die sich als quasi-Subjekt beim Wechsel von einer
sozialen Kategorie zur anderen vom Tage der Geburt bis zum Tode unterschiedlichen
Zeremonien, mithin Übergangsriten zu unterwerfen hat. Die verschiedenen
Konzeptualiserungen reflektieren ihre sozialen Stadien, die qua Ritual markiert werden. Die Puppe nimmt für Vrenchen und Sali immer auch eine andere Identität
an, der sich die Kinder aussetzen und die ihnen die Erfahrung des eigenen Ich im
Spiel ermöglicht (Petzold 1983, 3). Der kindliche Wissensdrang im Zerlegen und
Studieren der Puppe ist dabei ein Movens der Kinder zum ritualisierten Handeln
(Sautermeister 2003, 13). Im Spiel mit der Puppe kulminieren schöpferische wie
destruktive Formen kindlicher Welterfahrung, aber – und hier liegt die besondere
Qualität literarischer Episteme – die Puppe verknüpft und motiviert zugleich die
weitere narrative Disposition der Novelle, und sie versammelt eine hohe Dichte
an Wissensformen zu Bildhandeln und Ritualhandeln. Die agency der Puppe in
Form der vollzogenen Übergangs-, Belebungs- und Opferrituale verwirklicht sich
in der weiteren Erzählung in Prophezeiungen und Vorausdeutungen. Durchweg
steht die Wirkmacht der Puppe im Kontext des unaufhaltsamen Verfalls der beiden
Familien und der zwischen den Subjekten aufkeimenden Gewalt: Bereits die
Schmückung mit einer roten Mohnblume zu Beginn verweist symbolisch auf das
letztlich tragisch verlaufende Wiedersehen der herangewachsenen Kinder auf
dem verwilderten Feld, auf dem sich Vrenchen einen „Kranz von Mohnrosen“ (4,
115) um ihr Haupt legt, bevor diese ihr vom erbosten Vater vom Kopf geschlagen
wird. Die mit einem Steinwurf traktierte Puppe deutet auf Salis Steinwurf gegen
Marti aus Notwehr voraus, die summende Fliege in dem leeren Kopf der Puppe
auf die durch Salis Steinschlag ausgelöste Schwachsinnigkeit desselben; „das wenige
Leben in dem dürftig geformten Bilde“ (4, 81) ist das „leblose Gesicht“ (4,
118) Martis in effigie. Selbst die Eingangssequenz, in der die Puppe sich behaglich
zwischen allerlei Plunder und Essbarem auf dem kleinen Fuhrwerk fahren lässt
(4, 76) nimmt sie nicht nur als Akteur ernst, sondern verweist auf die Fahrt Martis
zur Irrenanstalt in der Hauptstadt, „auf ein mit Ochsen bespanntes Wägelchen
geladen, das ein ärmlicher Bauersmann nach der Stadt führte, um zugleich einen
oder zwei Säcke Kartoffeln zu verkaufen […]“ (4, 121). Schließlich deutet die
Bestattung der Puppe auf dem verwilderten Acker, die das Ende ihres dinglichen
Lebenszyklus markiert, auf die Einweisung von Marti in die Anstalt voraus, die
für Vrenchen einem „lebendigen Begräbnis“ (4, 121) gleichkommt.
Auch die temporale Situierung der Handlung antizipiert den weiteren Verlauf.
Das Puppenspiel findet „an einem sonnigen Septembermorgen“ (4, 74) statt,
hier bestatten die Kinder die Puppe und verlassen den verwilderten Acker. Zum
Ende der Erzählung, als die Kinder endgültig ihren verwahrlosten Elternhäuser
den Rücken kehren, um einen Tag als Paar zu verbringen und diesen durch den gemeinsamen Freitod als „tragisch-heroische[m] Opfertod“ (Honold 2016, 50) zu
beenden, findet auch dies an einem schönen Sonntagmorgen im September
statt (4, 135).
Die sich im Puppenspiel entfaltende agency vollzieht sich antagonistisch zwischen
Vätern und Kindern. Zunächst imitieren Vrenchen und Sali ihre Väter, indem
sie etwas Geformtes und Belebtes verschütten (4, 81), doch wie Gerhard Kaiser
feststellt, wird „im Leben der Väter […] die verdeckte Unordnung aufbrechen
und es zerstören“ (Kaiser 1971, 26). Im Leben der Kinder indes wird ihre gegenseitige
Liebe zur bindenden, gestaltenden Kraft, auch wenn die bedrohte Idylle
sich als Utopie erweist und zerfallen wird. Letztlich kann niemand der Gewalt
entkommen. Ob in der Vernichtung der Puppe, der Schlägerei der Bauern auf
einem schmalen Bachsteg inmitten eines Gewitters, in Salis Steinwurf oder im
gemeinsamen Freitod, alle Akteure, dinglich wie menschlich, sind kollektiv mit
Gewalt und ihrer umfassenden mimetischen Wirkungen verbunden, die sich in
beiden Generationen entfaltet (vgl. Girard 2012, 50 u. 124).
„Das wenige Leben in dem dürftig geformten Bilde“ (4, 81) berührt nicht nur
Fragen zur agency der Puppe, sondern auch zum Bildhandeln. Die Bildlichkeit,
das Handeln und Wahrnehmen von Bildern, ganz gleich ob alttestamentarischer
Teraphim-Figuren, großformatiger Gemälde niederländischer Meister, urbaner
Fotografien per Smartphone, Ikonen, Totems, virtueller Avatare oder Puppen,
berühren die Fundamente jeder Kultur und betreffen eine andere, ganz eigene
Art des Denkens und Wahrnehmens, wie dies Gottfried Boehm zum iconic turn
formuliert hat (Boehm 2007, 27). Bildobjekte können eine phantastisch anmutende
Eigendynamik haben und darin einen auratisch-sakralen Charakter annehmen.
Vrenchens Puppe bedient genau diese Facette menschlichen Bildhandelns,
die in der erzählenden Literatur des poetischen Realismus bislang weitgehend
unbeachtet geblieben ist, auch wenn deutlich geworden sein sollte, dass die Puppe
im Zentrum der narrativen Organisation aller sukzessorischen Handlungselemente
steht, was Honold als entscheidendes Kriterium des poetischen Realismus
reklamiert (Honold 2004, 462).
Vergleichbare agentielle wie narrative Konstellationen von handelnden Menschen
und handelnden Bildern lassen sich auch in anderen literarischen Epochen vor
und nach der Aufklärung ausmachen; besonders deutlich findet dingliches Bildhandeln einen Niederschlag in der Literatur um 1800. In den Herzensergießungen
eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) von Wilhelm Heinrich
Wackenroder und Ludwig Tieck lässt sich über das Postulat einer innovativen
kunsttheoretischen Ästhetik hinaus die Verhandlung eines sinnlichen, enthusiastischen
Umgangs mit Kunst aufzeigen, der Bilder zu beseelen und ihnen den
Rang von lebendigen Entitäten zuzuweisen vermag. In dem mit „Zwei Gemäldebeschreibungen“
überschriebenen Abschnitt etwa treten die gemalten Figuren
in Form einer poetischen Bildbeschreibung gleichsam aus dem Bild heraus
und beginnen zu reden, um ihre eigene Darstellung, Geschichte, Empfindung,
Erwartung im Bild zu erzählen (Wackenroder 1991, 82-85). Das Bild spricht, es
handelt. In Ludwig Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) wird die
Wirkkraft der Bilder evident, die das Handeln und Empfinden des Menschen zu
steuern vermögen, wenn Sternbald ausführt, dass ein gut gemaltes Christusbild
den Betrachter zu Andacht und Ehrfurcht zwingt – oder wenn Bilder gar als
Gegenüber einen Dialog mit dem Betrachter beginnen:
Die Sphinxe [sic!] sehen unsereins mit gar wunderlichen Augen an, sie stehn aus dem fernen Altertum gleichsam spöttisch da und fragen: »Wo bist du her? was willst du hier?« Ich habe in ihrer Gegenwart meiner Tollkühnheit mich mehr geschämt, als wenn vernünftige Leute mich tadelten (Tieck 1977, 923).
In Heinrich von Kleists Erzählung Der Findling (1811) beobachtet der Adoptivsohn
Nicolo durch das Schlüsselloch die Frau des Hauses Elvire und glaubt, sie in einem
erotischen Verhältnis zu erwischen, doch es zeigt sich, dass sie vor einem Bild
gekniet hatte. Nicolo bricht in das Gemach ein und findet statt eines Liebhabers
nur das Bildnis eines Mannes, mit dem Elvire einst in inniger Verbindung gestanden
zu haben schien „und eine Menge Gedanken fuhren ihm, den großen Augen des
Bildes, das ihn starr ansah, gegenüber, durch die Brust“ (Kleist 2010, 212). Das
Bild wirkt auf Elvire wie auf Nicolo magisch und beginnt intersubjektive Verbindungen
zu steuern. Mehr noch, das Bild starrt Nicolo an, es verwirrt ihn, es ist
mehr als ein Memorialobjekt; das Bild hat die Macht des Blickes und beeinflusst
den Betrachter in doppelter Weise. Ob Gemälde, Sphingen, Porträts oder Puppen,
in allen Texten sind es Bilder, die handeln.
Nach dem Bildwissenschaftler und -theoretiker William J.T. Mitchell, dem
Begründer des pictorial turn, ahmen bildliche Artefakte, ob materialisiert oder
imaginiert, das Leben nicht nur nach, sondern entfalten eine Art Eigenleben (Mitchell 2008a, 22; Mitchell 2008b, 292). Demnach treten Dinge wie Puppen
Menschen jeweils dort als Entitäten entgegen, wo sie räumlich verortbar werden
(Mitchell 2008a, 66). Gemälde, Fotografien, Puppen oder Zinnsoldaten sind nach
Mitchell Entitäten, Quasi-Akteure, Subalterne, Pseudopersonen, deren Körper
mit dem Stigma der Differenz gezeichnet sind und die im sozialen Umfeld menschlicher
Visualität, in ihrer somatischen und sensorischen Beziehung von und zu
Subjekten als Vermittler oder Sündenböcke, als Stimulus von Wahrnehmen,
Handeln, Empfinden dienen (ebd., 11 u. 66). Und hier bezieht sich Mitchell nicht
auf magische Bildpraktiken vor-aufklärerischer Gesellschaften, sondern auf die
Moderne und unsere unmittelbare Gegenwart; heute und in Zukunft sind Bilder
nicht bloß rational sondern ambigue, mitunter gar magisch beladen (Mitchell
2008a, 49-50; Mitchell 2008b, 348). Es hängt vom Betrachter ab, der den Bildern
einen solchen Status erst zuschreibt und sie als etwas quasi- Lebendiges behandelt:
Bilder – folgt man der konstitutiven Fiktion von Bildern als belebten Wesen –
wurden und werden von den Menschen anthropomorphisiert, wie echte Lebewesen
behandelt und können demnach einen eigenen Willen besitzen. Bilder sind
demnach handlungsfähig und handlungsbedürftig, sie erhalten mitunter ein
soziales Leben, eine eigene Biografie. Mitchell bezeichnet diese Ambivalenz
Bildobjekten gegenüber als doppeltes Bewusstsein, das das Verhalten streng
gläubiger Menschen gegenüber ihren religiösen Ikonen und den Reflexionen
der Theologen darüber ebenso einschließt wie das Verhalten von Kindern und
deren Eltern gegenüber Puppen (Mitchell 2008a, 23f.). Auch der Philosoph und
Medientheoretiker Regis Debray sieht im ambivalenten Umgang mit Bildern
kein Relikt magischer, religiös geprägter Gesellschaften, sondern menschlich
inhärentes Bildhandeln (Debray 2007, 96). Bilder haben symbolische Gewalt
über Raum und Personen, denn sie beeinflussen die emotionale Verfassung sowie
das Verhalten der Menschen, die mit ihnen räumlich vereint sind und mit ihnen
interagieren. Darin folgt Debray Mitchells These des doppelten Bewusstseins.
Verallgemeinert man diese Spur, dann führt sie zurück zu Bruno Latour, für den
Handlung längst kein Humanprivileg mehr ist (Latour 2014, 77). Was Mitchell
und Debray für Bilder beschreiben, bezieht Latour auf alle menschlichen wie
nicht-menschlichen Entitäten: viele Akteure, darunter Menschen, aber auch Dinge,
Konstellationen, Konfigurationen gestalten – Latour folgend – Handlung, denn
wenn wir handeln, sind noch weitere Handlungsträger außer uns präsent; Handeln
ist auch nicht transparent, es steht nicht unter der völligen Kontrolle unseres Bewusstseins, Handeln ist ein Konglomerat einer Vielzahl nur teils bewusster,
stets aber vernetzter Aktanten (ebd., 77). Nach Latour sind es erst die Dinge, die
den Menschen zum Menschen werden lassen (Latour 2001, 326). Latour zufolge
ist die Einsicht zentral, „dass es sehr viel mehr Figuren und Gestalten gibt als
bloß anthropomorphe“ (Latour 2014, 94).
Für die Kinder und ihr Puppenspiel gilt diese Unterscheidung a priori. Das Spielen
mit der Puppe dient der Elaboration ganz eigener Denk- und Handlungsschemata,
was sich teils auch in der Nachahmung eigenen kindlichen Handelns vollzieht
(Fooken 2012, 40). Diese Disposition erkennt Keller und spiegelt sie in literarisches
Wissen und narrative Strukturen. In dem Puppenspiel antizipieren die
Kinder ihre späteren biografischen Verlaufsmuster. Nicht die Erfahrung der Welt
wird auf dem verwilderten Acker in ein Puppenspiel übertragen, sondern das
künftige Scheitern und die (Selbst-)Auslöschung Vrenchens und Salis.
Dieser „moderne Archaismus“ (Belting 2001, 185), der in den Texten Wackenroders,
Tiecks oder Kleists zu beobachten ist, manifestiert sich in ostentativer Weise in
Kellers Novelle und kommt literaturhistorisch somit im poetischen Realismus an.
Auch wenn mit dem Frührealismus der Anspruch einhergeht, Literatur beziehe
sich fortan mimetisch auf empirische Realitäten und eine problematisch werdende
Dingwelt, so bietet Kellers Novelle neben einer realistischen Bedeutungsebene,
die Dinge wiedergibt, wie sie Erzähler und Figuren wahrnehmen, und einer
poetischen Dimension, die zu Vergleichen und Verweisen anregt, schließlich
noch eine ambigue dritte Schicht, die den Ansatz Mitchells und Debrays durchscheinen
lässt: Die Puppe hat als beseeltes Wesen nicht nur in der Welt der Kinder
Präsenz und Wirkmacht, selbst der Erzähler schwankt zwischen belebenden
und objektivierenden Benennungen. Hiermit geht Keller entschieden weiter
als die genannten Texte aus der Zeit um 1800. Dass das poetologische Konzept
des Realismus Konzeptionen transzendentaler, metaphysischer, mythologischer
und deterministischer Weltdeutung verwirft und an deren Stelle Möglichkeiten
rationaler Erkenntnis und selbstverantwortliches Handeln und Aneignen der Welt
setzt, schließt einen Rückgriff auf ambivalentes Bildhandeln nicht aus, sei dies
auch rein assoziativ und symbolisch konnotiert (Aust 2006, 3). Das Puppenspiel
von Vrenchen und Sali zeigt eine weitere Ebene auf, eine ambivalente Perzeption,
einen ambiguen Umgang mit Dingen und obendrein ein ambivalentes Erzählen.
[1] Die Textbelege aus den Werken Gottfried Kellers werden nach folgender Ausgabe zitiert: Keller, Gottfried (2000): Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried-Keller-Ausgabe. Band 4. Die Leute von Seldwyla. Erster Band. Hg. von Peter Villwock/Walter Morgenthaler/Peter Stocker/Thomas Binder. Zürich: Stroemfeld. Im Weiteren werden Zitate aus Romeo und Julia auf dem Dorfe nach Band und Seitenzahl angegeben (4, S.).
[2] Für den wertvollen Hinweis auf die entwicklungspsychologische Dimension der Episode danke ich Insa Fooken herzlich.
[3] Ganz im Gegensatz dazu Pablo Picasso, der einmal über seine Bilder bemerkte, sie entfalteten ihre Wirkung zur Not auch verhüllt und müssten demnach gar nicht erst betrachtet werden (zitiert in Dath 2005, 21).
Idolatrie (übertriebene): Verehrung bildlicher Darstellungen; Götzendienst
Ikonoklasmus: Bildersturm, Bilderzerstörung
in effigie: lat. im Bildnis, als Bildnis, meist rechtsgeschichtlich gebraucht: jemanden bildlich, symbolisch hinrichten
Mnemotop: Erinnerungsort (im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses)
mutiliert: verstümmelt
Palingenese: Seelenwanderung, Wiedergeburt
soteriologisch: auf Erlösungslehre bezogen
Keller, Gottfried (2000). Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried-Keller-Ausgabe. Band 4. Die Leute von Seldwyla. Erster Band. Hg. von Peter Villwock/Walter Morgenthaler/Peter Stocker/Thomas Binder. Zürich: Stroemfeld.
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MA-Studium Klassische Archäologie, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Philosophie und Vorderasiatische Archäologie; Philipps-Universität Marburg, Humboldt-Universität zu Berlin, Freie Universität Berlin; 2008 Promotion FU Berlin; Postdoctoral Fellow; Lehrbeauftragter; Feldforschung; MA-Zweit-Studium „Europäische Moderne: Geschichte und Literatur“; seit 2017 Wiss. Koordinator des Graduiertenkollegs 2190 „Wissens- und Literaturgeschichte Kleiner Formen“, Humboldt-Universität zu Berlin.
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