de:do denkste:<i> puppe</i>
denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.2 Nr.1 (2019) | Rubrik: Fokus


Zwischen Miniatur und Monumentalität: Grundlegendes zur Puppe und ihrer Bedeutung im Spannungsfeld von Material, Statement und Aktion im Werk von Niki de Saint Phalle

Isabelle Schwarz



Focus: puppen als miniaturen – mehr als klein
Focus: dolls/puppets as miniatures – more than small



Abstract:
Die Puppe findet sich im Werk der Künstlerin Niki de Saint Phalle (1930 – 2002) als Objet trouvé bis in die 1980er-Jahre und wird hier erstmals untersucht – auch in Abgrenzung zur bekannten ‚Nana‘-Figur. Anders als in den Großprojekten und den großformatigen Arbeiten, in denen sie zum Teil verarbeitet wurde, wird die Puppe zu einem Diminutiv der Idee von Kindheit und Kind-Sein und zu einem Attribut der kritisch bewerteten Rolle der Frau. Die Puppe ist hier weder ein sich perpetuierendes Bildkürzel noch Teil einer eigenen künstlerischen Bildsprache, sondern erweist sich als ein Werkstoff, der in diesem ganzen Sprachsystem (P. Restany) des Werkes als ein plastisches Addendum fungiert. Zusammen mit anderen Objekten offenbart die auf den Werkflächen arrangierte Puppe eine private ebenso wie politische Lesart im Kontext ihrer Zeit.

Schlagworte: Puppe als künstlerisches Material; Assemblage; Plastik; Frauenbild/Frauenrollen; Oberflächen

Abstract:
Dolls can be found as readymades (Objets trouvé) in the work of Niki de Saint Phalle (1930 – 2002) until the 1980s and are examined here for the first time – also in contrast to the well-known ‘Nanas’. Compared to the large-scale projects and the large-format works into which dolls have been partially integrated, the doll becomes a diminutive of the idea of childhood and being a child as well as an attribute of the critically evaluated role of woman. Here, the doll is neither a perpetuating abbreviated pictorial symbol nor part of a separate artistic pictorial language, but manifests itself as a material that functions within this whole language system (P. Restany) of the work as a sculptural addendum. Together with other objects, the doll arranged on the work surfaces reveals a private as well as a political interpretation in the context of its time.

Keywords: Doll as Artistic Material, Assemblage, Plastic, Female Image / Female Role, Surfaces

Zitationsvorschlag: Schwarz, I. Zwischen Miniatur Und Monumentalität: Grundlegendes Zur Puppe Und Ihrer Bedeutung Im Spannungsfeld Von Material, Statement Und Aktion Im Werk Von Niki De Saint Phalle. de:do 2019, 2, 116-127. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Copyright: Isabelle Schwarz. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Veröffentlicht am: 02.09.2019

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Niki de Saint Phalle – das Werk in seiner Zeit und mit Blick auf die Puppe

Das künstlerische Schaffen der französisch-amerikanischen Künstlerin Niki de Saint Phalle (1930 – 2002) umfasst rund fünf Dekaden und eine Vielfalt an Medien und Ausdrucksformen. 1953 begann sie Collagen und Zeichnungen anzufertigen, in der Folge entstanden in den 1950er-Jahren pastose All-over-Gemälde, schließlich Materialcollagen und bemalte Plastiken. Nach der Trennung von ihrem Ehemann Harry Mathews und zwei gemeinsamen Kindern begann sie 1960 in Paris, zunächst im Kreis der sogenannten Nouveaux Réalistes, ihren Weg als unabhängige Künstlerin zu beschreiten. Als einzige Frau in dieser jungen Künstlergruppe, die zwischen Ende der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre ein Gegenprogramm zur bürgerlichen, von starren Normen geprägten Gesellschaft lieferte und kritisch die politischen Machtverhältnisse ihrer Zeit reflektierte, erregte Niki de Saint Phalle Aufsehen: Die in ihren (Schieß-)Performances zum Ausdruck gebrachte Aggression, die der politischen Weltlage und Lage ihrer beiden Heimatländer einen Spiegel vorhielt (vgl. u. a. Krempel 2001, 19), die bewusst eingesetzten Effekte des öffentlichen Auftritts unter direkter Beteiligung des Publikums und nicht zuletzt das insbesondere für die damalige Bürgerlichkeit verstörend exzentrische Erscheinungsbild der Künstlerin im weißen Schießanzug mit Gewehr waren Teil des künstlerischen Konzepts und machten Furore. Kunst war für sie ebenso wie für ihren Künstlerkreis ein Veränderungsprozess, ein Perspektivwechsel, aber auch eine konkrete Auseinandersetzung mit der Gegenwart: „It was a form of action, a creative, dynamic process that could create and reinforce a new sense of reality. They made use of everything around them […]“ (Tilroe 2011, 43). Niki de Saint Phalle widmete sich auf verschiedenen Ebenen ihres Werkes der Entmystifizierung von Institutionen und der Aufhebung tradierter Rollenmuster und griff die Vormachtstellung von Männern in der Gesellschaft an. Mit dem weiblichen Körper und den von der Gesellschaft an ihn geknüpften Erwartungen setzte sie sich im Rahmen der sogenannten ‚Femme eclatées‘, in Gestalt von Bräuten, (monströsen) Köpfen, (eigenen) Madonnendarstellungen oder als Teil der Gruppe der ‚Altäre‘ (vgl. Schwarz 2015), auseinander. Aus der Zeichnung und einem schöpferischen Umgang mit körperkongruenten Volumina heraus, in einem Prozess der Erkundung verschiedener Materialien und Formen, entstand schließlich die Idee der ‚Nana‘,1 die in einer eigenen Werkgruppe mündete: raumgreifende und grenzüberschreitende Frauengestalten, deren ausbordende Leiber im Vordergrund stehen, die in Farbgebung und dynamischer Körperhaltung Wohlgefühl und Lebensfreude signalisieren und insbesondere in späteren Fassungen frei von einer Notwendigkeit der (Selbst-)Behauptung durch material- oder farbbezogene Neuerfindungen waren. Gegenüber einer Fokussierung auf Details und minutiösen Bearbeitung der Oberflächen, auch unter Verwendung von Puppen, versuchte Niki de Saint Phalle immer wieder Großprojekte im öffentlichen Raum zu initiieren, zu verstehen als ein wesentliches gesellschaftspolitisches Moment ihrer Kunst (vgl. Morineau 2011, 89). Die werkgruppenübergreifenden Themen entwickeln sich in konzeptuellen und formalästhetischen Spannungsfeldern wie Intimität und Öffentlichkeit, Spiel und Regulativ (etwa in den autobiografischen Texten), Minimierung und Ausdehnung, Schrift und Bild. Ausgangspunkte ihrer künstlerischen Arbeit waren stets auch autobiografischer Natur, doch entfalten ihre Themen darüber hinaus eine universelle Aussagekraft und haben bis heute Aktualität. Als grundlegende Bausteine der künstlerischen Arbeit benannte die Künstlerin „[d]as Spielen, das Vergnügen, das Subversive […]“ (De Saint Phalle 2000, 128). Intensiv setzte sie sich mit tradierten, überkommenen Rollenbildern auseinander: „In the 1950s and 1960s, ideas about what was or was not accepted were fairly fixed and, to a certain extent, reflected the claustrophobic small-mindedness and authoritarian hierarchic structure that characterised post-war western society“ (Tilroe 2011, S. 43). Diese gesellschaftlichen Muster vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen aufzubrechen, trat sie ihren Lebensweg an:

Ich betrachtete dieses wunderschöne Wesen, meine Mutter […], als Gefangene einer auferlegten Rolle. Einer Rolle, die traditionell von Generation zu Generation weitergegeben wurde, ohne jemals in Frage gestellt zu werden. Die Rollen der Männer schienen wesentlich mehr Freiheiten zu gewähren, und ICH WAR ENTSCHLOSSEN, DIESE FREIHEIT ZU MEINER EIGENEN ZU MACHEN (De Saint Phalle 1991, 149).

In ihrem intermedialen, grenzüberschreitenden Werk voller Querverbindungen zwischen den Werkgruppen setzte de Saint Phalle mit der Stärke ihrer Verletzlichkeit mutig ihr künstlerisches Anliegen um, aus tabuisierten Themen und deren destruktiver Wirkmacht, ins Öffentliche gewendet, positives Potenzial zu schöpfen.

Fragen zur Puppe

Puppen sind auffällig häufig bis in die 1980er-Jahre im Werk zu finden, vorwiegend in Gestalt von Plastikpüppchen und -puppen, die zum Teil über- und bemalt, mit Gips überzogen, derangiert und eingedrückt, auseinandergenommen und zerschossen sowie aufgeklebt oder angebunden sind (vgl. Parente 2001, 75ff.). Der offensive Einsatz der Puppen nicht nur in ihrem OEuvre verweist auf die Überschwemmung des Marktes mit dem ‚neuen‘ Material Plastik, das auch Einzug in die Spielwaren gehalten hatte, die ihrerseits auf Flohmärkten und Müllhalden landeten und das Aussehen vom Abfall der Gesellschaft veränderten:

Niki de Saint Phalle greift gezielt auf den Figurenmüll zurück, jenen Teil der großen Bildwelten, die im alltäglichen Leben auf die Menschen einstürzen. Ein neues Material kommt in diesen Jahren [die frühen 1960er-Jahre, I.S.] in die Welt – das Plastik, und mit ihm Tausende von Spielzeugen und Figuren, Abbildern und Zerrbildern der Wirklichkeit: Autos und Flugzeuge, Soldaten, Cowboys und Indianer, Familien, Tiere aller Art, fantastische Gestalten, Superman und Superwoman (Krempel 2007, 142f.).

Subsummiert unter Spielzeugen und Figuren, als Abbilder und Zerrbilder der Wirklichkeit lässt sich der Bedeutung der Puppe im Werk der Künstlerin nicht gerecht werden, nicht nur aufgrund ihrer zahlreichen Verwendung, der Art ihrer Bearbeitung und als zentrales Element eines Subtextes in den einzelnen Werkkompositionen, sondern weil die Puppe während der Kindheit einen besonderen Stellenwert einnimmt und anders zu gewichten und bewerten ist als das hier zusammengefasste Spielzeug. Dennoch ist sie aus dem Kontext der insgesamt verwendeten Alltagsobjekte nicht zu lösen und als Teil von diesen mitzudenken. Die starke Bearbeitung charakterisiert die Puppe in erster Linie als materiellen Bestandteil, als Werkstoff. Auf formal-ästhetischer Ebene ist sie als >Objet trouvé,2 das sich als Teil der außerkünstlerischen Realität definiert, der zur künstlerischen Arbeit oder in dieser verarbeitet wird, konzeptuell und materiell eng an das Einzelwerk angeschlossen. Der Materialaspekt kann im Folgenden noch vertieft werden: Befestigt auf Drahtkonstruktionen, eingebunden in Gips und Farbe fügen sich die unbekleideten Puppen mit anderen Objekten und Materialien zu einzelnen Partien und ganzen Werkoberflächen. In Verbindung mit Brüchen und Einschlüssen, Ausbuchtungen und (Material-)Wucherungen, die in der Kleinteiligkeit und Üppigkeit eines Dekors zugleich die Auflösung der Gesamtdarstellung oder Figur zelebrieren, lassen sich die zusammengesetzten, durch Ansammlung scheinbar gewachsenen Oberflächen wie eine Epidermis lesen, auf der gelebtes Leben seine Spuren hinterlassen hat.3 Die Miniaturobjekte und kleinteiligen Spielzeuge sind zu eigenen Lesarten arrangiert und im Hinblick auf ein oberflächenbezogenes Narrativ zu untersuchen. In diesen Miniaturwelten steht die Puppe auf den ersten Blick in einem Kontrast zu den Monumentalplastiken und raumgreifenden Installationen der Künstlerin im öffentlichen Raum.

Die Frage nach einer Eigenständigkeit des Motivs Puppe ist wie folgt zu umreißen: Ein bereits früh angelegtes Repertoire wiederkehrender Motive, darunter Schädel, Drache oder Herz, entwickeln sich in der Bearbeitung ihrer Themen zu Vokabeln einer eigenständigen Bildsprache.4 Als Abbreviaturen persönlicher Bildideen – mundus symbolicus einer künstlerischen und biografischen Welt de Saint Phalles – durchziehen diese Motive alle Werkgruppen. Ihre Bedeutungen unterliegen aufgrund neuer Kontextualisierungen und daraus resultierender formalästhetischer Unterschiede einer Veränderung, sie erhalten im Wechsel sowohl positive als auch negative Vorzeichen. Auf diese Weise verselbständigen sie sich zu autobiografisch fußenden Bildkürzeln für umfassendere Sujets wie Liebe, Tod oder Trauer (vgl. Schwarz 2013; Schwarz 2017). Für die Puppe, die zwar ein wiederkehrendes Motiv darstellt, aber z. B. nicht im grafischen OEuvre verankert ist, stellt sich die Frage, ob sie zu diesem Sprachrepertoire zählt und mit anderen ‚Vokabeln‘ gleichzusetzen ist oder doch eher der Materialebene zugehörig bleibt. Unter der Sammelbezeichnung „Puppenmacher(innen)“ schreibt Insa Fooken von Niki de Saint Phalle als einer Künstlerin, „[…] die mit ihren Nanas das Puppenthema auf ihre ganz eigene Weise aufgriff und variierte“ (Fooken 2012, 57). Die raumgreifenden und in vielerlei Hinsicht grenzüberschreitenden Frauengestalten sind in der Kunstgeschichte bislang nicht als Puppen rezipiert worden, abgesehen von einer Handzeichnung und einer Fotografie von der Großplastik „HON – en catedral“ (1966), die in die Bildersammlung der Ausstellungspublikation „Puppen – Körper – Automaten“ aufgenommen worden ist (vgl. Müller-Timm u. Sykora 1999, 28), sondern in erster Linie innerhalb eines (proto-)feministischen Diskurses. Eine Untersuchung der Puppe im Werk kann zur weiteren Konturierung der Bedeutung der ‚Nana‘ als einer breit rezipierten Kunstfigur beitragen. Erstmals wird im Werklauf der Puppe nachgespürt und anhand beispielhafter Arbeiten untersucht, inwieweit sie als Material fungiert, zur Symbolsprache der Künstlerin beiträgt, indem sie z. B. als eigenes Bildkürzel einem kontinuierlichen Bedeutungswandel unterliegt und in die meisten Werkbereiche übersetzt wird, oder ein werkgruppenübergreifendes Konzept verkörpert.

Abbildung 1 (Tyrannosaurus)

Abbildung 1: Niki de Saint Phalle, Tyrannosaurus Rex / The Monster / Tir Dragon (Study for King Kong), 1963

Die Puppe als Material

Die Oberflächen der seit Ende 1960 bzw. Anfang 1961 in Paris begonnen Schießbilder, der so genannten ,Tirs‘, in denen Niki de Saint Phalle neben anderen Alltagsobjekten auch Püppchen und Puppen verarbeitete, sind als intermediale Schnittstelle zwischen Gemälde und Assemblage beschrieben worden (vgl. Morineau 2011, 87). Tatsächlich verwendete die Künstlerin vorwiegend keine hochwertigen Stoff- oder Keramikpuppen, sondern Puppen aus Kunststoffen (vgl. Wagner 2010, 163ff.). Für diese Werkgruppe sind beispielhaft zwei Motive, Monster und Gebärende, herausgegriffen, für die der Einsatz der Puppe untersucht wird.5 Die Studie „Tyrannosaurus Rex / The Monster / Tir Dragon (Study for King Kong)“ (vgl. Abbildung 1), aus dem Frühjahr 1963 (Museo Reina Sofia, Madrid), zeigt das aufgerichtete, nach rechts gewandte Wesen in schmutzigem Weiß mit halb geöffnetem Maul voller scharfer Zähne – eine in der Tat monströse Erscheinung. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, bildet sich auf seinem Körper ab, dessen Volumen mithilfe größerer und kleinerer Puppen sowie Spielzeugen und Figuren, darunter Plastiktiere wie Spinnen, Echsen und Krokodile, planvoll herausgearbeitet ist. Pistolen, deren Läufe der Bewegung des Monsters vorausweisen und die vermehrt am Schädel auftreten, erscheinen wie kleine Schuppen. Greifarm und Rückenschuppen bestehen aus angehäuften Figürchen. Größere, zum Teil eingedrückte oder verstümmelte Puppen sitzen vor allem am unteren Rücken und an den Hinterläufen, kleinere Babypüppchen sind in die Gipsmasse des Oberschenkelmuskels eingebettet. Trotz der auf ihn abgefeuerten Schüsse ist die Bewegung des Körpers, auf dem sich bereits ein Massaker ereignet hat, noch greifbar. Dieses zum leibhaftigen Monster gewordene Wesen eines vergangenen Zeitalters ist eine Studie für de Saint Phalles Antikriegsbild „King Kong“, das zugleich eine gesellschaftspolitische, feministische Position markiert und das sie 1963 als großformatiges Tafelbild in Los Angeles schuf (heute: Moderna Museet, Stockholm)6.

Abbildung 2 (Birth)

Abbildung 2: Niki de Saint Phalle, Birth (Studie for King Kong), 1963

Objekte der Lebens- und vor allem Kinderwelten symbolisieren in der Umarbeitung auf dem Körper des Tyrannosaurus Rex Tod und Verwesung, ein unmissverständliches Zeichen dieser Auslegung setzt nicht zuletzt ein in der Körpermitte platzierter Totenschädel. Die in die Komposition eingespannten, durch rohe Behandlung versehrten Puppen auf der Körperoberfläche des Monsters wirken wie Trophäen, sie stehen für die Verletzlichkeit und Passivität des Schwächeren. Das Monster hat sie sich geradezu einverleibt, so formen sie, überzogen mit weißer Farbe, dicht an dicht gesetzt, ganze Partien dieser Oberfläche. Auf dem Körper des angreifenden Monsters mögen die Puppen auch für das Leid der Zivilbevölkerung im Kriegsfall stehen, zu der insbesondere Kinder zählen. Zu den Studien aus dem Besitz des Sprengel Museum Hannover für das Werk „King Kong“ zählt auch die Assemblage „Birth (Studie for King Kong)“ von 1963 (vgl. Abbildung 2). Sie zeigt das Relief einer Frau und steht für die dem Privaten zugeneigte Bildseite. Der aus einem Drahtgestell vorgeformte Körper ist von einer Gipsmasse umhüllt, in die zahlreiche Objekte eingelassen sind, darunter kleine Spielzeugpuppen. Der Kopf besteht aus einer Maske mit hohlen Augen, um die herum Haare in verfilzten Wülsten drapiert sind. Zwischen ihren Beinen kommt das Neugeborene hervor, repräsentiert durch eine Puppe:

Adding layers to the ambiguity of the Accouchements, their (un)dressing by manufactured objects renders them also palimpsests of man-made, man serving constructs. […] these suffering mothers demonstrate the phallic babies that replace their sex with their right, rather than left hand […] (Minioudaki 2014, 166).

Die Puppe besitzt im Gegensatz zur Frauenfigur, der die Anstrengungen und Schmerzen der Geburt wie eine dreidimensionale Tätowierung auf den Leib geschrieben sind, eine glatte Oberfläche, die gleichmäßig von weißem Gips überzogen ist. Ein ganzes Leben bildet sich auf dem Körper der Gebärenden ab, in dessen Erzählung die Puppe als ein der Kindheit nahes Objekt auch stellvertretend für das Kind selbst steht. In dieser Funktion, als Anker in die Kindheit, weist die Puppe zugleich in die Zukunft: „Die Puppe als Attribut definiert die Rolle des heranwachsenden Mädchens, ist Begleiterin eines Lernprozesses, der auf das Ausfüllen der zukünftigen sozialen Rolle der Mutter zielt.“ (Müller 1999, 58). Allerdings wird diese Rolle in der Konstellation der Dinge immer wieder in Frage gestellt: Direkt über der das Neugeborene darstellenden Puppe, mitten auf dem Leib der Mutter, sitzt unheilvoll eine Spinne auf einer Figur. Ein weiteres Püppchen findet sich im Arm der Frau, ebenfalls in unmittelbarer Nähe einer Spinne. Am Rand des Beinstumpfes ruht ein Plastikkrokodil an der Schulter eines steifen Püppchens und verheißt seinerseits Gefahr. Kleine Soldatenfiguren scheinen sich einen Kampf um den Schamhügel zu liefern, um den herum sie drapiert sind. Es ist geradezu die Umkehrung der Verhältnisse zwischen titelgebender Figur und formgebendem Figurenmaterial, wie sie in der Drachenfigur dargestellt sind. Niki de Saint Phalle hat hier eine Maria als Gebärende geschaffen:

Despite their [hier wird v. a. Bezug auf die Werkgruppe der ‚Accouchements‘, der Gebärenden (1963-64) genommen; I.S.] accumulation, however, many categories of objects stand out, affectively and metaphorically defining the subjugating burdens of these maternal bodies, such as plastic animals and soldiers, along with baby dolls, which violate them or reinforce them as metaphors of untamed nature in its stereotypic association with the feminine (Minioudaki 2014, 166).

Die Mutterschaft schildert Niki de Saint Phalle als einen ambivalenten Zustand, ganz entgegen überlieferten Mariendarstellungen, in denen es um Aspekte u. a. des Nährens und der Fürsorge geht. Nicht das Kind steht hier im Zentrum, sondern die Frau und Mutter, deren Schmerzen bei der Geburt und deren festgeschriebene zukünftige Rolle sich ohne Tabuisierung wiederspiegeln. Puppen, wie sie sich anhand der vorbereitenden Studien – als Miniaturen einer Idee und ihrer Umsetzung – darstellen, sind in der dramatischen Bilderzählung des Werkes „King Kong“ wesentliches Material, das die Zwischenstände und Spannungsverhältnisse in verschiedenen Lebensphasen und -situationen vermittelt. Geburt und Tod, der Aufbau einer Familie, Mutterschaft und Partnerschaft auf der einen und die politische Krise, Krieg und Zerstörung auf der anderen Seite: all diese Erfahrungen und gesellschaftlichen Institutionen werden hier dekonstruiert, und diese Dekonstruktion wird anhand des Materials – vor allem der Puppe – bildhaft nachvollziehbar.7 Dabei ist der Puppe nach Rainer Maria Rilke eine „Unschärfe“ zueigen, die aus den Widersprüchen ihrer Handhabung und Betrachtung, ihrer Objekthaftigkeit und Kontextualisierung erwächst (vgl. Fooken 2012, 63). Die Puppe steht hier als miniaturisiertes, menschenähnliches Wesen für das Kind bzw. den Menschen generell, in ihrer Eigenschaft als Spielzeug für die Kindheit sowie für das Unvermögen, selbstbestimmt handeln zu können. Sie ist darüber hinaus formbares Material für den Ausdruck starker politischer, gesellschaftskritischer, aber auch persönlicher Statements.

Abbildung 3 (La mariée à cheval)

Abbildung 3: Niki de Saint Phalle, La mariée à cheval, 1963-1997

Von der Steißlage zur Kopfgeburt: Setzungen der Puppe auf dem Körper

Insbesondere die Assemblagen der Werkgruppe der ‚Bräute‘ aus der sogenannten ‚Weißen Periode‘ um 1963/64 sind partiell mit üppigem Objektdekor – auch Puppen – ausgestattet. Die Frauenfiguren formte die Künstlerin wiederum aus Drahtgeflecht und Gips, besetzte sie mit Stoffen und kleinen Plastikobjekten aus Hausrat und Spielwaren und bemalte sie gemäß ihrer Rolle als Braut mit weißer Farbe. Die zwischen 1963 und 1997 entstandene Installation „La mariée à cheval“ (vgl. Abbildung 3) zeigt die lebensgroße Figur einer Braut ganz in Weiß im Damensitz auf einer Pferdeplastik, die vollflächig mit bunten Objekten besetzt ist. Sie beschreiben eine Plastiklandschaft vor allem in jenen Partien, die sich durch floralen Dekor auszeichnen und in denen Mini- aturfiguren aufrechtstehend angebracht sind. Nicht nur ein Totenschädel, Soldatenfigürchen und auseinandergenommene Gliederpuppen konnotieren diese Landschaft insgesamt negativ, allein das billige Material trägt dazu bei, den ersten Eindruck von (Material-)Üppigkeit und (Farb-)Reichtum zu revidieren, Ross und Reiterin werden in der näheren Betrachtung von der Realität der Dinge eingeholt (vgl. Hulten 1992, 15). Materialität und Farbigkeit von Braut und Pferd stehen im Übrigen in Kontrast zueinander, auch hier wird die Dissonanz des Bildes erfahrbar. Das Pferd steht mit allen Hufen auf dem Boden, die Braut hält die Zügel nicht in der Hand, ihre Füße sind leicht gegeneinander verdreht, die Oberflächen sind im Material der Zeit erstarrt: In dieser Darstellung beweist die Frauenfigur ihre Handlungsunfähigkeit, sie wird – mit Blick auf die Plastikobjekte – getragen vom handelsüblichen Alltagskitsch und dem zugehörigen Lebensentwurf, wie die Künstlerin selbst erläuterte:

Marriage is the death of the individual, it’s the death of love. […] What’s more, those brides represent something that surpasses them. The bride is in a kind of disguise. […] I believe they’re archetypes. […] It seems to me that when you ask me the question about marriage, what’s evident is a total lack of individuality due to male incompetence at assuming real responsibilities (De Saint Phalle 1965, 89).

Abbildung 4 (Bride)

Abbildung 4: Niki de Saint Phalle, Bride, von 1965-1992

In „La mariée à cheval“ wird die Vorstellung von einer Braut, die sich voller Vorfreude in den Stand der Ehe und einen neuen Lebensabschnitt begibt, konterkariert. Die Puppe als ein wesentlicher Bestandteil des Dekors mag für das stehen, was die Braut zurücklässt – ihre Kindheit und Jugend. Es mag aber auch sein, dass sich hier zeigt, welche geradezu schwer lastenden Erwartungen und Aufgaben die Gesellschaft an ihre Rolle in den 1960er-Jahren knüpfte, eine dem Mann nachgeordnete Stellung, die Gebundenheit an das Haus, die Haushaltsführung und die Erziehung der Kinder. Eine Ansammlung weiß übermalter Püppchen sitzt auf der Brust über dem Herzen und in der Armbeuge einer aufrecht, aber mit geneigtem Haupt dastehenden Braut in der gleichnamigen Installation „Bride“ (1963-92) (vgl. Abbildung 4). Ihre Haltung scheint der Bürde geschuldet sein, diese Rollensymbole in ihren Armen tragen und zusammenhalten zu müssen. Kleid und Schleier lasten auf dem Körper und erinnern an ein Trauergewand. Auf dem Arm arrangiert sind zugleich Symbole der Bedrohung, ein Düsenjäger, ein spinnenähnliches Insekt und eine Spielzeugpistole, die ihre eigene genderspezifische Konnotation haben und damit den Puppen entgegenstehen: „Mummified in bridal white, The Brides (1963-65) appear as emaciated specters staged in narrative configurations […]. Anonymous or with evocative names, they desparately clasp their bouquets, while their chest is eaten by babies and toy insignia of male power“ (Minioudaki 2014, 166). Die Mutterschaft, repräsentiert in den Puppen, ist hier zum festen Repertoire und Bestandteil des Brautschmucks geworden und steht damit nicht mehr zur Disposition. In der Werkgruppe der ‚Bräute‘ setzte die Künstlerin ihre Auseinandersetzung mit den Rollen der Frau in der Gesellschaft und dem auf dem Individuum lastenden Druck, diesen äußeren Vorstellungen gerecht werden zu müssen, fort und arbeitete an der Auflösung dieser Muster, nicht zuletzt vor einem persönlichen Hintergrund (vgl. de Saint Phalle 2006; vgl. auch für die künstlerische Arbeit und Entwicklung dieser Phase Tilroe 2011, 44). Im Zuge der vorwiegend experimentellen Arbeit in Soisy-sur-École nach Ende der Schießperformances entstand das Werk „La tête aux roues or Birth of Pallas Athene“ von 1964 (vgl. Abbildung 5), ein großformatiger Kopf, gefertigt aus Stoff, Wolle und diversen Objekten auf Drahtgeflecht.8 Während Puppen wie Geschwüre oder Narben ins offene Gewebe der Gesichtsfläche eingelassen sind, unter der Unterlippe und an einem der Nasenflügel, inszeniert Niki de Saint Phalle eine Kopfgeburt: Bereits im Titel wird die Aufmerksamkeit auf die Puppe gelenkt, die so am Scheitelpunkt des Kopfes montiert ist, dass es den Anschein hat, als würde sie wie bei einem Geburtsvorgang aus diesem hervorgeht. Die griechische Göttin Athena, die hier ins Bild gesetzt ist, Tochter des Zeus, entstieg dem Mythos nach mutterlos dem Kopf des Göttervaters, so „[…] verkörpert sie den Typus der männergleichen, mit physischer Kraft und geistiger Energie begabten kämpferischen Jungfrau […]. Darauf weist das Appellativ Παλλάς […], womit für die Griechen das dem Jüngling (πάλλαξ) adäquate, starke und edle junge Mädchen bezeichnet war […]“ (Fauth 1979b, Athena, 681). Die Göttin wird in scheinbar unüberbrückbarem Kontrast zu den ihr zugeordneten Stärken von einer Puppe repräsentiert. Die bereits erwähnten, viel kleineren Puppen im großformatigen Kopf sind demgegenüber identitätsloses Material. Als Athena wird die Puppe nun zu einer wortwörtlich neugeborenen Idee, die noch wachsen, ausformuliert werden und an (eigener) Gestalt gewinnen muss. Die Verhältnisse im Werk verlagern ihr Gefälle, die Zersetzung des Kopfes, wie sie die verwendeten Materialien Wolle und Stoff suggerieren, verweist auf die Entstehung von etwas Neuem (vgl. u. a. Parente 2001, 77). Verena Kuni spricht kritisch von „[m]ädchenhaften Ver-Puppungen des Weiblichen“ (Kuni 1999, 194) im Zusammenhang mit den im Surrealismus als Ausdruck des Schöpfertums des Künstlers häufig eingesetzten Schaufensterpuppen. Auch in de Saint Phalles Werk könnte man angesichts der Darstellung und des Bedeutungswandels des Materials Puppe von einer Verpuppung sprechen: Die Puppe leiht der intellektuellen Kopfgeburt hier noch ihren Körper. In der Stärke Athenas, die in dem Werk „Birth of Pallas Athene“ beschworen wird, deutet sich bereits Niki de Saint Phalles „Nana Power“ an: ein an die körperbetonten Nanas gekoppeltes proto-feministisches Konzept von weiblicher Selbstbestimmung und Stärke mit der Vision von einer besseren Welt durch das Matriarchat.9 Das großformatige Werk „Autel des femmes“ von 1964 (vgl. Abbildung 6) aus der Werkgruppe der ‚Altäre‘ führt alte und neue Themen zusammen, um sie in der Zusammenschau kritisch zu befragen: Auf drei Tafeln wird eine neue Interpretation der bekannten, die drei Lebensalter repräsentierenden Frauengestalten gezeigt, die Jungfrau/Braut, die Verführerin/Gebärende sowie die Reife/Weisheit. Ausgeführt als Reliefs sind sie auf der rechten und zentralen Tafel platziert, gegenüber dem Kopf eines Monsters auf der linksseitigen Tafel: Die weißhaarige Braut hat ein Gesicht, das aus Schnüren zusammengelegt ist, Augen und Mund sind ausgehöhlt. Ein Schleier hängt schwer um ihre Schultern, ihr Leib ist in loser Herzform geöffnet und erinnert an Anatomiepuppen oder anatomische Modelle des 18. und 19. Jahrhunderts, sie offenbart das Unbefleckte Herz Mariä, ein Zeichen für Marias Reinheit und Sitz von Erinnerungen.10 Die Braut wird bei Niki de Saint Phalle mit ihren unter dem Herzen um einen Blumenstrauß geschlossen Händen und ihrem zur Maske erstarrten Gesicht geradezu zu ihrem eigenen Hausschrein. Die Rothaarige mit erhobenen Armen im Dreiviertelakt, geschminkt und von Puppen und Spielzeugfiguren besetzt, scheint aus den Wurzeln eines Baumes hervorgegangen zu sein. Die kleinere Figur einer gesichtslosen Dunkelhaarigen ist über der Gruppe angebracht. In ihren Oberschenkel sind vier Masken eingearbeitet, in der Leibesmitte sitzt ein Totenschädel und ihre Hand weist auf die Vagina. Im Spannungsfeld dieser Frauenfiguren findet sich eine vierte, kleinere Figur, die nicht weiter definiert ist. Im Kontext alchemistischer Theorien ließe sie sich als ein Homunkulus deuten, aber auch als Jesuskind, folgt man einer christlichen Ikonografie. Zweifellos steht die Figur aufgrund ihrer (kleinen) Körpergröße und inmitten der Frauen für eine frühe Entwicklungsstufe. Sie ist aber auch das Gegenbild zur Kindesfigur, die in Fußlage von der Rothaarigen ‚geboren‘ wird und die in Abhängigkeit von ihrer Mutter steht: einer Gliederpuppe. Der Altar der Frauen zeigt auf dramatische Weise, wie die verschiedenen Rollen der Frau von der Künstlerin extrahiert und in Gestalt des Monsters angegriffen werden: „Ich fing an, nach meiner Identität als Frau zu suchen und die verschiedenen Rollen zu wiederholen, die ich gespielt habe – die wir Frauen spielen“ (De Saint Phalle 1980, 21). Die Konstellation der Figuren steht für ein machtvolles Bündnis, zu dem sich das Dreier- bzw. Vierergestirn – verschiedene Seiten einer Identität – zusammengeschlossen hat. In deren Zentrum verweist die kleine Figur, in deren Körperform sich die ‚Nana‘ andeutet, auf eine Neuformation und in die Zukunft (vgl. Krempel 2007, 143f.).

Abbildung 5 (La tête aux roues or Birth of
Pallas Athene)

Abbildung 5: Niki de Saint Phalle, La tête aux roues or Birth of Pallas Athene, 1964

Das Triptychon „Astarte’s Wake“ (vgl. Abbildung 7) von 1965 steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Werk „Autel des femmes“. Die Konstellation der vier Frauenfiguren ist an das frühere Werk angelehnt, Puppen und weitere Objekte sind ebenfalls verarbeitet, allerdings bedecken sie wie ein Gewand ausschließlich den Torso der zentralen Gestalt. Sie repräsentiert Astarte oder „Ba’alat“, Herrin „[…] eines sakralen Bezirks oder einer kultischen Funktionssphäre […]“, die auch in Verbindung mit Fruchtbarkeit steht (Fauth 1979, Baal, 791).

Ein Monster wie in „Autel des femmes“ gibt es hier nicht, die vier Frauen nehmen den gesamten Bildraum der drei Tafeln ein: Auf der linken Seite, hervorgegangen aus den Wurzeln eines Baumes, findet sich die auffällig in Rosa und Pink gehaltene Figur einer gesichtslosen Frau mit ausladenden Extremitäten und geöffneten Schenkeln.

Abbildung 6 (Autel des Femmes)

Abbildung 6: Niki de Saint Phalle, Autel des Femmes, 1964

Die schmale Figur der Braut in blass-buntem Flickenkleid ist von ihrer Bedeutungsgröße her zurückgekommen. Ihr Herz ist nicht mehr offengelegt, die Oberfläche der Brust ist geschlossen. In dem verschleierten Gesicht und ihrer geduckten Haltung deuten sich der Verlust von Bedeutung einmal mehr an. Eine weitere Figur nutzt diese Schwäche offenbar aus, um über sie hinaus ins Leben zu wachsen: Umwickelt mit Gaze ist die gesichtslose Frau wie zum Sprung über den Bildrand bereit. In ihrer unbehandelten Machart, ohne Oberflächentextur oder -bemalung, wirkt die Figur wie ein weiblicher Golem (Morineau 2011, 89), der seine Kraft mit der an einen Tanz oder Sprung erinnernden Bewegung unter Beweis stellt. Die schwarzen Hände, aus der einseitig bunte Schnüre sprießen, deuten auf Veränderung und Wachstum hin. In dem Werk „Autel des Femmes“ war diese Figur einem Rohkörper gleich bereits ins Bild gesetzt. Der Monumentalität der Astarte in der Bildmitte steht ihre Oberflächengestaltung gegenüber, die sich im Detail verliert: Es ist ein farbenreiches, aber bei näherer Betrachtung wohlgesetztes Durcheinander. Die Oberfläche huldigt keinen vergangenen Mythen, sondern den ganz konkreten, aktuellen ‚Mythen des Alltags‘ der 1960er-Jahre: Auf einer ersten Ebene sind dies billige Spielzeuge und Kunststoffnippes, auf einer zweiten Ebene ist es das, was das Plastik und die neue Warenwelt formen: Astarte ist umhüllt von Abbildern einer Konsum-, Küchen- und Spielwelt, die ihrerseits von einer übergroßen Spinne mit Totenschädel bewacht werden. Besonders die Partie über ihrem Herzen ist mit der Anhäufung von kleinen Gliederpüppchen bemerkenswert; zusammengehalten wird sie von einer schwarzen Figur mit diabolischen Gesichtszügen. Astarte vereint in dem hier geschilderten Arrangement sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges, es besteht kein Zweifel, dass die Teile sich zu einem Ganzen fügen, dass die verschiedenen Frauenfiguren Teilaspekte einer Daseinsform sind: „On its dark side stood assemblages of witches and whores […]. […] The other face of the myth was captured by representations of brides, women in childbirth and goddesses that vary from Astarte to Venus and their pop incarnation, Marilyn“ (Minioudaki 2014, 166). Insgesamt ist für diese Werkphase konstatiert worden: „Die Frauengestalten werden präsenter und lösen sich als zentrales Bildmotiv aus dem Bildzusammenhang“ (Selter 2016, 51). Die Figur der Frau in allen ihren Facetten, wie Niki de Saint Phalle sie durchspielt und gegen-, aber vielmehr auch miteinander austariert und bearbeitet, vollzieht sich nicht analog zum Einsatz und zur Bedeutung der Puppe, die der Materialebene verhaftet bleibt. Eine andere Figur hat sich aus dem Bildkontext gelöst und strebt Eigenständigkeit an, obwohl es die Puppe ist, die den bildgemäßen Entwicklungssprung beispielhaft wie in „La tête aux roues or Birth of Pallas Athene“ als Sprungbrett vorbereitete. Nach Ende der 1980er-Jahre kommt die Puppe als Material nicht mehr in der Häufigkeit wie in den behandelten Werken bei Niki de Saint Phalle vor.

Abbildung 7 (Astarte’s Wake)

Abbildung 7: Niki de Saint Phalle, Astarte’s Wake, 1965

Resümee

Im Werklauf der Künstlerin bleibt die Puppe reines Material, sie wird von Garn oder Draht gehalten, sie ist Rollenattribut, Dekor und Ballast, sie steht stellvertretend für Kindheit und Kind-Sein sowie Gefühle, die sich an diese Lebensphase knüpfen. Unter der Perspektive einer eigenen Sprache, die sich über die verschiedenen Motive im Werk vermittelt, ließe sich die Puppe auch als Addendum beschreiben, indem sie einen objektgemäßen Zusatz, eine visuelle Ergänzung in den einzelnen Werken darstellt: als Figur verkörpert sie damit etwas Unselbständiges und weist in die Vergangenheit. Die Puppe wird als Objet trouvé von außen ins Werk geholt und erzeugt einen zeithistorischen Grundtenor. In den verschiedenen Werkgruppen der 1980er-Jahre bleibt sie schließlich zurück und spielt danach keine Rolle mehr. Die in ihr verkörperte Passivität und Rückschau, die Unschuld und das Gefühl des Ausgeliefertseins in der Rolle des Kindes und der Mutter überwindet die Künstlerin mit einer Figur, die Körperlichkeit, auch Nacktheit, nach Außen und ins Positive wendet. In der intensiven Auseinandersetzung mit den Rollen der Frau in ihrer Zeit verkörpert die Puppe, immer als Teil eines Werkes, ein wichtiges Bildmoment. Demgegenüber erhält die Figur der ‚Nana‘ einen eigenen Körper, sie repräsentiert ein übergreifendes Konzept und setzt einen Handlungsrahmen.11 Mit dem Frauenbild, das sich in ihnen verwirklicht, überwindet die ‚Nana‘ obsolet gewordene Gegensätze, feiert das Matriarchat und weist als gegenwärtiges feministisches und demokratisches Statement in die Zukunft (vgl. Restany 2001, 167). Die Verwirklichung des ihr zugrundeliegenden Konzepts basiert auf der Bearbeitung persönlicher und gesellschaftlicher Muster und Vorstellungen. Die Puppe unter dem Aspekt einer Miniaturisierung zu betrachten, ist für ein Verständnis von ihrer Bedeutung im Werk wesentlich: So setzte die Künstlerin die Puppe in verschiedenen Größen ein, darunter auch kleinste Püppchen als Details der Werkoberflächen. Als Diminutiv einer Idee von Kindheit und Kind-Sein, aber darüber hinaus auch generell einer frühen Entwicklungsphase, steht die Puppe dem Großformat von Plastik und Installation bei Niki de Saint Phalle entgegen. Hier entspannt sich auch eine Genderfrage, wenn sich ihre Werke gegen die Arbeiten von Künstlern zu behaupten hatten: schwergewichtige und bereits durch ihr ‚Material‘ physische Überlegenheit und (männliche) Stärke repräsentierende Arbeiten. Gerade in der Gegenüberstellung der Größenverhältnisse wird eine zutiefst gesellschaftskritische, wenn nicht politische Haltung sichtbar. Die Puppe ist neben den Spielzeugfiguren innerhalb der Komposition bewusst den zeitgenössischen, tradierten Genderrollen zugeordnet und bildet Gesellschaftsgefüge und Genderrealitäten en miniature auf den Werkoberflächen kritisch nach (vgl. Morineau 2014, 31; Morineau 2011, 89; Krempel 2007, 142). Sie liefert damit einen wesentlichen Beitrag zum Subtext der Werke, der sich im Gefüge der Dinge auf der Werkoberfläche eingeschrieben hat.


[1] Die Werkgruppe der ‚Nanas‘ seit 1965 umfasst menschengroße, großformatige und zum Teil übermenschlich große Frauenfiguren. Auf der konzeptuellen Grundlage vorangegangener Werkgruppen war es schließlich der zeichnerische Vorgang, die Darstellung der schwangeren Freundin Clarice Rivers, aus dem die ‚Nanas‘ hervorgingen. „As such revolutionary signs of both liberated and liberating femininity and radicalized pleasure, Nanas became the perfect vehicles of the joy-giving and democratic transformation of the everyday which underpins Saint Phalle’s outdoor or architectural public sculpture.“ (Minioudaki 2014, 170)

[2] Als ‚vorgefundenes Objekt‘ (frz.) stellt das unter künstlerischer Entscheidung ins Werk genommenen Objekt aus dem Alltag immer auch die Grenze zwischen Kunst und Leben in Frage, dies gilt einmal mehr für die entsprechenden Werke von Niki de Saint Phalle (vgl. grundlegend Kellerer 1968, Kellerer 1982).

[3] Die Idee einer ‚hautlichen‘ Oberfläche wird gestützt durch die Tatsache, dass Niki de Saint Phalle ihre Werke im Rahmen der Werkgruppe der Schießbilder tatsächlich zum ‚Bluten‘ brachte, indem unter den Gipsschichten arrangierte Farbbeutel beim Schießen auf das Bild aufplatzten und sich deren Inhalt – in durchaus kalkulierter Manier – auf der Oberfläche bahnbrach (vgl. u. a. Krempel 2001, 17f.; de Saint Phalle o. J., 161f.).

[4] Insbesondere in den Schießbildern, zu werten als ein hoch destruktives und zugleich kreatives Moment im Werklauf, wird „ein ganzes Sprachsystem“ (Restany 2001, 168) freigelegt.

[5] Sie gestaltete auf verschiedenen Untergründen menschliche und animalische Figuren und Symbole für Institutionen der Gesellschaft; die Objektarrangements machte sie zu Zielen ihrer Schießperformances. Drachen/Monster und Tiere finden sich bereits in frühen Assemblagen der Künstlerin. In den Schießbildern sind sie als negative Macht inszeniert, die Krieg, Gewalt oder Zerstörung verheißt. Zugleich stehen sie in Verbindung zu Kindheit und Kreativität: „Natur, Drachen, Monster und Tiere vermittelten mir die Gefühle, die ich als Kind zu diesen Dingen gehabt hatte. Der Teil in mir, der ein Kind geblieben ist, ist der Künstler in mir“ (De Saint Phalle 2000, Traces, 69).

[6] Mit diesem Werk schloss die Künstlerin die Gruppe der Schießbilder ab. Für eine Abbildung vgl. Moderna Museet Stockholm, Zugriff am 01.12.2018 unter: http://sis.modernamuseet.se/en/view/objects/asitem/search$0040/21/primaryMaker-asc?t:state:flow=3cd96562-c912-4bc9-a23f-b7dcfd280d78

[7] Auch das Material Puppe ist für die Künstlerin mit persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen verknüpft: „Ich bin dazu verurteilt, in meiner Arbeit jede Emotion, jeden Gedanken, jede Erinnerung und jede Erfahrung aufzudecken. […] Zu übertragen in eine andere Form oder Farbe, auf eine andere Oberfläche. Alles wird eingesetzt, große Freuden, Verzweiflungen, Tragödien und Schmerzen. Es ist alles subjektiv. Das ist mein Leben. Es gibt kein Geheimnis, ich habe nichts zu verstecken.“ (Niki de Saint Phalle, zit. nach Parente 2001, 73).

[8] Sie gehört zu einer Gruppe großformatiger Köpfe und Körper, die die Künstlerin mit Wolle und Garn beklebte und umwickelte. Ihre Oberflächen sind an vielen Stellen geöffnet, so dass das Innere zutage tritt und ein Moment der Zersetzung oder Auflösung greifbar wird (vgl. de Saint Phalle 1965, 88).

[9] Es war zugleich der Titel ihrer ersten Ausstellung mit Nanas: „Nana Power is really the only possibility. Communism and capitalism are not that successful. I think it is time for a new matriarchal society. Do you think people would still be starving if women had anything to do with it?“ (De Saint Phalle 1969, 168).

[10] Vgl. Lk 2,51; 2,19. BibleServer. Zugriff am 20.12.2018 unter: https://www.bibleserver.com/text/LUT/Lukas2,51

[11] Besonders eindrücklich in der monumentalen Installation „HON – en katedral“ von 1966 (vgl. u. a. Tilroe 2011, 44, vgl. Krempel 2007, 146).


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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Niki de Saint Phalle, Tyrannosaurus Rex / The Monster / Tir Dragon (Study for King Kong), 1963
Assemblage mit verschiedenen Objekten, Farbe und Gips auf Holz, 198 x 122 x 30 cm
Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía (Dauerleihgabe Collection Fondation Gandur
pour l'Art, Genf, Schweiz, 2017)
Fotoarchiv Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 2: Niki de Saint Phalle, Birth (Studie for King Kong), 1963
Gips, Objekte auf Maschendraht, 197 x 122 x 25 cm
Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle (2000)
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. Donation Niki de Saint
Phalle - Sprengel Museum Hannover. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 3: Niki de Saint Phalle, La mariée à cheval, 1963-1997
Gips, Farbe, Objekte auf Maschendraht, 235 x 300 x 120 cm
Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle (2000)
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. Donation Niki de Saint
Phalle - Sprengel Museum Hannover. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 4: Niki de Saint Phalle, Bride, von 1965-1992
Fundstücke, Spielzeug und Tüll auf Drahtgerüst, 190 x 194 x 75 cm
Niki Charitable Art Foundation
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 5: Niki de Saint Phalle, La tête aux roues or Birth of Pallas Athene, 1964
Verschiedene Objekte und Garn auf Drahtkonstruktion auf Farbe, 103 x 60 x 47 cm
Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle (2000)
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. Donation Niki de Saint
Phalle - Sprengel Museum Hannover. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 6: Niki de Saint Phalle, Autel des Femmes, 1964
Fundstücke, Farbe, Gips, Kaninchendraht, auf Holz, 253 x 310 x 35 cm (dreiteilig)
Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle (2000)
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. Donation Niki de Saint
Phalle - Sprengel Museum Hannover. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Abbildung 7: Niki de Saint Phalle, Astarte’s Wake, 1965
Objekte, Stoff, Farbe auf Holz, 244 x 366 x 40 cm
Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle (2000)
Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
© 2019 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved. Donation Niki de Saint
Phalle - Sprengel Museum Hannover. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019



About the author / Über die Autorin

Isabelle Schwarz

Dr., Studium u. a. der Kunstpädagogik und Erziehungswissenschaften sowie der Geschichte und Romanistik (Magister) an der Universität Bremen und der Universidad de Sevilla. 2006 PhD in Art History an der International University Bremen (heute Jacobs University) mit dem Thema Archive für Künstlerpublikationen der 1960er bis 1980er Jahre (Köln 2008). 2006-08 wiss. Volontariat am Sprengel Museum Hannover, seit 2008 als Kuratorin am Sprengel Museum Hannover tätig. Mitglied des Forschungsverbunds für Künstlerpublikationen. 2012-17 Redakteurin der Monografienreihe Kunst der Gegenwart aus Niedersachsen (Hg. Stiftung Niedersachsen). Zuletzt erschienen: (Hg. gem. mit Annerose Keßler) Objektivität und Imagination. Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, Bielefeld 2018. Publikationsliste abrufbar unter academia.edu

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Isabelle.Schwarz@Hannover-Stadt.de