denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus
Magali Nieradka-Steiner
Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios
Abstract:
Zu ihrem sechsten Geburtstag im April 1939 bekommt Julia die Puppe Emma geschenkt. Sie ist doppelt so alt, als sie diese 1945 auf der Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone wieder verliert. Emma begleitet Julia durch die „unruhige Zeit“ des Zweiten Weltkriegs, die von Bombenangriffen und mehrfachen Ortswechseln geprägt ist. Der Verlust der geliebten Puppe bedeutet gleichzeitig das Ende von Julias Kindheit.
Schlagworte: Puppe; Krieg; Vertreibung; Verlust; Initiation
Abstract:
For her sixth birthday in April 1939 Julia gets a doll called Emma. She is twice as
old when she loses her fleeing the Soviet-occupied zone. During the troubled times
of World War II, including air raids and several relocations, Julia is accompanied
by Emma. The loss of her beloved doll marks the end of Julia’s childhood.
Keywords: doll, war, forced migration, loss, initiation
Zitationsvorschlag: Nieradka-Steiner, M. Ursula Fuchs: Emma Oder Die Unruhige Zeit (1979) – Eine (Puppen-)Liebe in Zeiten Des Krieges. de:do 2018, 1, 32-37. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Copyright: Magali Nieradka-Steiner. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Veröffentlicht am: 17.05.2018
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Emma oder Die unruhige Zeit von Ursula Fuchs ist nicht nur ein Text über Krieg und Flucht, sondern auch über die erste Liebe fast eines jeden Kindes: die zu einem Spielzeug, sei es zu einer Puppe oder zu einem Stofftier. Werden in der Kinder- und Jugendliteratur Krieg, Deportation und Flucht thematisiert, spielt Verlust oft eine große Rolle (vgl. Nieradka-Steiner 2017). Der Verlust der Lieblingspuppe oder des Lieblingsstofftiers macht jungen Lesern den abstrakten Schrecken vor „der unruhigen Zeit“ greif barer. Besonders verstörend wirken auf uns die Bilder von Auschwitz und anderen Vernichtungs-lagern, auf denen ein Kind mit seinem Lieblingsspielzeug zu sehen ist oder Fotos, auf denen die Puppen der in den Gaskammern ermordeten Kinder aufgehäuft sind (vgl. Peiter 2014,232). Das Spielzeug, das dem Kind Halt in schweren Zeiten gibt, überlebt anstelle seines Besitzers (vgl. Fried 1997) oder geht in den Wirren verloren. Zahlreiche Texte, welche von den traumatischen Erlebnissen von Kindern im Krieg und auf der Flucht erzählen, tragen den Namen des Spielzeugs im Titel. Das bekannteste Beispiel ist wohl der autobiographische Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (1971) von Judith Kerr. Die Autorin musste 1933 mit ihren Eltern vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Zurück blieb das titelgebende Stofftier: „Warum hatte sie nur, statt ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wieder gut machen können“ (Kerr 1978, 41).
Claire A. Nivola wiederum erzählt in dem Bilderbuch Elisabeth (1999) vom Schicksal ihrer Mutter Ruth Guggenheim Nivola, die ihre Lieblingspuppe Elisabeth ebenfalls auf der Flucht zurücklassen musste. Es findet sich darin eine emotional berührende Widmung:: „[Meine Mutter] wollte [die Geschichte] für all die Kinder auf der Welt erzählt haben, die zurücklassen mussten, was sie lieben“ (Nivola 1999, S.4). Auch in Emma oder Die unruhige Zeit geht es um eine Lieblingspuppe. In diesem 1979 entstandenen und 1980 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten Buch erzählt Ursula Fuchs die Geschichte der kleinen Julia. Diese wünscht sich zu ihrem sechsten Geburtstag im April 1939 eine Puppe, obwohl man ihr lieber zu „was Vernünftige[m]“ (Fuchs 1986, S.7) rät, da sie schon zu alt für ein solches Spielzeug sei. Trotzdem erfüllt der Vater Julias sehnlichsten Wunsch. „Emma! [...] Ich habe meine Emma gedrückt und gesagt, daß ich sie nie, nie mehr hergebe“ (ebd., 8). Ein knappes halbes Jahr später beginnt der Zweite Weltkrieg. Langsam verändert sich das Leben um Julia herum. In den folgenden sechs Jahren wird Emma Julia durch „die unruhige Zeit“ (ebd., Titel) begleiten und ihr bis in den „Puppentod“ (Fooken/Mikota 2016, 7) hinein treu bleiben.
Die Handlung von Emma oder Die unruhige Zeit beginnt in Münster, in einem gutbürgerlichen Viertel der katholischen Stadt in Westfalen, wo Julia geborgen und wohlbehütet als zweites von drei Kindern in Münster aufwächst. Ihre Eltern haben einen Lebensmittelladen, es gibt ein Kindermädchen und ein Hausmädchen und die Familie besitzt ein Auto. Manchmal fühlt sich Julia ein wenig benachteiligt, weil sie das mittlere Kind ist und somit weder mit ihrer Mutter kuscheln kann, wie dies ihr kleiner Bruder Stefan tut (vgl. Fuchs 1986, S.16), noch die Privilegien ihrer älteren Schwester Renate genießt (vgl. ebd., 47), doch alles in allem hat sie eine glückliche Kindheit. Zunächst gewinnt Julia dem Krieg positive Seiten ab, denn der Probealarm im Luftschutzkeller ist für sie gemütlicher als Schulunterricht (vgl. ebd., 21). Auch die Gruppenstunden beim Jungmädelbund mit Sport, Spiel und Gesang sind interessanter als der Katechis-musunterricht (vgl. ebd., 118). Doch bald lernt Julia, was es heißt, „Opfer“ für den Krieg zu bringen: Zunächst muss ihr Vater seinen Sportwagen, auf den er stolz ist, den Nationalsozialisten überlassen, weil er angeblich an der Front gebraucht wird (vgl. ebd., 23). Später wird die Mutter angehalten, ihren Pelzmantel für die Soldaten in Russland zu spenden, wobei der Vater erbost vermutet, dass sich die Nationalsozialisten nur bereichern wollten (vgl. ebd., S.69). Bei einem Luftan-griff verliert Julia schließlich ihre roten Lederschuhe, die ihr so wichtig sind (vgl. ebd., 75). Die Hausangestellten verlassen nach und nach das Haus (vgl. ebd., 38) und Süßigkeiten werden selbst an Weihnachten weniger:
„Komisch“, habe ich zu Renate gesagt. „Früher waren in der Tüte immer Schokolade und Nougat und Marzipan.“ „Es ist ja auch Krieg. Du weißt doch, daß Schokolade knapp ist“, hat Renate gesagt. „Ja ist denn im Himmel bei den Engelchen auch der Krieg?“ habe ich gefragt. Renate hat mir einen Vogel gezeigt. Ob ich denn immer noch glaube, daß die Tüte vom Nikolaus aus dem Himmel kommt (ebd., 40).
Und plötzlich fallen Bomben auf Münster (vgl. ebd., 50f.). Zwar überlebt die fünf-köpfige Familie, aber es ist der Tag ihrer Trennung und der Beginn der Flucht quer durch Deutschland. Die erste Station ist der kleine Ort Wiedenbrück nahe Gütersloh, wo die Mutter, Stefan und Julia unterkommen. Noch ist die Heimat nicht verloren, zum einen weil das westfälische Wiedenbrück fast noch zum Greifen nahe vom heimischen Münster entfernt ist und zum anderen weil das Vaterhaus noch steht und noch nicht den Bomben zum Opfer gefallen ist. Doch Renate wird ins Internat nach Bayern geschickt, der Vater muss in Münster bleiben (vgl. ebd., 55). Zwar hätte er eingezogen werden sollen (vgl. ebd., 30), aber in Folge eines Unfalls bei einer Wehrübung verkrüppelt ist er wieder entlassen worden (vgl. ebd., 34) – eine Verstümmelung, die ein Glücksfall für ihn und seine Familie ist. Zunächst ist Julia bei sehr warmherzigen und großzügigen Menschen unterge-bracht. Da ist zum Beispiel Frau Schuwecke in Wiedenbrück, die ihr rote Schuhe schenkt, obwohl Julias Mutter dafür keinen Bezugsschein hat (vgl. ebd., 71ff.).
Die zweite Fluchtstation ist das Dorf Littenweiler bei Freiburg im Breisgau. Die Fahrt geht nach Süden, es ist Sommer und so könnte man den dortigen Aufenthalt noch als eine Art Sommerfrische oder Kuraufenthalt verstehen. Tante Jusch, die nicht mit Julia verwandt ist, nimmt bei sich im idyllischen Schwarzwald Kinder aus ausgebombten Städten auf und möchte aus ihr „eine richtige Schwarz-wälderin“ (ebd., 89) machen. Aber Julia, Stefan und ihre Mutter begegnen auch Menschen, die alles andere als begeistert darüber sind, Flüchtlinge bei sich auf-zunehmen. Ihre dritte Station ist schließlich Dingelstädt in Thüringen. Dort sind die Menschen von Anfang an Julia und ihrer Familie feindlich gesinnt. So zeigt die Familie Draier den Zwangseinquartierten deutlich, dass sie sie als Belastung sehen:
Wir sind bei den Draiers einquartiert worden, obwohl sie es nicht gewollt haben. [...] Am [...] Morgen durfte ich die Butter nicht probieren. Die Frau Draier hat sie ihren Kindern dick aufs Brot gestrichen und obendrauf noch dick Wurst getan. Sie hat gesehen, wie Mama uns die Margarine gekratzt hat, aber sie hat getan, als wenn sie es nicht sieht. [...]
[E]inmal am Mittag [...] hat es bei Draiers Thüringer Klöße mit Schweinebraten und Mischobst gegeben. Das ganze Schweizerhaus hat nach Schweinebraten geduftet, als ich von der Schule gekommen bin. Und ich habe mich schon gefreut. Aber bei uns gab’s nur Bratkartoffeln mit Spinat ohne Ei. Wir mußten zugucken, wie der Karl, die Käthe und die Karola ihren Schweinebraten mit Klößen in sich reingestopft haben. [...]
Stefan hat lang auf dem Bett gelegen und geweint, weil er Schweinebraten will. Mama hat geweint [...] und ich glaube, sie hat sich geschämt, daß sie für uns keinen Schweinebraten gehabt hat (ebd., 101f.).
Das Negative des Krieges zeigt sich nicht nur anhand des Hungers. Neben dem Materiellen – 1943 wird auch das Münsteraner Elternhaus durch eine Bombe vollkommen zerstört (vgl. ebd., 122) – sind es zunehmend Menschen, die Julia an den Krieg verliert. Die Näherin Pimpi, die Puppe Emma zu Weihnachten einge-kleidet hat, stirbt bei einem Bombenangriff – ein Opfer der Alliierten (vgl. ebd., 81). Großmutter Ehrenfeld, eine Nachbarin von Tante Jusch, die Julia das große Einmaleins beigebracht und sie so vor den Stockhieben in der Schule bewahrt hat, wird, weil sie Jüdin ist, deportiert – ein Opfer der Nationalsozialisten (vgl. ebd., 93). Emma oder Die unruhige Zeit nennt also historische Tatsachen (Bombardie-rung von Münster, Deportation der badischen Juden, Vorrücken der roten Armee usw.) und zeigt die Topographie einer Vertreibung. Ursula Fuchs zeichnet Julias und Emmas Weg durch Deutschland konkret nach und nennt Orte, die man auf der Landkarte situieren kann. Sie zeigt, wie Stationen der Vertreibung wahrge-nommen werden und auf welche Reaktionsmuster Vertriebene treffen.
Den größten Verlust erlebt Julia schließlich kurz nach dem Ende des Krieges. Zwar wird Dingelstädt von den Amerikanern befreit, aber kurze Zeit später wird Thüringen zur sowjetischen Besatzungszone erklärt (vgl. ebd., 143). Die Mutter entschließt sich, nachts mit Hilfe von Schleppern über die grüne Grenze zu fliehen.Für die mittlerweile Zwölfjährige heißt das, das für sie Wichtigste zurücklassen zu müssen:
„Du kannst die Emma nicht mitnehmen“, da Mama gesagt.
„Ich will sie aber mitnehmen!“
„Die beiden Taschen mit der Wäsche, die du zu tragen hast, sind wichtiger als die Emma“, hat Mama gesagt.„Und außerdem mußt du den Stefan an die Hand nehmen.“ [...]
Ich bin ans Bett, habe die Emma hochgenommen und [trotzdem] mitgenommen. Unter meinen Arm habe ich sie geklemmt.[...]
Mich haben die beiden Taschen verrückt gemacht und der Rucksack auf meinem Rücken, denn der Rucksack und die beiden Taschen waren sehr schwer. Nur meine Emma, die war leicht, puppenleicht!“ (ebd., 147f.).
Julia gehorcht nicht. Puppe Emma begleitet sie gegen den Willen der Mutter auf den Transporter, der sie in die Westzone bringen soll. Doch dieser wird von den Russen entdeckt und beschossen. Der Schlepper lässt darauf hin sämtliche Flüchtlinge mitten im Wald im Stich. Unter anhaltendem Beschuss kriechen die Mutter, Stefan und Julia von Baum zu Baum, bis sie die Gewehre nur noch in der Ferne hören und in Sicherheit sind. Doch Emma geht auf dieser letzten Etappe der Flucht verloren.
Keine andere Epoche werde zwischen 1979 und 1989 in der Kinderliteratur so häufig berücksichtigt wie die des Nationalsozialismus, heißt es im Handbuch Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Ein Grund sei in der Erfahrung der Autorinnen und Autoren zu suchen (vgl. Kirchhoff 1990, 361). Flucht und Vertreibung, häufige Themen der Nachkriegskinderliteratur, würden in den späten siebziger und in den achtziger Jahren allerdings keine Rolle mehr spielen (vgl. ebd., 362). Dies trifft auf Ursula Fuchs nicht zu (vgl. Abbildung 1 und Abbildung 2).
Abbildung 1: Titelbild (1979) Emma oder Die unruhige Zeit. Modautal-Neunkirchen: Verlag Anrich
Die heute in Darmstadt lebende Schriftstellerin wurde 1933 in Münster geboren und verbrachte kriegsbedingt ihre Kindheit in mehreren Orten Deutschlands. In Emma oder Die unruhige Zeit habe sie ihre eigene Kindheitserfahrung berichtet, liest man in der Jurybegründung zum Deutschen Jugendbuchpreis 1980 (vgl. N.N. 1980).
Es ist die titelgebende Puppe Emma, die das Thema Krieg und Flucht in diesem Buch nicht abstrakt erscheinen lassen. „Emma“ lautet das erste Wort des Buches (Fuchs 1986, 7). Der geübte Leser stolpert aber sogleich über die Zeit des einfa-chen, nur aus vier Wörtern bestehenden ersten Satzes: „Emma hat sie geheißen“ (ebd.). Das Perfekt impliziert, dass es Emma nicht mehr gibt. Somit ist der Verlust von Anfang an präsent. DonaldW. Winnicott prägte in den fünfziger Jahren den Begriff des Übergangsobjekts (vgl. Winnicott 1953, 89). Übergangsobjekte könnten Puppen, Schmusetücher, Kuscheltiere oder andere Dinge sein, die in Zeiten mütterlicher Abwesenheit die Bindung zwischen Mutter und Kind aufrechterhalten und dem Kind ein Gefühl der Geborgenheit geben würden. Von diesem getrennt zu werden, kommt, aus der Kinderperspektive heraus, der schlimmsten Katastrophe gleich. Winnicott führte den Begriff des Übergangs-objekts in Bezug auf die Entwicklung des Kleinkindes ein. Insa Fooken und Jana Mikota erläutern aber in ihrer Studie über Leben und Tod in Puppengeschichten, dass Übergangsobjekte lebenslang in Krisen- und Umbruchzeiten für den Menschen wichtig seien (vgl. Fooken u. Mikota 2016, 16). Als sich Julia aufgrund der Evakuierungen allein ohne Eltern und Geschwister bei fremden Leuten befindet, ist es einzig und allein Emma, die ihr zuhören und Trost spenden kann: „Ich habe [...] Heimweh gehabt. Heimweh nach Mama, Papa und Stefan und nach Münster. Am Abend, wenn ich allein in meinem Bett gelegen bin, ist das Heimweh bis an meinen Hals geschlichen. Dann habe ich die Emma naßgeweint und mein Kopf kissen“ (Fuchs 1986, 109).
Julia wird mit ihren Sorgen und Nöten – dazu gehören allgemein auf alle Kinder zutreffende wie die Angst vor dem Alleinsein, vor dem Streit zwischen den Eltern oder die Wut, von den Erwachsenen nicht gefragt zu werden, ebenso wie konkret an Krieg und Vertreibung geknüpfte wie Angst vor Hunger und Kälte – alleingelassen. Nur der Puppe Emma kann sie diese anvertrauen. Sowohl ihre Eltern als auch die anderen Erwachsenen versäumen es, ihr Dinge zu erklären, die sie für selbstverständlich halten. Als der Krieg im September 1939 ausbricht, weiß Julia nicht, was das bedeutet, und niemand hilft ihr dabei, es zu verstehen. Julia tritt in einen Dialog mit Emma und versucht so, der Ambivalenz des Themas auf den Grund zu gehen:
Abbildung 2: Titelbild (1986) Emma oder Die unruhige Zeit. München: dtv
Ich habe mit meiner Emma auf dem Fleckerlteppich gesessen und überlegt, ob der Krieg wohl was Gutes ist, wie der Charly sagt. Oder was Schlechtes, wie die Sophie sagt. Der Charly hat so glücklich ausgesehen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Und die Sophie so traurig, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
Ich habe der Emma ins rechte Ohr geflüstert, daß der Krieg was Gutes sein müsse,sie sollte sich doch nur mal den Charly ansehen. Und ins linke Ohr habe ich der Emma geflüstert, daß der Krieg ganz was Schlimmes sein müsse, sie sollte sich doch mal die Sophie ansehen (ebd., 15).
Aber Emma ist keine belebte Puppe, die Julia, wie im Märchen, Ratschläge geben könnte. Sie kann nicht reagieren und genau daran wird die Härte der Realität deutlich: Zwar sucht Julia nach Halt, aber Emma ist keine Person, sie kann nur als Stellvertreter dienen. Die Erwachsenen setzen Dinge voraus, die noch nicht zum Weltwissen eines Kindes gehören. Um dem abstrakten Begriff eine Form zu geben, personifiziert Julia den Krieg und stellt sich darunter eine Art Ungeheuer vor, das hinter dem Gebüsch lauert (vgl. Fuchs 1986, 19): „Ich habe mich gefürchtet und mich [auf dem Spielplatz] immer wieder umgedreht. Und ich habe gedacht, ob dieser verdammte Krieg vielleicht ein riesengroßer Elefant mit schrecklich großen Füßen ist, mit denen er uns zertrampeln will“ (ebd., 19f.). Auch fallen die Aussagen der Erwachsenen widersprüchlich aus. Julia wagt manchmal nicht, die Eltern darauf hinzuweisen, sieht sie doch, wie sehr auch die Eltern unter den Zeitumständen leiden:
Jetzt dauerten [die Bombenangriffe auf Münster] manchmal einen halben Tag oder eine halbe Nacht und manchmal, wenn gerade ein Angriff zu Ende war, kam schon wieder der nächste Angriff. „Es wird von Tag zu Tag schlimmer mit den Bomben“, hat Mama gesagt. „Und es ist die Hölle!“
Ich habe mal ein Bild von einem Maler gesehen, der die Hölle gemalt hat. Da haben die Menschen brennend in den roten Flammen gelegen und geschrien. Das Bild hat im Museum in Münster gehangen, ich war am Sonntagmorgen mit Mama und Renate im Museum. Mama hat gemerkt, wie ich mich vor dem Bild gegrault habe, da hat sie mich weggezogen und gesagt, daß es überhaupt keine Hölle gibt. – Und jetzt hat sie gesagt, daß es doch die Hölle gibt, nämlich in Münster (ebd., 98).
Julia versteht nicht, wie die Gemälde von Hieronymus Bosch und die Aussagen ihrer Mutter über Münster zusammenhängen könnten. Für das Mädchen sind die Bilder vom Feuersturm auf Münster – zum Glück – unvorstellbar.
Sechs Jahre alt ist Julia, als sie ihre Lieblingspuppe geschenkt bekommt, und doppelt so alt ist sie, als Emma aus ihrem Leben wieder verschwindet. Der Verlust des Spielzeugs, das sie durch „die unruhige Zeit“ begleitet hat, markiert das abrupte Ende ihrer Kindheit. Spielzeugverlust komme oftmals der Beraubung der Kindheit gleich, so Insa Fooken (vgl. Fooken 2012, 54). Julias Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone, als sie zwischen Bäumen hindurchrobbt und links und rechts von ihr Geschosse das Erdreich aufwühlen, gleicht einem archaischen Initiationsritus. Nach Peter Freese gebe es vier Formen der Initiation, welche allesamt Variationen des Vorgangs von Tod und Wiedergeburt seien. Diesen „rites de passage“ sei gemein, dass sie den Protagonisten in eine lebensgefähr-liche Situation stürzen würden, dabei immer verlustreich und schmerzhaft seien (vgl. Freese 1974, 98).
Julias Flucht über die grüne Grenze ist eine Mischung aus „descensus ad inferos“ und „vagina dentata“. Als „descensus ad inferos“ bezeichnet man den Abstieg in die Unterwelt und den siegreichen Wiederaufstieg (vgl. ebd., 139). Julia ist voller Dreck, es ist dunkel, sie hört nur den höllischen Lärm der Gewehrkugeln um sie herum und sie ist am Ende ihrer Kräfte (vgl. Fuchs 1986, 152). Als es wieder hell wird, ist sie im Niemandsland und gerettet (vgl. ebd.). „Vagina dentata“ – auch paradoxer Durchgang oder zahnstarrender Kiefer – nennt man die erfolgreiche Durchquerung einer Felsenfalle oder die Überschreitung einer messerscharfen Brücke (vgl. Freese 1974, 142f.). Julia robbt von einer Tanne zur nächsten, wird da-bei von den Nadeln zerstochen. Bedrohlich wirkt der Wald auf sie und doch muss sie sich in den dunklen Schlund stürzen, um zu versuchen, den Gewehrkugeln zu entgehen (vgl. Fuchs 1986, 151f.). Julia übersteht dieses lebensbedrohliche „Schwellenabenteuer“ (Freese 1974, 145). Als sie im „Niemandsland“ (ebd., 152) angekommen sind, definiert ihre Mutter, was das bedeutet: „,Wem gehört Niemandsland?‘ habe ich Mama gefragt. ,Niemand!‘ hat Mama gesagt. ,Nicht den Russen und nicht den Engländern. Es ist ein kleiner Spalt zwischen den Apfel-stücken‘“ (ebd., 152f.). Zum ersten Mal wird Julia etwas von ihrer Mutter erklärt, sie behandelt sie also wie eine ebenbürtige – erwachsene – Person. Einen Augenblick später merkt Julia, dass sie Emma zwischen den Bäumen vergessen hat: „[Emma] lag bei den Rucksäcken, den Koffern und den Taschen in der russischen Zone. Da habe ich geheult“ (ebd., 153). Julias Kindheit ist unwiederbringlich vorbei und Emma ist als (Puppen-)Pfand zurückgeblieben.
Fried, Erich (1997). Meine Puppe in Auschwitz. In Erich Fried, Erich Fried erzählt (S.94-104). Berlin: Klaus Wagenbach.
Fuchs, Ursula (1979). Emma oder Die unruhige Zeit. Modautal-Neunkirchen: Anrich.
Fuchs, Ursula (1986). Emma oder Die unruhige Zeit (vierte Auflage). München: dtv..
Kerr, Judith (1971). When Hitler Stole Pink Rabbit. London: Puffin Books. / Kerr, Judith (1978). Als Hit-ler das rosa Kaninchen stahl (aus dem Englischen übertragen von Annemarie Böll). Ravensburg: Otto Maier.
Nivola, ClaireA. (1999): Elisabeth. Die wahre Geschichte einer Puppe (ins Deutsche übertragen von Susanne Lin). Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben.
SekundärliteraturFooken, Insa (2012). Heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut (unter Mitarbeit von R. Lohmann). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Fooken, Insa, Mikota, Jana (Hg.) (2016). Literarische Miniaturwelten. Leben und Tod in Puppengeschichten. Siegen: universi.
Freese, Peter (1998). Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman. Tübingen: Stauffenberg 1998.
Kirchhoff, Ursula (1990). Die achtziger Jahre. In Reiner Wild (Hg.), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (S.354-371). Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung.
Nieradka-Steiner, Magali (2017). Oh wie schön ist Panama! Über Fern- und Heimweh und frühe Verlusterfahrungen in der Kinder- und Jugendliteratur. In Irmtraud Hnilica, Malte Kleinwort, Patrick Ramponi (Hg.), Fernweh nach der Romantik. Begriff, Diskurs, Phänomen (S.199-214). Freiburg im Breisgau: Rombach.
N.N. (1980). Jurybegründung zum Deutschen Jugendbuchpreis 1980. Zugriff am 16.08.2017 unter http://www.djlp.jugendliteratur.org/datenbanksuche/kinderbuch-2/artikel-emma_oder_die_unruhige_ze-1718.html
Peiter, AnneD. (2014). Puppen, Alltag, Deporation: Fotos von in Frankreich lebenden jüdischen Kindern aus den 1940er Jahren. In Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S.231-248). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Winnicott, Donald W. (1953). Transitional Objects and Transitional Phenomena: a study of the first not-me possession. The International Journal of Psychoanalysis 34 (1953), S.89-97.
Studium der Germanistik und Romanistik in Heidelberg. 2005-2009 Lektorin des DAAD in Nizza (Frankreich). 2009 Promotion in Heidelberg zu Sanary-sur-Mer als Ort des literarischen Exils. Akademische Mitarbeiterin für Französisch an der Universität Heidelberg und Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Gastdozenturen und Forschungsaufenthalte in Los Angeles (USA), Prag (Tschechien), Shah Alam (Malaysia) und Tomsk (Russland). Autorin von zahlreichen Monographien und Aufsätzen zum Exil, zu deutsch- französischen Themen und zur Kulturgeschichte des Spielzeugs. Habilitation zur Literaturgeschichte der Puppe (in Vorbereitung).
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