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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus


„Im Kleinsten zeigt sich die ganze Welt“.

Verlebendigung von Puppen in Wort und Bild im Werk von Tony Schumacher1

Anna Lehninger



Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance



Abstract:
Puppen treten im Schaffen der deutschen Kinderbuchautorin (und -illustratorin) Tony Schumacher (1848–1931) in Haupt- und Nebenrollen auf. Schumacher war eine im 19. Jahrhundert äußerst populäre Schriftstellerin, die Dutzende Bücher publizierte und daneben antike Möbel, Krippenfiguren und vieles andere sammelte. In den autobiografischen Schriften der heute weitgehend vergessenen Autorin hat diese insbesondere ihrer über 200 Puppen zählenden Sammlung viel Platz eingeräumt. Darin erfuhr die reale Puppensammlung Transformationen in formal ganz unterschiedliche Bild- und Textnarrative. Die Analyse des Spiels der Autorin und Illustratorin mit Puppenkollektiv und Puppenindividuum, das subtil auf den Erzählinhalt abgestimmt und verbildlicht wird, ordnet exemplarisch Bilder und Texte aus der Zeit zwischen 1885 und 1930 biografischen und zeithistorischen ein.

Schlüsselwörter: Tony Schumacher; Kinderliteratur; 19. Jahrhundert; Illustration; Autobiografie einer Sammlerin; Puppensammlung

Zitationsvorschlag: LEHNINGER, A. „Im Kleinsten zeigt sich die ganze Welt“. Verlebendigung von Puppen in Wort und Bild im Werk von Tony Schumacher. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 18–26, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/102

Copyright: Anna Lehninger. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992

Veröffentlicht am: 16.09.2021

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Großmutter reicht Enkelin Puppe

Abbildung 1: Aus dem Nachlass von Tony Schumacher (Fotografie, undatiert; Andersen & Klemm, Stuttgart, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 689 V 85)

In einem schimmernd beleuchteten, mit gemusterten Tapeten und feinen Teppichen ausgestatteten Zimmer sitzt eine schwarz gekleidete Dame höheren Alters und hält in der linken Hand eine Puppe (vgl. Abbildung 1). Freundlich blickt sie durch ihre Brillengläser auf ein zwei- bis dreijähriges Mädchen herab, das vor ihr steht und sich, ebenfalls eine Puppe haltend, an die alte Frau, vermutlich seine Großmutter, lehnt und deren Blick ernst und fest erwidert. Die Großmutter hat eine Tasse Kaffee oder Tee neben sich stehen, als ob sie diese nur gerade weggestellt hätte, um sich dem kleinen Mädchen zuzuwenden. Ein Bilderbuch liegt aufgeschlagen auf einem geschnitzten Kinderstühlchen, weiteres Spielzeug ist am Boden verstreut, wodurch eine Alltäglichkeit der Szene suggeriert wird. Trotz der sorgfältigen Inszenierung wirkt die Situation liebevoll und innig. Die herzliche Zuneigung der beiden Personen zueinander ist im Bild spürbar und erinnert an bildliche und textliche Figurenkonstellationen wie Domenico Ghirlandaios berühmtem Porträt eines alten Mannes und seines Enkels von 1488 oder an Heidi und seinen Großvater bei Johanna Spyri.
Die Fotografie findet sich im Ludwigsburg Museum im Nachlass der deutschen Kinderbuchautorin Tony Schumacher (1848–1931). Vermutlich handelt es sich bei der alten Frau um Karoline Friederike von Baur-Breitenfeld (1810–1897), die Mutter von Tony Schumacher, das kleine Mädchen ist vermutlich eines ihrer Enkelkinder. Schumacher sollte das Bild später als Grundlage für Illustrationen von Texten verwenden, in denen Großmütter und Puppen tragende Rollen spielen.

Großmutter reicht Enkelin Puppe als Grafik

Abbildung 2: „Beim Großmütterlein“ (1898)

Erinnerungen an eine Großmutter und erste Puppenverse

Die Kinderbuchautorin Tony Schumacher, geborene Antonie Louise Christiane Marie Sophie von Baur-Breitenfeld, Tochter von General Fidel von Baur-Breitenfeld, Großnichte des Arztes und Schriftstellers Justinus Kerner und seit 1875 verheiratet mit dem Hofrat Karl Friedrich Schumacher, gehörte zu den beliebtesten deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Heute ist der einstmalige Ruhm verblasst: „Die Mischung aus fiktiven Geschichten und persönlich Erlebtem sowie der frömmelnd-betuliche, leicht pädagogisierende Erzählstil haben Tony Schumacher Charakterisierungen wie Courths-Mahler für Kinder […] und deutsche Spyri […] eingebracht.“ (Valet 1997, 31). Anders als Johanna Spyris zeitloser Klassiker Heidi haben Schumachers Bestseller Mütterchens Hilfstruppen oder Rigikinder trotz deren früherer Beliebtheit die Zeit nicht überdauert.
Neben ihrem umfassenden Schreiben für Kinder hat Schumacher auch einige autobiografische Schriften veröffentlicht. So hat die Autorin in der Schrift Was ich als Kind erlebt im Jahr 1901 ihrer Kindheit ein schriftstellerisches Denkmal gesetzt und das von Pflichtbewusstsein und militärischer Strenge geprägte, wenngleich auch liebevolle Umfeld beschreiben, in dem sie – zwischen Kaffeevisiten und Sommerbällen – wohlbehütet aufgewachsen war. Insbesondere ihrer Großmutter räumte sie in ihren Erinnerungen einen besonderen Platz ein: „Ob es wohl je eine Großmutter gab, deren Art und Weise und Aussehen so zu diesem Worte passte wie die unsrige? Ein edles, liebes altes Gesicht, silberner Scheitel, ein weißes Häubchen, ein graues oder schwarzseidenes Kleid mit alter gefältelter Chemisette, und Hoheit und Frieden, der von der ganzen Gestalt ausging!“ (Schumacher 2010/1901, 80).
Die verklärte Erinnerung an die eigene Großmutter beschäftigte die Autorin mehrmals. Einmal diente die Fotografie als direkte Vorlage für eine Illustration zum Gedicht „Beim Großmütterlein“ und das bereits bekannte Personal wurde auch in den Versen um den generationenverbindenden Faktor Puppe ergänzt (vgl. Abbildung 2):

„Und manchmal auch, da durft‘ ich seh’n Im seidenen Gewand Großmutters Puppe, fein und schön Mit Schäferhut und Band. Großmutter sprach von alter Zeit, Und wie es damals war, Von Kinderstreichen, Lust und Freud‘, Von Krankheit, Kriegsgefahr.“ (Schumacher 1898, 160)

Gertrud und Lottchen

Abbildung 3: Tony Schumacher, Illustration in Lottchen und Gertrud (1885)

Innerhalb weniger Verse spannt Schumacher den Bogen vom feinen Seidengewand zur drohenden Kriegsgefahr – die Puppe als Projektionsfigur macht den inhaltlichen Sprung möglich. Jahre zuvor war eine spiegelverkehrte Komposition der Gruppe aus Großmutter, Puppe und Enkelin in Schumacher erstem Erfolgsbuch Lottchen und Getrud erschienen (vgl. Abbildung 3). Ein kleines Mädchen reicht dort einer strickenden alten Dame, die in Häubchen und Schultertuch an einem Fenster sitzt, eine Puppe, deren loses Bein offensichtlich der Reparatur bedarf. Auf beiden Bildern fungiert die Puppe als Bindeglied zwischen dem kleinen Kind und der alten Frau, zwischen den zwei Generationen, zwischen den Zeiten. Selbst alterslos, wird sie von der Großmutter, die als kleines Mädchen selbst mit ihr gespielt hat, an die Enkelin weitergereicht (vgl. Abbildung 2). Diese Verquickung von persönlicher Erinnerung und Puppenbiografie zieht sich wie ein roter Faden durch Tony Schumachers Schaffen. Mithilfe der autobiografischen Informationen der Autorin, die durch ihre eigenen Schriften verfügbar sind, können überdies direkte Zusammenhänge zwischen ihrer eigenen Puppensammlung, den Puppentexten und -bildern nachgezeichnet werden.
Von alten Puppen hatte die Schriftstellerin schon früh erzählt – in Verserzählungen, die nur handgeschrieben überliefert sind, aber auch in gedruckten Reimen, die in kleinster Auflage wohl für Familie und Freunde gedacht waren. Bereits dort sind es die Puppen, die das Geschehen bestimmen oder gleich selbst die Geschichte erzählen. „Was der Mama alte Puppe erzählt“, lautet bezeichnenderweise der Titel einer Verserzählung, die um 1871 in dreißig Exemplaren gedruckt wurde. Der Text umfasst fünfzehn Seiten und ist mit einer Illustration von der Hand der Autorin ausgestattet. Diese erste Lebensgeschichte einer Puppe von der Wiege bis zur Bahre (und Wiederauferstehung als Spielzeug der Tochter der früheren Puppenmutter) stellt eine Vorform von Lottchen und Gertrud dar, welcher in der 1885 handgeschriebenen Verserzählung „Noch eine Puppengeschichte“, die sich heute im Städtischen Museum Ludwigsburg befindet, noch eine weitere Facette hinzugefügt wird: Die fantastische Begegnung von Mensch und Puppe. In einer Silvesternacht erhält die Autorin selbst Besuch von einem Puppenkind, das ihr von seinen Erlebnissen berichtet und wieder entschwindet, bevor die Neujahrsglocken läuten und die Erzählerin einschläft (Schumacher 1885a). An der Schwelle zwischen Wachen und Träumen wird die Puppe lebendig und schildert ihre Sicht auf die Welt, die von der Autorin als Mittlerin zur realen Welt zu Papier gebracht wird. Fünfzehn Jahre später sollte Schumacher die in den beiden Verserzählungen angelegten Motive ausbauen und damit ihren ersten großen Erfolg feiern.

Puppengeflüster. Was Lottchen und Gertrud sich erzählten

Lottchen und Gertrud anderes Bild

Abbildung 4: Tony Schumacher, Lottchen und Gertrud, Titelbild (1885)

Nach in „Noch eine Puppengeschichte“ ließ Schumacher 1885 gleich zwei Puppen in einer Reimerzählung lebendig werden und ihre Lebensgeschichten schildern. Es beginnt mit einer atmosphärischen Schilderung der Nacht nach Heiligabend, wo sich zwischen den Geschenken zwei Puppen zwei kleine Stühle zusammengeschoben haben: „Die sprachen und sagten sich allerlei!“ (Schumacher 1885b, 4). Diese Christnacht ist wahrlich eine magische Nacht, in der, vom Mond beschienen, die Puppen einander von ihren Erlebnissen erzählen, so auch zu sehen im Titelbild (vgl. Abbildung 4), das ein anonymer Künstler gestaltet hat.
Beinahe erscheinen die beiden Puppen selbst wie Kinder, die proportional viel größer gezeichnet sind als die sie umgebenden Spielsachen. Auch ihre Haltung und Gestik wirken äußerst menschlich, lediglich die etwas steif ausgestreckten Beine der Puppe aus Holz deuten deren wahre Materialität an.
Zuerst berichtet die ältere Holzpuppe von den Ereignissen bei dem Mädchen Lottchen. Darauf folgt der autobiografische Bericht der Wachspuppe von Gertrud. Beide Puppen bleiben selbst namenlos, respektive nehmen sie die Namen ihrer Besitzerinnen an. Bebildert sind die Reime im Inneren mit „40 Illustrationen und vier Buntbildern nach Zeichnungen der Verfasserin“, in den Illustrationen deutlich gekennzeichnet durch das Monogramm „TS“. Die Autorin hatte schon von Jugend an gerne gezeichnet und so lag es offenbar nahe, dass sie ihre (frühen) Publikationen auch illustrierte, wie in Ich gratuliere von 1883, einer Sammlung von Gedichten, Sprüchen und kleinen Szenen für Kinder, die sie mit Kindern in den passenden Kostümen bebilderte. Später wurden ihre Bücher von Illustratoren wie Paul Hey, Karl Schmauck oder Ernst Kutzer mit Bildern versehen – ob dies in der zeitlichen Auslastung der Autorin mit dem Schreiben begründet war, oder mit verändertem Publikumsgeschmack in Zusammenhang stand, ist nicht bekannt, ebenso wenig wie weit sich die Autorin bei der Auswahl der Illustratoren und deren Bilder einbrachte. Der Puppengeschichte von 1885 hat die Schriftstellerin jedenfalls ihre eigenen Bilder in Form zarter, teils kolorierter, Federzeichnungen, beigegeben, die zeichnerisch gekonnt die Atmosphäre der Puppenerfahrungsberichte unterstreichen und personalisieren (vgl. Abbildungen 5 und 6).

Die Wachspuppe wird gekauft

Abbildung 5: Tony Schumacher „Die Wachspuppe wird gekauft“ in Lottchen und Gertrud (1885)

Die Geschichte von Lottchens Holzpuppe reicht weit ins frühe 19. Jahrhundert zurück: Vom Kauf durch den Vater auf einer Reise, dem Ankommen im Haus und Kennenlernen all seiner Bewohner, Räume und Besonderheiten über Erlebnisse durch die Zeit wie eine Kindstaufe, Hausunterricht und Spiele, eine Ferienreise zu den Großeltern auf dem Land, die Erkrankung von Lottchen an den Masern bis zum freudigen Erleben der Weihnachtszeit. Als Lottchen zu alt ist zum Spielen und schließlich an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, wird die Puppe am Dachboden in einer Kiste zur Ruhe gebettet. Nach jahrzehntelangem Schlaf wird sie vom nunmehr zur Großmutter gewordenen Lottchen wieder aufgeweckt und deren Enkeltochter als Weihnachtsgeschenk weitergegeben.
Nun hebt die Wachspuppe an zu erzählen, wobei bereits am Anfang mit der Puppe „erstem Erinnern“ von der Anfertigung und Ausstellung in einem Spielzeuggeschäft eine neue Ära des Puppendaseins anklingt: Diese Puppe wird nicht unterwegs bei einem Händler gekauft, sondern in einem eigenen Laden, in dem die Puppen wie Kleinode in wandhohen Vitrinen präsentiert werden (vgl. Abbildung 5). In die Ferien wird nicht mehr per Kutsche gereist, sondern mit der Eisenbahn und man lässt sich selbstverständlich beim Fotografen porträtieren. Anders als das im Familienkreis behütete Lottchen wird die kleine Gertrud in einen Kindergarten gegeben und zur Vorbeugung von Haltungsschäden werden Mädchen und Jungen zum Kinderturnen geschickt. Die älteste Tochter strebt nunmehr eine Laufbahn als Lehrerin an – der großmütterliche Wunsch nach einer Intensivierung der Hausarbeit wird als unzeitgemäß abgetan.

Ricke und Agnes

Abbildung 6: Tony Schumacher „Ricke und Agnes“ in Lottchen und Gertrud (1885)

Kindergeburtstage, Kinderkrankheiten und allerlei Erlebnisse bleiben über die Zeiten ähnlich und werden von den Puppenchronistinnen sorgsam im Gedächtnis verzeichnet, während sie auch die Veränderungen wahrnehmen und festhalten. Erzählerisch nehmen sie eine eher neutrale Position ein – sie beobachten und berichten wie außenstehende, allwissende Erzählerinnen. Nur hin und wieder sind sie Teil des Geschehens. Dieses Wandeln zwischen der Menschenund Puppenwelt schlägt sich auch in Schumachers Illustrationen nieder. Die Puppen werden zwar oft im Arm gehalten oder sitzen steif auf dem Sofa, verschränken aber auch, zuweilen genau an der Schwelle balancierend, den Bild- mit dem Textraum. Sie fungieren als Vermittlerinnen zwischen der Realität der Kinder im Bild und jener der Erzählung auf der Buchseite (vgl. Abbildung 6).
Nebenbei wird in den Versen auch Familien- und Spielzeuggeschichte erzählt und mittels letzterer eine Entwicklungslinie parallel zu den gesellschaftlichen Veränderungen gezogen – von der Großmutter zur Enkelin wird die Veränderung von Puppen vom späten 18. bis ins 19. Jahrhundert zusammengefasst: „Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurden Puppen fast ausschließlich aus Holz geschnitzt oder gedrechselt. Dieses Material trug viel zu der würdevollen Steifheit ihrer Erscheinung bei. Im 18. Jahrhundert kamen Wachs und Porzellan zur Herstellung von Puppenköpfen hinzu.“ (Wernigg, 1961, 13). Der würdevollen Steifheit von Lottchen folgt das anschmiegsame Wachsgesicht Gertruds, in diesem Wechsel und den begleitenden Zeiterscheinungen kündet sich eine neue Ära an. Ein verändertes Frauenbild wird hier ebenso vermittelt wie der technische Fortschritt.
Sachkenntnis von der Puppenwelt hatte die Autorin nicht nur durch ihre Kindheitserinnerungen, sondern vor allem durch ihre eigene, um die 200 zum Teil sehr kostbare Puppen aus aller Welt zählende, Sammlung. Tony Schumacher war sich des kulturhistorischen Wertes ihrer Sammlung bewusst und widmete ihr verschiedene Sachtexte, in denen sie den Ursprüngen der Sammlung und ihren Besonderheiten auf den Grund ging.

Seite aus dem deutschen Mädchenbuch

Abbildung 7: Seite aus dem Deutschen Mädchenbuch (1899, S. 175)

Wie man zu einer Puppensammlung kommt

„Sie sammeln Puppen? – Ist das möglich? – Wie kurios! – Was thun Sie denn damit?“ (Schumacher 1899b, 169). Mit diesen Worten leitete Tony Schumacher in mehreren Artikeln und einem Buch Betrachtungen über ihre Puppensammlung ein. Während sich zwei ausführliche Texte, die 1899 erschienen, nur wenig unterscheiden und reich bebildert sind, stellt eine 1918 erschienene Veröffentlichung eine sprachliche Verknappung ohne Bilder dar. Der letzte und umfangreichste Text von 1929 weicht wiederum markant vom Schema der frühen Artikel ab, wenngleich er unter demselben Titel erschien: „Wie ich zu meiner Puppensammlung kam“. Die erste Version ihres Sammlungsessays veröffentlichte Tony Schumacher einmal in dem illustrierten Wochenblatt Über Land und Meer als illustrierten Gang durch die Sammlung und im selben Jahr im siebenten Band des Jahrbuchs Deutsches Mädchenbuch. Ausgestattet mit 53 teilweise farbigen Vignetten der Puppen von dem deutschen Illustrator Christian Votteler gab Schumacher einen Überblick über die Entstehungsgeschichte ihrer Sammlung, reiste mit den Puppen um die Welt und durch die Zeit und verband mit einigen Protagonist: innen kurze Anekdoten darüber wie die jeweilige Puppe in ihren Besitz gelangt war (vgl. Abbildungen 7 und 8).
In die Texte integriert sind kleine Abbildungen der Puppen, in Grüppchen arrangiert und einander zugewandt wie in einem Gespräch. In lockerem Plauderton werden Käufe und Schenkungen geschildert, wobei der koloniale Hintergrund im Erwerb einerseits in den Provenienzen anklingt, anderseits auch im „Exotismus“ der im Artikel wie in einer Völkerschau en miniature „ausgestellten“ Puppen (vgl. Abbildung 9).

Eine andere Seite aus dem deutschen Mädchenbuch

Abbildung 8: Seite aus dem Deutschen Mädchenbuch (1899, S. 179)

In Lottchen und Gertrud wird explizit ein Besuch einer Ausstellung des westmongolischen Volkes der Kalmücken geschildert:

Bald ist auch die ganze Familie bereit, Die Kalmücken zu sehen, ist es jetzt Zeit. Man zeigt ja heutzutage so gern Seltsame Menschen aus weiter Fern‘.
(…)
Die Kinder waren sehr erstaunt, Über all das Fremdartige. Getrud raunt Der Großmutter leise ins Ohr: ‚Mir kommen die Menschen so traurig vor, Sag‘, müssen sie immer das Gleiche thun? Und kehren sie nicht bald nach Hause nun?‘ (Schumacher 1885b, 113f)

Voller Staunen, aber auch Mitleid, werden die Frauen, Männer und Kinder dort betrachtet. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Szene um eine Einbindung von tatsächlich Erlebtem der Autorin, wie der in den 1880er Jahren sehr beliebten Zurschaustellung von Kalmücken durch Carl Hagenbeck (Thode-Arora 2012, 161). Noch viele Jahre später nahm die Autorin auf das Format der Schaustellung anderer Völker Bezug: 1929 sprach sie von der Puppensammlung gar als ihrer „kleinen Völkerschau“ (Schumacher 1929, 113).
Die Autorin, deren moralische Bedenken gegenüber der Zurschaustellung von Menschen deutlich werden, mag in der Puppensammlung eine zwar dem kolonialen Exotismus der Zeit verpflichtete, aber menschenwürdige, Ausstellungsform anderer Völker und Kulturen gefunden haben. Zusammenfassend schloss Schumacher die Betrachtung ihrer Sammlung:

Seite aus Ueber Land und Meer

Abbildung 9: Seite aus Über Land und Meer (1899, S. 427)

,Im kleinsten zeigt sich die ganze Welt!‘ Dieses Wort könnte auch auf meine Sammlung angewendet werden. Nein, ich ‚spiele‘ nicht mit meinen Puppen, aber wenn ich in einer Mußestunde in mein Sammelzimmer gehe, wenn all die weißen und schwarzen, geschnitzten und wächsernen, modernen, glänzenden, sowie die noch weit größere Anzahl verblichener, uralter kleiner Gestalten mich umgeben, die entweder frommer Andacht geweiht waren oder von längst vermoderten Kinderhändchen ans Herz gedrückt wurden, so ist mir, als erzähle mir jede einzelne ihre Geschichte, und – lacht nicht! – diese Geschichten sind rührend und lehrsam und umfassen ein gut Teil Welt- und Menschengeschichte. (Schumacher 1899b, 184).

Eine beinahe wörtliche Entsprechung findet sich in Charles Baudelaires Reflexionen über den „Sinn des Spielzeugs“: „Findet man da im Kleinen nicht das ganze Leben, nur viel bunter, säuberlicher und leuchtender als in Wirklichkeit?“ (Baudelaire 1951, 542). Baudelaires hier zitierter Essay erschien 1951 in deutscher Übersetzung in der Dezemberausgabe der Kulturzeitschrift Atlantis. Länder – Völker – Reisen, die im selben Heft einen reich bebilderten Beitrag über die historische Puppensammlung der Madame de Galéa aus Paris widmete, die damals in Zürich ausgestellt war. Wo aber Baudelaire mehr eine Verkleinerung und damit mikroskopische Verdeutlichung gesellschaftlichen Lebens im Sinn gehabt hatte, spannte Schumacher den Bogen weiter über die gesamte Kulturgeschichte und untermauerte diesen Anspruch bildlich in der Inszenierung der Puppen wie in einer musealen Präsentation.
1899 kam die Beschreibung der Sammlung noch als ein Überfliegen des Ganzen mit anekdotischen Seitenblicken auf einzelne Puppen daher. Das wie von Scheinwerfen beleuchtete Aufscheinen der Illustrationen im Text unterstreicht deren Status als Kleinode. Dreißig Jahre später hingegen, als die achtzigjährige Schumacher in Buchform einen letzten Blick auf ihre Sammlung warf, widmete sie nicht nur eine geräumige Einführung der Entstehung der Sammlung, sondern ordnete das Büchlein auch in einzelnen Kapiteln nach größeren thematischen Schwerpunkten. Schilderungen über die Erwerbung (oder auch Nichterwerbung) einzelner Puppen, die sie zuvor nur angedeutet oder gar nicht erwähnt hatte, konnte sie jetzt in voller Länge zum Besten geben. In manchem Kapitel stehen die Schicksale einzelner Menschen sogar mehr im Vordergrund als der Erwerb der Puppen oder Krippenfiguren, die beinahe beiläufig in die Geschichte eingeflochten wurden. Es fehlt jedoch der stolz schwelgende Rundumblick auf das Puppenreich, nicht zuletzt auch mangels Illustrationen. Lediglich eine schwarz-weiße Fotografie einer prachtvoll gekleideten, geschnitzten „Chinesenpuppe“ ziert das Frontispiz. Auf weiteren Bildschmuck wurde – vermutlich aus Kostengründen – in dem schmalen, 120 Seiten umfassenden Bändchen verzichtet.
Es ist die Sichtung eines gelebten Lebens, herausgepflückten Erinnerungen folgend, die mit den Puppen in mehr oder weniger fester Verbindung stehen. Die nunmehr selbst im Großmutteralter Stehende ließ nicht mehr den Blick der Sammelnden über ihre Kollektion schweifen, die Glanzstücke mit sichtlichem Stolz hervorhebend, vielmehr ist es ein Abschied von der sich nunmehr auflösenden Sammlung, ein schriftliches Festhalten der den Puppenkörpern eingeschriebenen Erinnerungen, die ohne deren physische Anwesenheit verloren wären. Dazu bediente sich Schumacher ihres ureigensten Handwerkszeugs, des Schreibens, um das Verschwindende dem Vergessen zu entreißen.

Ein Puppenvermächtnis

Puppen aus der Sammlung

Abbildung 10: Puppen aus der Sammlung von Tony Schumacher (Fotografie)

Zur bildlichen Repräsentation der Puppen wurden die jeweils verfügbaren technischen Möglichkeiten genutzt. Außer den Zeichnungen wurden mehrmals Fotografien von der Sammlung angefertigt. Die Puppenarrangements auf manchen undatierten Fotografien (vgl. Abbildung 10), die vermutlich von Schumacher selbst so angeordnet worden waren und vermutlich noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, erinnern an Familien- und Gruppenfotos, in denen die Menschen steif wie Puppen in einer Pose ausharren mussten, bis die Belichtung der Glasplatte fertig war. Die Inszenierung lässt auch an die Puppengrüppchen in den Illustrationen ihres Essays denken (vgl. Abbildungen 7, 8 und 9) und lässt die einzelnen Puppen nochmals in voller Pracht auftreten.
Ein letztes Mal ließ sie den Blick über die Sammlung schweifen, als diese vor dem Verkauf um das Jahr 1919 fotografiert wurde (vgl. Abbildung 11). Gedrängt in den Vitrinen sind die Puppen vor- und nebeneinander positioniert und bestechen weniger durch ihre individuellen Eigenheiten als durch ihre Zahl.
1918 hat Schumacher auch eine weitere Fassung des Sammlungstextes verfasst, die auf vier Seiten in knappem, für die Autorin eher ungewöhnlichem, staccatoartigem Telegrammstil die Glanzstücke abarbeitet, zudem auch einige ihrer Krippen beschreibt (Schumacher 1918). Bald darauf verlor sich die Spur der Sammlung und sie konnte erst viele Jahre später zumindest teilweise rekonstruiert werden. Zwar ist der Glanz von Tony Schumachers Puppensammlung heute, wie auch ihre einstige Bekanntheit als Autorin, verblasst, doch einige Puppen, die in den Texten beschrieben und abgebildet sind, haben die Wirren der Kriegsjahre überstanden und werden heute im Landesmuseum Württemberg und im Ludwigsburg Museum aufbewahrt.

Puppensammlung

Abbildung 11: Puppensammlung von Tony Schumacher, um 1919 (Fotografie)

In der Rezeptionsgeschichte ihres Werks offenbart sich die problembeladene Geschichte von Zuordnungen weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert, das oft allzu schnell als trivial und sentimental abgestempelt wurde. Gerade in Puppentexten und -bildern wird die Festlegung vieler Schriftstellerinnen als Autorinnen von Kinder- respektive Mädchenliteratur deutlich. Schumacher als Exponentin dieser Sparte hat aber mit in ihrer Doppelfunktion als Autorin und Illustratorin verdeutlicht, dass die vordergründig lieblichen Puppenbilder auch zu differenzierten Lesarten auffordern. Die Puppenillustrationen sind somit Teil des Dilemmas wie auch der Schlüssel zu seiner Analyse.


[1] Die Verfasserin widmet den Beitrag im Gedenken Roland Stark, der diese „Schumacherei" mit wertvollen Anregungen und liebenswürdigem Austausch begleitet hat.


Literaturverzeichnis & Quellen

Augustin, Rolf und Heide (2002). Gelebt in Traum und Wirklichkeit. Biographie und Bibliographie der einst berühmten Ludwigsburger Kinderbuchautorin Tony Schumacher – eine Recherche, (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, Band 20). Frankfurt am Main: Peter Lang.

Baudelaire, Charles (1951). Vom Sinn des Spielzeugs. Atlantis. Länder – Völker – Reisen, 23 (12), 542–544.

Cieslik, Jürgen und Marianne (1979). Puppen. Europäische Puppen 1800–1930. München: Mosaik Verlag.

Ebner-Eschenbach, Marie von (2019). Lotti die Uhrmacherin (mit einem Essay von Eva Schörkhuber), Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag (Originalausgabe 1880).

Ebner-Eschenbach, Marie von (1895/96). Meine Uhrensammlung. Velhagens & Klasings Monatshefte, 10, Bd. 1, 531–540.

Schumacher, Tony (1871). Was der Mama alte Puppe erzählt. Verserzählung, Privatdruck in 30 Exemplaren, 15 Seiten, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 3088 L.

Schumacher, Tony (1885a). Noch eine Puppengeschichte. Verserzählung, Manuskript, vier DIN A4-Seiten, sechs Spalten, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 1608 V 87.

Schumacher, Tony (1885b). Lottchen und Gertrud oder Großmutters Holzpuppe und der Enkelin Wachspuppe. Vergleichende Erzählung in Reimen aus der guten alten Zeit und der Neuzeit. (mit 40 Illustrationen und vier Buntbildern nach Zeichnungen der Verfasserin). Leipzig-Berlin: Verlag von Otto Spamer.

Schumacher, Tony (1898). Beim Großmütterlein. Der Jugendfreund, 12, (40), 160, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 559 V 85.

Schumacher, Tony (1899a). Wie ich zu meiner Puppensammlung kam. Über Land und Meer, 41, Bd. 81, (26), 426–430.

Schumacher, Tony (1899b). Wie ich zu meiner Puppensammlung kam. Deutsches Mädchenbuch, Bd. 7. Stuttgart: K. Thienemanns Verlag, 169–184.

Schumacher, Tony (1918a). Puppen- und Krippensammlung. Antiquitäten-Zeitung, Stuttgart: Verlag Hermann Pfistern, 1–4, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 586 V 85.

Schumacher, Tony, (1918b). Mirjams Treue. (Illustrationen von Karl Schmauck). Stuttgart: Levy & Müller.

Schumacher, Tony (1929). Wie ich zu meiner Puppensammlung kam. Erinnerungen einer Achtzigjährigen. Stuttgart: Levy & Müller.

Schumacher, Tony (2010). Was ich als Kind erlebt, Monique Cantré (Hg.), Tübingen: Klöpfer und Meyer. (Originalausgabe 1901)

Spielzeugmuseum Riehen (Hg.) (2019). Puppen. Aus der Sammlung von Doris Im Obersteg, Ausstellungskatalog, Spielzeugmuseum Riehen, (22.09.2019–31.01.2020). Basel: Schwabe Verlag.

Thode-Arora, Hilke (2012). Hagenbecks Europatourneen und die Entwicklung der Völkerschauen, In Pascal Blanchard Éric Deroo, Sandrine Lemaire (Hg.). MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit. Hamburg: Ed du Crieur Publique, 160–171.

Valet, Friederike (1997). Puppen aus der Sammlung Tony Schumacher. In Dieter Büchner, Andrea Tietze, und Christian Väterlein Alte Spielsachen, Schloßmuseum Aulendorf, Zweigstelle des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart, (S. 31–35). Stuttgart: Württemberg. Landesmuseum.

Wagner, Irmgard (2006). Kaiserreich und Republik in Tony Schumachers Jugendbüchern. Eine literarisch- kulturgeschichtliche Zeitreise. Ludwigsburg: Hackenberg.

Weder, Christine (2016). Gegenwärtige Geschichte(n): Gesammelte Uhren und Bücher im Spannungsfeld von Archiv und Aktualität bei Marie von Ebner-Eschenbach In Daniela Gretz, Nicolas Pethes (Hg.). Archiv/Fiktionen. Freiburg i.Br-Berlin-Wien: Rombach Verlag, S. 51–68.

Wernigg, Gertrud (1961). Puppen und Puppenzimmer. In Hubert Kaut, Alt-Wiener Spielzeugschachtel. Wiener Kinderspielzeug aus drei Jahrhunderten (S. 12–23). Wien: Hans Deutsch Verlag.


Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Aus dem Nachlass von Tony Schumacher; Fotografie, undatiert; Andersen & Klemm, Stuttgart, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 689 V 85

Abbildung 2: „Beim Großmütterlein“, in: Der Jugendfreund, 2. Oktober 1898, S. 160

Abbildung 3: Tony Schumacher, Illustration in: Lottchen und Gertrud, 1885, S. 83

Abbildung 4: Tony Schumacher, Lottchen und Gertrud, Titelbild, 1885

Abbildung 5: Tony Schumacher, „Die Wachspuppe wird gekauft“, in: Lottchen und Gertrud, 1885, S. 68/69

Abbildung 6: Tony Schumacher, „Ricke und Agnes“, in: Lottchen und Gertrud, 1885, S. 34

Abbildung 7: Seite aus dem Deutschen Mädchenbuch, 1899, S. 175

Abbildung 8: Seite aus dem Deutschen Mädchenbuch, 1899, S. 179

Abbildung 9: Seite aus Über Land und Meer, 1899, Jg. 41, Bd. 81, Nr. 26, S. 427, Ludwigsburg Museum, Inv.-Nr. 587 V 85

Abbildung 10: Fotografie von Puppen aus der Sammlung von Tony Schumacher, Ludwigsburg Museum, Inv. Nr. 12788

Abbildung 11: Fotografie der Puppensammlung von Tony Schumacher, um 1919, Ludwigsburg Museum, Inv. Nr. 12806



Über die Autorin / About the Author

Anna Lehninger

Kunsthistorikerin, Zürich. 1997–2003 Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien, 2004–2009 Promotion an der Universität Bern über Gestickte Autobiografien. Identitätskonstitution in textilen Werken von Frauen in Psychiatrien im 19. und 20. Jahrhundert. Seit 2012 Erschliessung verschiedener Bildersammlungen an der Universität Zürich, der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich und am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. Ausstellungen und Publikationen zu Outsider Art, Kinder- und Jugendbuchillustration und historischer Kinderzeichnung.

Anna Lehninger

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