denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus
Barbara Margarethe Eggert im Gespräch mit Museumsdirektorin Julia Lehner
Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance
Abstract:
Die Unternehmerin und Sammlerin Julia Lehner gehörte zu den ersten Absolvent:innen des sammlungswissenschaftlichen Master-Lehrgangs Collection
Studies and Management an der Donau-Universität Krems, in dem Barbara
Margarethe Eggert als Dozentin tätig war. Im Interview geht es sowohl um die Herausforderungen
eines Ausstellungkonzepts bzw. um die Entwicklung und Gründung eines
Museums für Puppen und Spielsachen als auch um biographiebezogene Erfahrungen der
Sammlerin vor dem Hintergrund der historischen Bedeutungsgeschichte(n) von Puppen
sowie einer entsprechenden puppenspezifischen Ausstellungspraxis.
Schlüsselwörter: Puppenmuseum; Puppensammlung; Puppengeschichten
Zitationsvorschlag: EGGERT, B. M.; LEHNER, J. Was macht die Puppe im Museum? Puppen ausstellen im Spannungsfeld von historischen und biographiebezogenen Bedeutungs(ge)schichten: Barbara Margarethe Eggert im Gespräch mit Museumsdirektorin Julia Lehner. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 27–32, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/103
Copyright: Barbara Margarethe Eggert / Julia Lehner. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 16.09.2021
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Als Julia Lehner 1995 von einer Freundin eine Puppe aus dem 19. Jahrhundert
geschenkt bekam, hatte dies weitreichende Folgen: Das Geschenk
nahm sie zum Anlass, sich intensiv mit Menschenpuppen und deren (historischen)
Herstellungsprozessen zu befassen. Mit dem Interesse am (Kunst-)Objekt
Puppe wuchs auch die Lehner’sche Sammlung, die schon bald neben Puppen auch
Teddybären, Puppenhäuser, Kaufmannsläden und andere Miniaturen umfasste, welche
überwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammen. Am 10. April 2010 eröffnete
Julia Lehner das Puppenhausmuseum in St. Thomas am Blasenstein, Österreich, um
ihre Sammlung und die damit verbundene Expertise mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Die 450 m2 des Museums erwiesen sich schon bald als zu klein für die Präsentation
der Sammlung, die im Jahr 2019 auf 4.800 historische Puppen angewachsen
war. Gemeinsam mit ihrem Mann erwarb Julia Lehner 2018 die in Niederösterreich
gelegene Burg Kranichberg, in welche die Puppensammlung – sowie die weiteren
Sammlungen der Familie – nach der Revitalisierung der Bausubstanz umziehen
wird und neue Ausstellungsräume für die Sammlung Lehner entstehen und das
Spielzeugmuseum.
Spielzeug ist in der Regel nicht primär für Ausstellungszwecke, sondern zum
Gebrauch gemacht: Als wichtige Kindheitsgefährtinnen sind gerade Puppen dem
Verschleiß ausgesetzt, die Abenteuer inner- und außerhalb des Kinderzimmers mit
sich bringen. Überdauern sie die Spielphase ihrer Besitzer:innen, werden sie an die
nächste Generation weiter gereicht – oder landen als Andenken an die eigene Kindheit
in der häuslichen Vitrine. Gelangen Puppen in den Museumskontext, bleiben die
Bezüge zur individuellen Biographie der Vorbesitzenden oft unsichtbar. Die Puppe
wird vom Alltagsgegenstand zum Semiophor – zu einem Zeichenträger, der seine
Bedeutung erst durch den Status als Museumsexponat erhält (Pomian 1998, 85). Bei
ihrer Puppensammlung, die sie in ihrem Privatmuseum präsentiert, geht es Julia Lehner
nicht nur darum, Repräsentationsobjekte für eine bestimmte Epoche zu vereinen
und die „Geschichte der Puppe“ auszustellen, sondern es ist ihr ebenso ein Anliegen,
die Ausstellungsobjekte mit den Biographien der ehemaligen Vorbesitzer:innen zu
verknüpfen und – auf vielen Ebenen – neue Puppengeschichten entstehen zu lassen.
***
Abbildung 1: Julia Lehners Jumeau-Puppe aus dem Jahr 1880; Foto: Julia Lehner © Sammlung Lehner
Barbara Margarethe Eggert (BME): Liebe Julia, Du warst eine der ersten Studierenden, die den sammlungswissenschaftlichen „Master-Lehrgang Collection Studies and Management“ an der Donau-Universität Krems belegt und absolviert haben. Von Anfang an stand Deine eigene Sammlung im Zentrum Deines Forschungsinteresses. Du hast also der Perspektive der Praktikerin die Perspektive der Theoretikerin hinzugefügt. Im Vorwort Deiner Masterarbeit beschreibst Du einen Wendepunkt in Deiner Biographie als Sammlerin: Du hast damit begonnen, Dich intensiv mit Puppen zu befassen, nachdem Du als Erwachsene von einer Freundin eine historische Puppe aus dem 19. Jahrhundert geschenkt bekommen hast. Was hat Dich gerade an dieser Puppe so fasziniert, dass Du darauf hin damit begonnen hast, Puppen zu sammeln und Dich mit der Geschichte der Puppe auseinanderzusetzen?
Julia Lehner (JL): Zum einen war es ein Geschenk
einer lieben Freundin, welches aus dem
Besitz ihrer Mutter stammte. Wir haben gemeinsam
die Wohnung geräumt und die Puppe passte
nicht zu den sortierten Objekten, welche nach
Funktion, z. B. Geschirr, Schuhe, Kleidung usw.
in Schachteln sortiert wurde. Am Ende blieb die
Puppe am Fenster übrig. Nach drei Tagen Arbeit
fand sie es angemessen, mir die Puppe zu schenken.
Anfänglich wusste ich gar nichts damit anzufangen
und setzte sie zuhause aufs Klavier.
Gefallen hat sie mir von Beginn an und als ich
sie einmal genauer betrachtete, fand ich Nummern
und Buchstaben am Hinterkopf. Das hat mich neugierig gemacht. Da ist
mir ein kleiner Laden in Luzern in den Sinn gekommen, der Puppen verkauft.
Dass es sich um ein altes Exemplar handelt, war mir von Beginn an bewusst.
Die Puppe stellte sich als französische Puppe der Marke Jumeau heraus. Ich
kaufte mir ein Buch über Puppen ganz allgemein und fing an zu lesen und in
mir entstand der Wunsch, eine kleine Gruppe mit Puppenwagen in Miniaturform
am Klavier zu positionieren.
Die erste Puppe ist in der Sammlung Lehner ein ganz besonderes Exemplar
und hatte zum Beispiel keine Schuhe an. Das ist erstaunlich, da sie ansonsten
in Originalkleidung fein herausgeputzt ist. Es wäre leicht, Schuhe zu kaufen,
aber es ist mein Wunsch, dass keine Veränderungen an ihr vorgenommen werden.
So bleibt sie in der Ausstellung so, wie ich sie geschenkt bekommen habe.
BME: Was war für Dich der Auslöser, Deine Faszination mit anderen Menschen zu teilen und das Puppenhausmuseum in St. Thomas zu gründen?
JL: Anfänglich wollten wir ein Haus, denn ein Museum war für mich in diesem Moment noch nicht vorstellbar. Mein Mann hatte die Idee, es auch öffentlich zugänglich zu machen, da wir ja, so seine Worte, sowieso Vitrinen brauchen. Am Anfang hatte ich immer das Gefühl, dass meine Sammlung zu klein sein könnte. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt kein anderes Puppenmuseum. Die Freude am Teilen kam bei mir bei den ersten Führungen. Die Begeisterung der Besucherinnen und Besucher und deren Erlebnisse im Zusammenhang mit Puppen geben mir Motivation und Freude. Sie schätzen meine Arbeit und das freut mich. Das Sammeln ergab plötzlich einen Sinn. Wenn Besucherinnen und Besucher sagen, so etwas haben sie noch nie gesehen, dann weißt du, dass du etwas Besonderes geschaffen hast.
BME: Inzwischen ist Deine Sammlung ja schon lange zu groß für das Puppenhausmuseum geworden – und Du ergänzt sie weiterhin. Hattest Du von Anfang an ein fixes Sammlungskonzept oder hat sich dies im Laufe der Zeit verändert? Wie sieht Dein gegenwärtiges Sammlungskonzept aus und was sind Deine Sammlungsschwerpunkte?
JL: Ein Sammlungskonzept hatte ich in dem Sinn, wie es auf der Donau Uni
unterrichtet wurde, nicht. Ich kaufte anfänglich nur Objekte, welche mir gefallen
haben und in die Gruppe passten. Das war vom Preis unabhängig. Es musste sich
um historische Exemplare handeln. Mein Geschmack in Bezug auf Puppen hat
sich auch laufend verändert bzw. wurde ich kritischer. Es mussten Puppen ohne
Mängel sein und heute ist mir auch die Originalkleidung sehr wichtig. Je mehr
Kriterien dazu kommen, umso schwieriger wird es auch, eine Puppe zu finden.
Das ist gut so, sonst würden es noch mehr werden.
Das Sammlungskonzept entstand mit dem Kauf einer großen Haarbildsammlung.
Da wurde mir bewusst: Jetzt muss ich aufpassen, sonst wird es eng im
Haus und im Keller. Anfänglich hatte ich ja alles zuhause. Meine Kinder durften
auch damit spielen. Sehr beliebt waren die Kaufmannsläden. Mein gegenwärtiges
Sammlungskonzept beinhaltet, sich bewusst auf die Objekte zu konzentrieren,
welche die Sammlung ergänzen und bereichern. Nachlässe von Künstlerinnen
und Künstlern werden nun angekauft, um Sonderausstellungen realisieren zu
können. Diese sollen das Museum attraktiv halten. Die Freiheit, welche ich als
private Sammlerin habe, ist, dass ich sehr breit sammeln kann. Die Hauptsammlung
ist die Puppensammlung. Ich bin aber sehr froh, dass ich nicht nur auf Puppen
beschränkt bin. Da ich auch meine anderen Sammlungen wie zum Beispiel
die Ballspendensammlung mit über 2.800 Objekten sehr schätze. Ich kaufe für
jeden Sammlungsbereich laufend dazu, wenn es mein Budget zulässt.
Abbildung 2: Die zukünftige Sammlerin Julia Lehner im Kreise ihrer Puppen, 1976; Foto: privat © Sammlung Lehner
BME: Puppen haben und hatten auf verschiedene Weise Einfluss auf die Biographien von ganz unterschiedlichen Menschen. Ich habe kürzlich zwei Bücher über die Fotografin Dare Wright gelesen (Nathan 2004, Ashley 2019). Sie bekam als 11jährige von ihrer Mutter eine Puppe geschenkt, die sie als erwachsene Fotografin zur Hauptfigur ihrer Kinderbuchserie The Lonely Doll (Wright 1957) machte. Dare Wright hat auch Menschen und Tiere fotografiert, aber Berühmtheit erlangte sie durch die künstlerische Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Kinderspielzeug, durch dessen eigenartige und einzigartige Inszenierung in Form von Fotostories. Was für eine Rolle haben Puppen in Deiner Kindheit gespielt? Existieren noch Puppen aus Deiner Kindheit – und falls ja: Sind sie derzeit im Puppenhausmuseum in St. Thomas ausgestellt? Würdest Du rückblickend sagen, dass Puppen für Dich schon immer eine besondere Bedeutung hatten? Gab es eine Phase in Deinem Leben, in der Dich Puppen weder als Spiel- noch als Sammelobjekt interessiert haben?
JL: Ich habe so wie die meisten Mädchen mit Puppen gespielt. Meine Puppensammlung als Kind war sehr groß. Ich habe ein Foto, wo man sieht, dass ich immer mit allen gleichzeitig gespielt habe. Es waren ca. 20 und alle wurden gleichzeitig umgezogen, gefüttert usw. Im Nachhinein muss ich sagen, dass dies doch eher auffällig war. Ich ließ praktisch nie eine Puppe auf dem Bett alleine zurück. Entweder alle oder keine. Meine erste Puppe habe ich auch noch: es war eine der Marke Schildkröt genannt Schlummerle. Im neuen Museum wird das oben erwähnte Foto und auch meine erste Puppe in die Ausstellung kommen. Ich dachte, als ich das Museum in St. Thomas einrichtete, gar nicht daran diese auszustellen. Die Ausbildung an der Donau Universität zeigte mir auf, wie wichtig auch der Sammler und seine Lebensgeschichte für die Besucher sein kann. Puppen hatten für mich immer eine sehr wichtige Rolle gespielt. Ich habe die Puppen für eine Zeit aus den Augen verloren als meine sechs Kinder klein waren, das war von 1988 bis 1995. Ich wurde aber oft von Leuten auf der Straße angesprochen, dass meine Kinder so hübsch gekleidet seien und des Öfteren hörte ich: Die schauen aus wie kleine Puppen! Mich hat das sehr gefreut, aber im Nachhinein denke ich, meine Kinder waren für mich lebendige Puppen. Ich habe meine Kinder in Wickelpolster gesteckt, obwohl das zu der damaligen Zeit schon etwas ungewöhnlich war. Heute helfen alle mit, sei es in der Ausstellung oder im Museum im Allgemeinen. Alle sind sich einig: Weg kommt nichts – und das ist in meinem Sinne.
BME: Wenn Du Puppen für Deine Sammlung erwirbst, ergibt sich gewiss ab und zu ein Austausch mit den Menschen, die sich von ihren Puppen trennen. Sammelst Du auch die privaten Geschichten der Vorbesitzerinnen zu den Puppen, die Du übernimmst? Falls ja: (Wie) Dokumentierst Du diese? Kannst Du hier eine Geschichte mit uns teilen?
JL: Vor zwei Jahren wurde ich angefragt, ob ich Interesse hätte, eine alte Puppe
zu erwerben. Kurz darauf war ich in der Wohnung der alten Dame. Sie erklärte
mir, das seien die Puppen ihrer Zwillingsschwester. Sie erzählte, dass sie sich
seit deren Tod nur noch als halbe Person sehe. Ich bekam zu den Puppen ein Foto
ihrer Schwester, Taufkleidung, Babyrassel und Erstkommunionssachen dazu.
Das Besondere an dieser Wohnung, die beiden Schwestern gehörte, war es, dass
alles doppelt vorhanden war, zum Beispiel zwei Kaffeehäferl vom gleichen Sujet,
das Gewand, alles doppelt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das muss man gesehen haben, sonst glaubt man es nicht. Sie trugen stets die gleiche Kleidung
und in der Wohnung selbst standen sogar zwei Konzertflügel. Im Jänner 2021
starb die andere Zwillingsschwester und ich erhalte ihre Sachen und den ganzen
Schriftverkehr der Familie. Darunter befindet sich der Gründer der ersten Galerie
in Graz, Hans Riehl. Ich durfte den kompletten Briefwechsel der Familie Riehl
mitnehmen und habe die schriftliche Erlaubnis für die Veröffentlichung.
Somit hab‘ ich eine ganze Familiengeschichte erhalten, welche ich auch veröffentlichen
darf. Jede Puppe, die den Weg durch den Besitzer oder Erben ins
Museum findet, hat ihre Geschichte. Viele davon gehen unter die Haut und bezeugen
eine innige Bindung, wurden sie doch zu Kriegszeiten geschützt und gut
aufbewahrt.
BME: Neben dem Sammeln und Forschen sind ja auch das Ausstellen und Vermitteln
wesentliche Elemente Deiner Arbeit als Museumsdirektorin. In Deiner
Masterarbeit beziehst Du Dich u. a. auf Krzysztof Pomians semiotische Semiophorenlehre
(1998), gemäß deren Museumsobjekte zur Verweisobjekten werden.
Dich interessiert aber auch die persönliche Bedeutung, die die Puppen für ihre
Besitzerinnen hatten und haben. Inwiefern wirkt sich dieses Spannungsfeld von
Verweisobjekt und persönlichem Gebrauchsgegenstand auf Dein Präsentationskonzept
aus?
Du besuchst auch andere Puppenmuseen, Würdest Du sagen, dass es so
etwas wie eine objektspezifische Präsentationsweise für Puppen gibt?
JL: Eigentlich werden die persönlichen Geschichten, die immer einzigartig sind,
nie in Ausstellungen thematisiert bzw. bis dato vernachlässigt. Objektspezifisch
werden die Puppen nur allgemein behandelt. Es werden Hersteller, Preis, Herkunft
thematisiert – und selbst da geht es um den Erzeugungsort und nicht um
den (Vor-)Besitzer. Nur in den allerwenigsten Fällen erfährt der neue Besitzer,
was es mit der Puppe auf sich hat. Dabei sind die Geschichten das Spezielle einer
Puppe, neben dem materiellen Wert. Eventuell steht ein Schild mit dem Namen
der Leihgeberin bzw. Schenkerin daneben. Das war es meist schon. Bei mir im
Museum werden zukünftig die Puppen mit der persönlichen Bedeutung verknüpft,
bzw. wird der Versuch unternommen, die Geschichte als Text oder in Audioformat,
bestenfalls von der ehemaligen Besitzerin per Video aufgenommen,
nahe beim Exponat zu positionieren.
Die Puppe ist für ihren Besitzer ein wertvoller
Schatz. Für die meisten Erben jedoch bedeutungslos,
gibt sie doch die Geheimisse nicht Preis. Jede Puppe,
welche 100 Jahre überlebt hat, wurde beschützt.
Abbildung 3: Babypuppe im Krankenhaus-Miniaturprojekt; Foto: privat © Sammlung Lehner
BME: Würdest Du ein Objekt präsentieren, dessen Erhaltungszustand nicht ganz Deinen Ansprüchen an Repräsentativität entspricht, wenn die persönliche Geschichte hinter dem Objekt exzeptionell ist?
JL: Definitiv ja!
BME: Eine Besonderheit Deines Museums ist, dass Du auch Objekte für die Sammlung in Auftrag gibst und hierfür mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitest. Magst Du an dieser Stelle von einem solchen Projekt berichten?
JL: Im Moment mache ich mit mehreren Minaturist:innen ein Krankenhaus gemeinsam. An diesem Projekt arbeiten Künstlerinnen und Künstlern aus Deutschland, Schweiz, Japan und Österreich. Am Tag der geplanten Eröffnung (April 2024) werden es dann acht Jahre sein. Es wird ein großes Krankenhaus mit sämtlichen Abteilungen. Es wird den Spitalsalltag aus dem Zeitraum um 1960–1970 wiederspiegeln. Im Prinzip eine besondere Herausforderung, auch innenarchitektonisch, z. B. der Aufzug, Röntgenzimmer usw. Die Betten, Inkubatoren werden aus Weißblech gefertigt. Die Babys sind aus Porzellan, von einer Künstlerin von Hand gefertigt. Sogar die Strampelhosen sind handgestrickt. Wichtig ist, dass der Ablauf stimmt und der Krankenhausalltag harmonisch ablaufen kann. Das heißt, dass der Kreißsaal neben der Neonatologie und der Neugeborenenstation ist. Die Zimmer der Wöchnerinnen sind auf dem gleichen Stockwerk usw. Der Zahnarzt ist neben der Eingangshalle und die Küche ist im Erdgeschoss usw. Das Ganze ist im Maßstab 1:12 ausgeführt.
Abbildung 4: Neugeborenen-Station im Krankenhaus-Miniaturprojekt; Foto: privat © Sammlung Lehner
BME: Du hast Dich in Deiner Masterarbeit auch mit Nina Simons „The Participatory
Museum“ (2010) auseinandergesetzt und daraufhin ein neues Vermittlungskonzept
für Deine Sammlung entwickelt – auch mit Hinblick des Umzugs
der Objekte auf die Burg Kranichberg.
Wie ich mitbekommen habe, führst Du ja auch leidenschaftlich gerne selbst
durch die Ausstellung und suchst den Dialog mit den Museumsbesucher:innen.
Wie beziehst Du dabei deren individuelle Puppenerfahrungen mit ein? Was sind
generell wichtige Eckpfeiler für Dich in der puppenspezifischen partizipativen
Vermittlungsarbeit?
JL: Anfangs habe ich versucht, möglichst viel Wissen zu vermitteln, z. B. über Produktion, Puppenmacher, Material usw. Das habe ich mittlerweile stark reduziert. Ich stelle mich als Sammlerin vor und erkläre die Art, wie ich sammle bzw. wie die Objekte den Weg in die Ausstellung finden. Im Anschluss fordere ich die Besucher auf, Fragen zu stellen. Automatisch werden von den Besuchern Geschichten erzählt und wenn es sich um ganz besondere Erlebnisse handelt, frage ich, ob ich diese in meinem Buch veröffentlichen darf. Dazu ist es dann nötig, in Ruhe noch einmal mit dem Besucher das Erlebnis zu reflektieren.
BME: Was reizt Dich als nächstes Forschungs- und Ausstellungsprojekt?
JL: Zum Beispiel möchte ich einen Raum einrichten indem Besucher und Miniaturisten eine Puppenhausstadt selbst bauen und einrichten. Das Ganze hat zum Thema: „Der Mörder ist unter uns“. Es wird ein Mordfall nachgestellt. Per Audio können die Puppenhauspuppen ihre Geschichte bzw. Sichtweisen erzählen. Es sollen verschiedene Schwierigkeitsstufen zur Verfügung stehen. Das Spiel soll auch einzeln gebucht werden können. Es wäre denkbar für eine Geburtstagsfeier, Polterabend oder für Familien. Das Interagieren mit Freunden und das gemeinsame Suchen des Mörders ist ein Versuch, das Puppenhausmuseum unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Weg vom reinen Ausstellen der Objekte zur aktiven Freizeitgestaltung mit Freunden.
BME: Wenn jemand über Dich als forschende Puppensammlerin und Museumsdirektorin eine Biographie schreiben würde: Was wäre Dein Wunschtitel hierfür?
JL: Die Hüterin der Puppen. So fühle ich mich manchmal, wenn so ein kleiner Schatz vom Staub befreit werden muss.
BME: Vielen Dank für das Gespräch! Ich freue mich schon darauf, Dich und das neue Museum zu besuchen.
JL: Ich freue mich auch sehr, wenn ich wieder mit meinen Besucherinnen und Besuchern durch die Ausstellung gehen kann und meine Puppen wiedersehe. Bis bald!
Ashley, Brooke (2019). Dare Wright and the Lonely Doll. A Biography. Santa Barbara: Dare Wright Media.
Nathan, Jean (2004). The Secret Life of the Lonely Doll. The Search for Dare Wright. New York: Henry Holt and Co.
Pomian, Krzysztof (1998). Der Ursprung des Museums vom Sammeln. Berlin: Wagenbach.
Simon, Nina (2010). The Participatory Museum. Santa Cruz: Museum 2.0.
Wright, Dare (1957). The Lonely Doll. New York: Doubleday.
Abbildung 1: Julia Lehners Jumeau-Puppe aus dem Jahr 1880; Foto: Julia Lehner © Sammlung Lehner
Abbildung 2: Die zukünftige Sammlerin Julia Lehner im Kreise ihrer Puppen, 1976;Foto: privat © Sammlung Lehner
Abbildung 3: Babypuppe im Krankenhaus-Miniaturprojekt; Foto: privat © Sammlung Lehner
Abbildung 4: Neugeborenen-Station im Krankenhaus-Miniaturprojekt; Foto: privat © Sammlung Lehner
Dr. phil. in Kunstgeschichte mit den Schwerpunkten Comicforschung, Ausstellungstheorie und -praxis; wichtige außeruniversitäre Stationen: San Francisco Museum of Modern Art und Vitra Design Museum in Weil am Rhein; gemeinsam mit Anja Grebe Entwicklung des MA-Lehrgangs Collection Studies and Management an der Donau-Universität-Krems und Leitung bis zum Wechsel an das Institut für Kunst und Bildung der Kunstuniversität Linz im Februar 2019.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
barbara-margarethe.eggert@ufg.at
M. A. in Collection Studies and Management, Studium aktuell MBA in Tourismus; Gründerin und Direktorin des Puppenhaus Museums in St. Thomas am Blasenstein (Niederösterreich), wo sie seit 2010 ihre eigene Sammlung präsentiert; zur Zeit widmet sie sich mit ihrer Familie der Wiederherstellung der Bausubstanz der Burg Kranichberg, wo neue Ausstellungsräume für die Sammlung Lehner entstehen und das Spielzeugmuseum auf Burg Kranichberg entstehen wird.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
julia.lehner@hitag.ch