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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus


Puppen in Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meister-Komplex und Thomas Manns Buddenbrooks im Spannungsverhältnis zwischen Bürger- und Künstlertum

Franziska Willbold



Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance



Abstract:
Das Puppentheater stellt ein verbreitetes, wenngleich wenig erforschtes Motiv im Bildungsroman dar. Das gilt auch für die Funktion des Puppentheaters innerhalb der Diegese. Gemäß der Lesart des vorliegenden Beitrags wird dem Puppentheater innerhalb der Diegese jedoch eine determinierende Wirkung zugeschrieben und sein sinnstiftender Charakter wird näher beleuchtet. Hierzu werden Fragen nach der Einführung des Puppen- und Puppentheater-Motivs im Roman gestellt, nach Parallelen zwischen den exemplarischen Werken, nach reziproken Verhältnissen – auch zur Lebenswelt der jeweiligen Autoren, Johann Wolfgang Goethe und Thomas Mann – sowie nach Beschaffenheit der Puppen und deren metaphorischer Bedeutung für den Romankontext.

Schlüsselwörter: Puppenmotiv; Puppentheater; Marionetten; Determination; Diegese; Kindheitserfahrungen

Zitationsvorschlag: WILLBOLD, F. Puppen in Johann Wolfgang Goethes »Wilhelm Meister«-Komplex und Thomas Manns »Buddenbrooks« im Spannungsverhältnis zwischen Bürger- und Künstlertum. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 42–51, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/105

Copyright: Franziska Willbold. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992

Veröffentlicht am: 16.09.2021

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Zur Funktion der Puppe innerhalb der Diegese – Die Kunst als Lösung bei Kleist, Goethe und Mann

Das Puppentheater wird im vorliegenden Beitrag als Modus ästhetischer Erfahrung innerhalb der Diegese dargestellt. Um in Erfahrung zu bringen, welche Funktion dem Puppenspiel hier zugeschrieben werden kann, wird zunächst an Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater angeknüpft, der als Basis der darauffolgenden Überlegungen zur intradiegetischen Verwendung des Puppentheaters bei Johann Wolfgang Goethe und Thomas Mann dient. Hier stellt sich folgende Frage: Welche Funktion nehmen das Puppentheater und die Puppen – seien sie leichtfüßige, bewegliche Marionetten, wie Goethe sie beschreibt, oder fadenlose, statische Puppen, wie sie in Buddenbrooks auftreten – im jeweiligen Text ein? Antworten auf diese Frage finden sich, rückt man den in Goethes Meister-Komplex1 angedachten Konflikt zwischen Ich und Welt, zwischen Künstler und Bürger, der in Manns Buddenbrooks kulminiert, ins Zentrum der Untersuchungen zur Funktion von Puppe und Puppentheater.

Spätestens seit Goethes Meister-Komplex avancierte das Puppentheater als Modus ästhetischer Erfahrung in der Diegese eines Romans zu einem zentralen Motiv innerhalb der aufkommenden Gattung des Bildungsromans. Bevor nun die Texte Goethes und Manns hinsichtlich der Puppenthematik untersucht werden können, ist es nötig, die hier zugrunde gelegte Denkstruktur zu erläutern, die wiederum aus Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater stammt. Die Gliederpuppe in Menschengestalt ist darin mit Attributen ausgestattet, welche der nachparadiesisch unzulängliche Mensch im Diesseits nicht selbst herzustellen in der Lage ist. Durch das Spiel der Puppe jedoch, dadurch also, „dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt“ (Kleist 1990, 557) und dem eigentlich leblosen Ding damit zu graziös anmutigen und antigraven Bewegungen verhilft, ist er in der Lage, über das Medium der Puppe paradiesische Zustände im Diesseits herzustellen und damit, in einer Art jenseitiger Vorschau, zwei eigentlich unvereinbare Pole zu vereinen. Die nach Kleist ungezierte und antigrave Marionette sei also hier als Medium der Kunstausübung verstanden, was sie gleichzeitig im Zentrum des Konflikts zwischen Künstler und Bürger verortet, welcher sich wiederum aus einer der Paradiesproblematik ähnlichen vermeintlichen Unvereinbarkeit seiner beiden Pole ergibt (vgl. Kleist 1990, 559). Welche Funktion wird nun dem Puppentheater als neuem, sinnstiftenden Schwerpunkt und Mittel zur Lösung dieses Unvereinbarkeitsphänomens innerhalb der Diegese zugeschrieben?
Um die Bedeutung dieser Konfliktsituation der Unvereinbarkeit für die hier angestellten Überlegungen zu verdeutlichen, sind zunächst die genannten Pole zu definieren. Wie also ist der Kunstbegriff in Goethes Meister-Komplex zu verstehen? Im Ur-Meister wird selbiger am Verhältnis des Protagonisten zur Kunst festgemacht. Wilhelm, der aus bürgerlichen Verhältnissen stammt, findet einen ersten Weg aus der eingeschränkten bürgerlichen Existenz seiner Herkunftsfamilie bereits zu Kindertagen mit der Flucht ins Puppentheater, darin er einen Raum „voller Hoffnungen, Drang und Ahndung“ (Goethe, Sendung 1992, 15), voller Ausblick auf eine Freiheit außerhalb der Schranken des Bürgertums erwartet. Angetrieben von der initialen Puppentheatererfahrung und dem Gefühl, welches diese in ihm auslöst, entsagt er bewusst seiner merkantil ausgerichteten Herkunft und entschließt sich – vorerst – für ein Leben „auf dem Theater“ (Goethe, Lehrjahre 1992, 659). Die erzählte Gesellschaft weist hier eine Grenze zwischen Bürgertum und Künstlertum auf, welche bewusst überwunden werden muss, will man von der einen Sphäre in die andere wechseln, was Wilhelm allerdings nie gänzlich gelingt. Nun geht Goethe in den Lehrjahren noch ein Stück weiter, indem er Wilhelm einen Bildungsbrief an seinen Freund und späteren Schwager Werner formulieren lässt, der sein Lebensziel in Korrespondenz zur Problematik zwischen Bürgertum, Adel und Künstlertum beleuchtet. Hier heißt es:

Daß ich dir’s mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. […] Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein Bürger bin, so muß ich einen eigenen Weg nehmen, […]. Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will (Goethe, Lehrjahre 1992, 657).

Wilhelm kritisiert die Diskrepanz zwischen den gesellschaftlich definierten Möglichkeiten von Edelmann und Bürger. Der Edelmann steht über den Grenzen, während der Bürger, der „nicht fragen [darf]: was bist du? sondern nur: was hast du?“, von der „Grenzlinie[,] die ihm gezogen ist“ limitiert wird (658f.). Der Edelmann definiert sich folglich über die Darstellung seiner Persönlichkeit, dem Bürger dagegen ist diese Möglichkeit versagt. Die Essenz des Unterschiedes wird in Wilhelms Bildungsbrief folgendermaßen zusammengefasst: „Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; […]“ (ebd.).
Die Schuld für diese Diskrepanz schreibt Wilhelm der „Verfassung der Gesellschaft selbst“ zu, lehnt es jedoch ab, dagegen vorzugehen, denn er „ha[t] […] an [s]ich selbst zu denken, und wie [er sich] selbst und das was [ihm] ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette[t] und erreich[t]“ (659). Die Lösung für seine eigene Zerrissenheit – zwischen bürgerlicher Herkunft und angestrebten, jedoch dem Edelmann vorbehaltenen Möglichkeiten – vermutet Wilhelm also „nur auf dem Theater zu finden“, dem „einzigen Elemente, [in dem er sich] nach Wunsch rühren und ausbilden kann“ (ebd.), dem einzigen Raum, der ihm die Option zu geben scheint, die Grenze zwischen künstlerischer und bürgerlich merkantiler Sphäre, welche es zu überwinden gilt, will man das Leben eines autonomen Individuums führen, zu überschreiten. Die Kunst, die Kunstausübung, genauer das Puppenspiel, wird zur Lösung des elementaren Problems autonomer Ich-Findung. Sich selbst finden im Darstellen anderer – der ästhetische Modus des als ob ermöglicht Wilhelm so das Verlassen der gesellschaftlichen und persönlichen Grenzen seiner bürgerlichen Herkunft und stellt den ihm einzig möglichen Weg zur Selbstverwirklichung dar. Durch die Imagination anderer Individuen auf dem Theater, initiativ also durch das Medium der an Fäden geführten Puppe, gelingt es Wilhelm, nach und nach seine eigene Identität zu definieren. Die Puppe dient hier als Mittel zur stückweisen Entdeckung der eigenen Substanz und zwar allein im Modus des als ob. Wilhelms Bildungsvorstellung ist folglich eng mit dem Theater verbunden, mit einer Welt also, die weit weg von einer speziellen Natur ist, die allein jedoch jenen Raum bietet, darin er die ihm eigene Natur ausüben kann. Dies weist auf den Kultivierungsprozess hin, den Wilhelm im Verlauf des Romans durchleben wird und der gleichzeitig sein Lebensziel in der Selbstverwirklichung definiert. Die Essenz des Romans ist nun in dieser Folge als Charakterisierung der eigenen Rolle in der Welt zu verstehen, als die Konzentration auf die eigene Lebensmöglichkeit in Abgrenzung zu anderen. Die Kunst – und hier speziell das initiative Moment der Puppentheatererfahrung – eröffnet Wilhelm damit den Weg zu autonomer Ich-Findung, indem sie ein Dasein außerhalb der Grenzen der objektivierten Funktionen des Bürgers und des Edelmanns bietet. Es geht hier jedoch nicht um ein Gleichstellen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, sondern um das Ausloten der Konventionen, also um das selbstbestimmte Einordnen in jene Schicht, die zu – hier Wilhelms – Identifikation beiträgt, beziehungsweise den Raum dafür bietet (vgl. Koopmann 1997, 12f.). Gemeint ist jener transzendentale Raum, der es möglich macht, in der Darstellung des Fremden das Eigene zu finden. So befähigt Goethe Wilhelm also im Ausüben des Puppenspiels zu etwas, was ihm zwischen den Erwartungen und Zwängen der bürgerlichen Sphäre seiner Herkunft nicht würde gelingen.

Dass Thomas Mann sich in der Nachfolge Goethes sieht, ist hinlänglich bekannt. Belege hierfür finden sich beispielsweise darin, dass Mann genuine Goethe-Stoffe nicht allein prominent in seinen Texten Doktor Faustus und Lotte in Weimar verarbeitet – ersterer lehnt sich freilich an Goethes Faust letzterer an Charlotte Buff, dem realen Vorbild für die Figur der Lotte aus Die Leiden des jungen Werthers an –, sondern auch in zahlreichen Essays. So ist es nicht verwunderlich, dass sich hinsichtlich der Puppentheaterthematik ebenfalls Parallelen im Werk Goethes und Manns erkennen lassen. Dies soll im Folgenden anhand Thomas Manns Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie beleuchtet werden. Entsprechend der Überlegungen zu Goethes Protagonisten Wilhelm Meister soll auch hier knapp der Konflikt zwischen Künstler und Bürger angesprochen werden, darin auch die intradiegetische Puppe verortet ist.
Wie Goethes Wilhelm Meister, findet sich auch das buddenbrooksche Romanpersonal in einer Konfliktsituation zwischen Ich und Welt, zwischen Künstler und Bürger wieder. Erschwerend hinzu kommt in diesem Kontext die enge Verknüpfung dessen mit dem sich über vier Generationen erstreckenden Verfallsprozess der Familie. Zentral ist, dass die Kunst in Buddenbrooks den Antipart zum geordneten Bürgertum einnimmt. Wie bei Goethe ist der Künstler nicht Teil der bürgerlichen Gesellschaft, sondern stellt vielmehr den problematischen „exklusiven Außenseiter[]“ dar (Ohl 1995, 92). Mann steigert also den im Meister-Komplex angedachten Konflikt und verneint darüber hinaus das Überschreiten der Grenzen zwischen den beiden Polen. So gelten Kunst und Künstler im bürgerlich kaufmännischen Verständnis der ersten erzählten Buddenbrooksgeneration als trivial, als lachhaft; für die letzte erzählte Generation in Form des lebensunfähigen Hanno jedoch, definiert sich deren Rolle erst Stück für Stück als essenziell für das Dasein und gleichzeitig katalysierend im Verfallsprozess. Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Johann Buddenbrook die Auffassung vertritt, das Theatrale, das Erheiternde, die Kunst befände sich außerhalb eines ernstzunehmenden Bedeutungshorizontes – jedenfalls, solange es sich bei dem Ausübenden um einen Buddenbrook handelt. Zwar wird als Zeichen des erreichten familiären Status, als Zeichen des Emporgekommen-Seins der Familie, regelmäßig Jean Jacques Hoffstede, „der Poet der Stadt“ (Mann 2002, 17), eingeladen, doch wird stets darauf hingewiesen, dass die Kunst hier die Funktion eines aus dem Bürgerlichen entgrenzten Statussymbols übernimmt. Hoffstede, beinahe einem Hofnarren, einer von bürgerlichen Fäden geführten Kasperfigur ähnlich, übernimmt diese Funktion noch unreflektiert und erfüllt somit die Ansprüche der großbürgerlichen Buddenbrooksgeneration an die Kunst, welche vor allem die Repräsentation des wirtschaftlichen Aufstiegs der Firma, respektive der Familie betreffen (vgl. Obermayer 1988, 269f.).
Im Gegensatz zum noch unbeirrten bürgerlichen Selbstverständnis Johanns, wird sein Sohn Konsul Jean Buddenbrook, als Vertreter der ersten abwärts gerichteten Stufe des Verfallsprozesses, „mit seiner schwärmerischen Liebe zu Gott und dem Gekreuzigten“ als der „erste seines Geschlechts […], der unalltägliche, unbürgerliche und differenzierte Gefühle gekannt und gepflegt hatte“ beschrieben (Mann 2002, 283). Vor diesen als erste Verfallserscheinung zu deutenden unbürgerlichen Gefühlen Jeans „[schrecken] seine beiden Söhne [jedoch] empfindlich zurück[]“. So wehrt sich Thomas am Grab des Vaters starr dagegen „in die Kniee zu sinken“, um sich bewusst und gegen seine innere Veranlagung in der Sphäre des Bürgers zu verorten (ebd.). Er weigert sich, die Sensibilisierung der Buddenbrooks anzuerkennen, die den Verfall, gegen den er anzukämpfen versucht, vorantreibt sowie gegen seine innere Neigung zur Beschäftigung mit der Ästhetik. Damit lenkt er gleichzeitig den Blick auf die Verbindung zwischen emotional-sensibler Innerlichkeit und der Kunst als Medium zur Äußerung derselben (vgl. Keller 1988, 169). Der jüngere Bruder Christian dagegen, weil er einerseits aufgrund einer langen räumlichen Abwesenheit, andererseits wegen seiner theaterinduzierten Unfähigkeit zu kaufmännischen Berufen von der Familie entgrenzt ist, scheut sich nicht vor der künstlerischen Sphäre. Er strebt vielmehr genau zu ihr, definiert das Theater seit seiner initialen Puppentheatererfahrung in Kindertagen als Sehnsuchtsraum. Sogar der Tod des Vaters wird von Christian, der „keine Thräne“ darüber vergießt, zu einem Schauspiel funktionalisiert, indem er seine Schwester Tony „immer wieder [bittet], die Vorgänge jenes fürchterlichen Sterbenachmittages […] recht anschaulich und im Einzelnen [zu] erzählen […]“ (Mann 2002, 284). Der Prozess des kaufmännischen Verfalls und die gleichzeitig damit einhergehende Sensibilisierung der Buddenbrooks finden ihren Höhepunkt in Thomas‘ Sohn, dem lebensunfähigen Hanno. Die Robustheit, die noch dessen kunstfernen Urgroßvater auszeichnet, fehlt dem hoffnungsvoll erwarteten und zwischen Künstlertum und Bürgertum zerrissenen Hanno gänzlich. An ihrer statt tritt das Mitleid als jene moralische Qualität, die mit Nietzsche als deutliches Kennzeichen der Dekadenz gilt (vgl. Keller 1988, 170).
Die zunehmende Bedeutung der mit einer Innerlichkeit verbundenen Kunst für die Mitglieder des buddenbrookschen Familiengefüges steht folglich in einem reziproken Verhältnis zu der zunehmenden Unfähigkeit für die Anforderungen der bürgerlich kaufmännischen Sphäre. Im Spannungsverhältnis von Bürgerund Künstlertum wird die Kunst in Buddenbrooks zum Symptom, zum Resultat und zur Begründung des unaufhaltbaren Verfalls. Im pietistisch geprägten Jean keimt, was dessen Kinder Thomas, Christian und Tony zum einen in deren geschwisterlicher Einheit, zum anderen im jeweils eigenen Empfinden spaltet und seinem Enkel Hanno schließlich die Lebensfähigkeit nimmt: das mit Verfall und Sensibilisierung einhergehende Bedürfnis zur Selbstwahrnehmung, zum Erkennen und Ausleben einer Individualität abseits vom genealogischen Geflecht, eng verknüpft mit dem Wunsch nach einer Selbstdarstellung mittels der Kunst und stets induziert von der ersten Puppentheatererfahrung in Kindertagen. Es ist Zeichen eines allmählichen Aufkommens des modernen Individuums und steht im Spannungsverhältnis zur Konvention der gesellschaftlich ausgrenzenden Haltung gegenüber dem Ich. Das den Künstler-Narren abweisende bürgerliche Regelsystem wird in Buddenbrooks nach und nach in Frage gestellt; besonders zeigt sich dies in der Rolle Christians, der sich, gebildet durch Erfahrungen in der Ferne, von den leer gewordenen Konventionen des merkantilen Bürgertums löst und damit befreit (vgl. Greiner 2014, 245f.).
Die Kunst als Lösung – diese These findet sich also bei Goethes Meister-Komplex als Mittel zur autonomen Bildung Wilhelms sowie in Manns Buddenbrooks in Form des komplexen Gegenparts zur merkantilen Gesellschaftsordnung und damit als Weg zum modernen Individuum. Doch inwiefern ist dieser Ansatz nun von der allen aufgeführten Texten innewohnenden Puppentheaterthematik beeinflusst bzw. inwiefern hängt er mit den Puppen, ihrer Materialität und Funktion zusammen? Dies soll im weiteren Verlauf des vorliegenden Beitrags aufgezeigt werden.

„Kinder müssen Komödien haben und Puppen“2 – zur Puppe bei Goethe

Die Überlegungen zur determinierenden Wirkung des Puppentheaters setzen ein in Dichtung und Wahrheit, mit Goethes Schilderung seiner selbst erlebten Puppentheatererfahrung also, werden von ihm mit dem Meister-Komplex in die Diegese tradiert und von Thomas Mann aufgrund seiner Goethe-Affinität in Buddenbrooks weiterverarbeitet. Dass es sich bei Goethe um eine, wenn nicht die prägende Erfahrung handelt, deutet sich in folgender Textpassage aus Dichtung und Wahrheit an:

An einem Weihnachtsabende jedoch setzte [die Großmutter] allen ihren Wohltaten die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ, und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemüter mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große langdauernde Wirkung nachklang (Goethe, Dichtung und Wahrheit 1986, 20).

Weiterhin schildert er im zweiten Buch von Dichtung und Wahrheit, dass man später – wegen drohender politischer Unruhen – die „Kinder mehr als bisher zu Hause [hielt]“ (56) und sie erneut mit dem Puppentheater beschäftigte:

Zu solchem Ende hatte man das von der Großmutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt, und zwar dergestalt eingerichtet, daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und dirigierenden Personen aber, so wie das Theater selbst vom Proscenium an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden. […] Ob wir uns nun gleich durch diese Anmaßung dasjenige was wir wirklich hätten leisten können, verkümmerten und zuletzt gar zerstörten; so hat doch diese kindliche Unterhaltung und Beschäftigung auf sehr mannigfaltige Weise bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege, in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können (56f.).

Dieser frühen Puppentheatererfahrung misst Goethe folglich großen Einfluss auf sein späteres Schaffen bei, welcher sich nicht allein im Neueröffneten moralisch-politischen Puppenspiel (Goethe 1774)3, einem vernachlässigten und kaum erschlossenen Werk Goethes, widerspiegelt, sondern auch in autobiographischen Reminiszenzen, besonders im hier zentralen Meister-Komplex (vgl. Stellmacher 2001, 13). Im Hinblick auf die Korrelation von biographischem und literarischem Schreiben werden im Werk Goethes nun „die leichten Drähte“ gewissermaßen im Motiv des Puppentheaters ineinander „verwirrt []“ (Goethe, Lehrjahre 1992, 371).
Noch im Ur-Meister lässt die Schilderung der weihnachtlichen Puppentheatererfahrung deutliche Parallelen zu Dichtung und Wahrheit erkennen, welche Goethe jedoch in den daraus entstandenen Lehrjahren zu einem grundlegenden Unterschied umformt und diesen gleichzeitig mit der Rolle des Vaters verknüpft. Noch in der Sendung wird ausführlich beschrieben, wie Benedikt Meister, „[Bürger und Handelsmann zu M–], einige Tage vor dem Christabend“ seine Mutter besucht, während diese in die Vorbereitungen für das anstehende Weihnachtsfest „mit Wegräumen und Zudecken beschäftigt“ ist, schließlich aber den Vorhang aus „Servietten“ und einem „Pelzmantel“ lüftet und ihrem Sohn

so eine Anzahl spannenlanger, artig gekleideter Puppen [entdeckt], die in schöner Ordnung, die beweglichen Drähte an den Köpfen befestigt neben einander lagen, und nur den Geist zu erwarten schienen, der sie aus ihrer Untätigkeit regen sollte (Goethe, Sendung 1992, 12).

Zwar zweifelt Benedikt noch an Sinn und Notwendigkeit der Puppen für seine Kinder, doch wehrt seine Mutter diese Kritik rundherum ab, indem sie das Puppentheater an sich und die Bedeutung desselben für Kinder in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellt:

[…], ich habe ihnen Puppen geputzt, und habe ihnen eine Komödie zurechte gemacht, Kinder müssen Komödien haben und Puppen. Es war euch auch in eurer Jugend so, ihr habt mich um manchen Batzen gebracht um den Doktor Faust und das Mohren Ballett zu sehen, ich weiß nun nicht was ihr mit euern Kindern wollt, und warum ihnen nicht so gut werden soll wie euch (ebd.).

Konfrontiert mit der Erinnerung an die Puppentheatererfahrung seiner Kindheit, lässt der alte Meister von weiteren Zweifeln und Kritik ab, dagegen verliert er sich zeitweilig im Vorstellen der Marionettenfiguren durch seine Mutter, zeigt zunächst ein beinahe kindliches Interesse und kann sich, als er sich verabschiedet, nicht sofort von den Puppen lösen. Hier wird einerseits auf die tiefe und anhaltende Wirkung des in der Kindheit erfahrenen Puppentheaters auf den alten Meister, andererseits auch auf den typischen und oftmals zur didaktischen Unterhaltung herangezogenen Marionettentheaterstoff aus Schwänken, Märchen oder Volksstücken wie Doktor Faust oder Hanswurst-Komödien angespielt (vgl. Lutz 2004, 348f.). Unter Zuhilfenahme der zentralen ersten Begegnung Wilhelms mit dem Puppentheater verknüpft Goethe nun Dichtung und Wahrheit mit dem Meister-Stoff, indem er mithilfe desselben nicht allein räumlich, sondern für Wilhelm vielmehr identitätsstiftend eine Lücke folgendermaßen schließt:

Eine Tür, die aus einem Nebenzimmer herein ging, öffnete [sich], allein, nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen, der Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgefüllt, ein grüner Teppich der über einem Tisch herabhing bedeckte fest angeschlossen den untern Teil der Öffnung, von da auf baute sich ein Portal in die Höhe das mit einem mystischen Vorhang verschlossen war […] (Goethe, Sendung 1992, 14).

Das Puppentheater füllt also – als Reminiszenz an die eigene, in Dichtung und Wahrheit geschilderte Erfahrung Goethes – die räumliche Lücke zwischen den Türrahmen sowie gleichzeitig eine Lücke in Wilhelms Innerem, deren Existenz ihm jedoch erst am nächsten Tag deutlich wird, als das Theater abgebaut ist und er „allein [] hin und her [schleicht] als wenn er eine verlorne Liebe suchte, als wenn er’s fast unmöglich glaubte, daß da nur zwei Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei gewesen war“ (16). Auf Wilhelm, der sich noch am Christabend nicht wie die anderen „vergackelt[en]“ Kinder allein vom „mystischen“ Schein des Theaters anlocken lässt, sondern zunächst „in ehrerbietiger Entfernung stehen [bleibt]“, sich dann vorsichtig nähert, hat das Puppentheater eine tiefe Wirkung, die ihn „in eine Nachdenklichkeit“ stürzt mit welcher er später „allein, dunkel über das Vergangene nachdenkend, […] voller Hoffnungen, Drang und Ahnung“ im Bett zurückbleibt, während die übrige Gesellschaft dagegen ob dieser Erfahrung „wie betrunken taumel[t]“ (14f.). In Wilhelms ambivalenter Reaktion auf die wunderbar beseelten Puppen jedoch, scheint nun jener bereits erwähnte, langanhaltende und weitreichende Eindruck wieder, auf welchen – so zumindest schildert er es in Dichtung und Wahrheit – die weihnachtliche Begegnung mit den Puppen auf Goethe selbst machte.

Zwischen Tür und Angel – Puppen im buddenbrookschen Verfallsprozess

Bevor die populäre Szene des buddenbrookschen Weihnachtsfestes hinsichtlich des Puppentheaters und dessen Wirkung auf Hanno betrachtet wird, sei zunächst das Puppentheater seines Onkels Christian Buddenbrook genannt. Auch er bekommt in Kindertagen ein solches geschenkt. Allerdings nicht zu Weihnachten, sondern anlässlich der Geburt seiner jüngsten Schwester Clara. Diese Gabe wird auf einer Schwelle, buchstäblich zwischen Tür und Angel, überreicht, denn der Vater wartet bereits, um mit den Kindern in die Kirche zu gehen. Christian ist folglich, anders als später Hanno, keine direkte Bewunderung und Beschäftigung mit seinem Puppentheater vergönnt, nur einen kurzen Blick kann er hinter den „grünseidene[n]“ Vorhang werfen (Mann 2002, 64), der an den „grüne[n] Teppich“ (Goethe, Sendung 1992, 14) erinnert, welcher bei Wilhelm Meister die Maschinerie des Puppentheaters verbirgt. Dahinter erblickt er jedoch nicht die erhofften Geheimnisse, den Zauber des Theaters, sondern die Mutter mit der neugeborenen Schwester auf dem Arm – einen anderen Zauber also, welchen er jedoch nicht als solchen wahrnimmt. Aufgrund der ausbleibenden unmittelbaren Hingabe Christians an das Puppentheater bleibt hier nun „die Schwelle [] der Platz der Erwartung“ (Goethe, Lehrjahre 1992, 874). Wie prägend dies für Christian ist, zeigt sich nicht allein in dessen späterer Begeisterung für das Theater, das er zunächst im Alter von 14 Jahren besucht und das in der Folge für ihn zu einem Platz der Zerstreuung und der Liebesabenteuer wird (vgl. Obermayer 1988, 271). Auch bei jenem Weihnachtsfest, welches das Puppentheater für Hanno bereithält, wird sich Christians Neigung auf problematische Weise offenbaren.
Bevor das vielbesagte Weihnachtsgeschenk Hannos schließlich eingeführt wird, ist der Schwellenraum zwischen Säulenhalle, Landschaftszimmer und Saal von Hannos Erwartung erfüllt:

Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hatte, natürlich, denn das bekam man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden war. Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen […], dass ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel für Großmama stark unterstrichen zu Häupten gestanden hatte, und das […] beinahe sein einziger Gedanke gewesen war (Mann 2002, 586f.).

Das schmerzhafte Glück, welches Hanno in sich spürt, hat seinen Ursprung folglich nicht im Anlass dieses Zusammenkommens, nicht die religiöse Bedeutung des Heiligen Abends bewegt den Jungen, sondern die Erwartung seines ersehnten Puppentheaters, die Frage nach dessen Konstitution – Wird es „[g] roß und breit“ sein? War die „Dekoration zum „Fidelio“ gefunden“ worden? – sowie die Sehnsucht nach dem Augenblick, da er „sich irgendwo einschließen und ganz allein eine Vorstellung geben“ würde können (Mann 2002, 587). Hanno plant hier vor der Zeit, er „[lässt] die Figuren im Geiste singen“, noch bevor er sie überhaupt gesehen hat (Mann 2002, 587). Diese lebendige Vorstellung wird sich jedoch nicht erfüllen, denn die Puppen der Buddenbrooks bleiben – ebenso wie das Romanpersonal selbst – starr. Wo noch im Meister-Komplex an Fäden geführte, lebhafte Marionetten eingeführt werden, Wilhelms Inneres berühren und als Zeichen für den Wandel, für das autonome Grenzüberschreiten, gelesen werden können, verkörpern die Puppen Hannos unbewegte Ausblicke auf einzelne Standbilder. Kein belebter Zauber, der auf Entwicklung und Veränderung hinweisen könnte, sondern starre Momentaufnahmen ohne Bewegungspotential werden mittels der buddenbrookschen Puppen dargestellt. Die einzige Bewegung also, die Hannos erste Puppentheatererfahrung kennzeichnet, ist jene, die sich im Inneren des Jungen ausbreitet. Bewegung, Entwicklung, Wandel – Hannos Puppen sind metaphorischer Beweis für die Ausklammerung dieser Fähigkeiten aus dem Horizont der Buddenbrooks und demonstrieren so abermals die ausweglose Determination des buddenbrookschen Verfallsprozesses.
Auch ist die Puppentheatererfahrung Hannos ein einsamer Moment. Er findet sich bereits hier außerhalb des familialen Gefüges, einzig bedacht mit Aufmerksamkeit durch seinen Onkel Christian, der schon „mit seinen dünnen, gebogenen Beinen und seiner großen Nase“ ein wenig an eine Gliederpuppe erinnert (Mann 2002, 326): „[Christian] wusste nichts von diesem Erwachsenen-Hochmut, und seine Freude an dem Puppentheater […] unterschied sich gar nicht von der seines Neffen“ (592). Unverkennbar hat sich Christians Neigung zum Puppentheater seit Kindertagen gehalten, doch da er generationsbedingt noch in der partiarchal-bürgerlichen Kaufmannssphäre verwurzelt ist, verbleibt er in der Rolle des bürgerlichen Zuschauers. Im Bewusstsein dieser Tatsache, schlägt seine Begeisterung über das Christgeschenk des Neffen schnell in Gram um. Infolgedessen spricht er Hanno gegenüber folgende Warnung aus:

[…] Hör’ mal, Kind, laß dir raten, hänge deine Gedanken nur nicht zu sehr an solche Sachen… Theater… und sowas… Das taugt nichts, glaube deinem Onkel. Ich habe mich auch immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch nicht viel aus mir geworden (593).

Obwohl Christian sich der Problematik seiner Gesinnung offenkundig bewusst ist, wird im weiteren Verlauf schnell deutlich, dass das reine Erkennen derselben nichts an der im Inneren verwurzelten und durch unauslöschbare Jugendeindrücke initiierten Neigung ändern kann. Denn bei der „Betrachtung des Theaters [hellt sich] sein knochiges und verfallenes Gesicht [auf]“ (ebd.). Der Verfall, welcher sich in Christians Antlitz bereits abbildet, kann von der Kunst, die selbiges aufhellt, zwar nicht aufgehalten, jedoch zeitweise retardiert werden.
Für Hanno, der aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Folgegeneration bereits einen Schritt weiter im genealogischen Verfallsprozess ist, bleibt nun ein zentrales Bild anzuführen: jenes der verwirrten Fäden. Dass sich in dem Jungen zwei verschiedene Sphären verwirren, dass er – anders als seine statischen Puppen – einer Marionette gleich an Fäden hängt und gewissermaßen innerlich von deren unterschiedlicher Zugkraft und diametraler Zugrichtung zerrissen ist, wird im Verlauf des Romans mehrfach deutlich gemacht; exemplarisch ist auch hier auf das buddenbrooksche Weihnachtsfest hinzuweisen. Nachdem Hanno also die Schwelle der Erwartung übertreten hat, ist der eben noch von Vorfreude und Enthusiasmus bzgl. des Puppentheaters erfüllte Junge „vollständig verwirrt“, als er daneben ein Harmonium entdeckt (590). Nebeneinander stehen hier also die Symbole der beiden Pole, die an ihm zerren. Das statische Puppentheater steht, als Geschenk der Mutter seines Vaters und trotz seiner Nähe zur Kunst, für die festgefahrene väterliche Sphäre, das Harmonium wiederum steht für die mütterliche Sphäre der Violinistin Gerda. Die anfängliche Verwirrung des Jungen löst sich allerdings nicht in Freude über beide Geschenke auf, denn im „Überfluss des Glücks“ irrt er zwischen seinen Geschenken hin und her und weiß nicht, welchem er sich zuerst ausführlich hingeben soll (591). In Hanno vereinen sich folglich zwei unvereinbare Sphären, die aufgrund ihrer entgegengesetzten Ausrichtung eine innerliche Zerrissenheit verursachen. Die hier zitierte Szene unterstreicht erneut die Auswirkungen dieses ambivalenten Hin- und Hergerissen-Seins auf die Seele des Jungen. Schon vorher äußert sich die Ausweglosigkeit des Verfalls der buddenbrookschen Genealogie, der bereits seit Beginn des Romans unaufhaltsam fortschreitet und den Hanno mit einem „sauberen Doppelstrich“ unter die Chronik – geführt mit dem „halb aus Gold und halb aus Ebenholz“ gefertigten Federhalter der Mutter – vor der Zeit besiegelt (575). Der bei seiner Geburt noch als „ein kleines, unter Spitzen und Atlasschleifen verschwindendes Etwas“ beschriebene und als „Erbe! [] Stammhalter! [] Buddenbrook!“ instrumentalisierte Hoffnungsträger bringt damit nicht die gewünschte goldene Zukunft für das Haus, sondern dessen Untergang (435). Mit dem bilanzierenden Doppelstrich unter die Chronik und als erste genuin autonome Handlung durchtrennt Hanno die metaphorischen Marionettenfäden, welche ihn in die eine oder die andere Richtung ziehen, und beendet die genealogische Linie der Buddenbrooks noch vor seinem frühen Tod, weil er „glaubt[] [,…] es käme nichts mehr“ (576).
So übernimmt das weihnachtliche Puppentheater im buddenbrookschen Romangefüge die Funktion eines intratextuellen Mediums, darin die Erläuterung der Marionettenmetaphorik Hannos zu lesen ist: die statischen und fadenlosen Puppen in Abgrenzung zu den fadengeführten, antigraven Marionetten bei Goethe sind Sinnbild für die in alten Denkstrukturen feststeckenden Buddenbrooks, welche sich an Haus und Status klammern, ohne Auswege aus dem Verfallsprozess zu finden, ohne sich weiterzuentwickeln, ohne jedwede Bewegung. Darauf wird über den Romanverlauf hinweg nach und nach hingewiesen und darin definiert sich die scheinbar wirkungslose und doch weitreichende Funktion des Stammhalters im Verfallsgefüge der Familie.

Statt eines Fazits: „Jugendeindrücke verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen“ 4

Antrieb für Wilhelm, sich in die Welt des Puppentheaters zu flüchten, sind sowohl in der Sendung als auch in den Lehrjahren neben seinem Drang, sich selbst auszubilden, die dysfunktionalen Familienstrukturen in welchen er sich befindet. Zwar lassen die beiden Fassungen einen Wandel der Familienkonstellationen und -hierarchien der jeweiligen Zeit erkennen, doch einen Weg, die defekten Strukturen um Wilhelm zu reparieren, bieten weder Ur-Meister noch Lehrjahre. Der einzige Ausweg bleibt das Verlassen, der bewusste Austritt aus der, wegen Wilhelms Drang nach dem Theater als Ort zur Selbsterkenntnis, konfliktbeladenen Herkunftsfamilie. Noch in der Sendung wird – mit Kittler – von einer patrilinear-konjugalen Familie erzählt, in der sich jedoch schon der Wechsel zur matrilinear-sozialisierenden Familie andeutet, der in den Lehrjahren dann endgültig vollzogen wird (vgl. Kittler 1978, 20). Der familiäre Konflikt zwischen kunstnaher Mutter- und bürgerlicher Vatersphäre, der in den Lehrjahren bis zur Aussparung der Vaterfigur führt, sie also als Lücke über Wilhelms Sozialisationsprozess spannt und damit seine eigene Unfähigkeit bedingt, Beziehungen einzugehen sowie diese zu erhalten, kulminiert wiederum in Thomas Manns Buddenbrooks. Indem die Kunst und das Puppentheater für Wilhelm also einen ersten Ausweg aus der einschränkenden bürgerlichen Existenz seiner Herkunftsfamilie bieten, können bürgerliche und künstlerische Sphäre im Meister-Komplex noch parallel nebeneinander bestehen. Goethe nämlich lässt Wilhelm die Fäden zu seiner bürgerlichen Herkunftsfamilie nie gänzlich kappen.
Anders dagegen Hanno Buddenbrook, der sich der Unvereinbarkeit seines inneren Dranges und der an ihn gestellten Erwartungen schon in Kindertagen bewusst ist. Das Bild hierfür stellt die bereits erwähnte Beschaffenheit der jeweiligen Puppen dar. Wilhelms Puppen sind Marionetten, werden an Fäden geführt, sind in Bewegung – ebenso wie Wilhelm selbst. Dennoch sind beide – Wilhelm und die Puppen – mit ihren Fäden an einen Lenker geknüpft, der ihren Weg vorgibt, ihn aus eigener K raft zu verlassen, ist nicht möglich. So werden Puppen von Marionettenspielern, Wilhelm jedoch von seiner bürgerlich geprägten Sozialisation gelenkt. Das verleiht ihm zwar vermeintlich Autonomie und erlaubt ihm den Ausflug in die Welt der Kunst, nicht aber das vollkommene Abwenden von der Herkunftsfamilie und damit wirkliche autonome Ich-Findung. Hannos Puppen dagegen sind unbeweglich, sie sind starre Puppen ohne Fadenführung und damit gleichzusetzen mit dem in veralteten Denkstrukturen feststeckenden buddenbrookschen Romanpersonal. So ist letzteres, welches sich in der Requisite des neuen Hauses und zwischen den bildreichen Tapeten des Landschaftszimmers aufhält, genaugenommen als Puppen zu lesen – ebenso starr, ebenso wenig zu einer Entwicklung fähig und ebenso unangepasst an das sich stets weiterentwickelnde Umfeld, gelenkt vom ‚Haus‘, vom Geltungs- und Statusdrang nach außen hin, der sich über die Generationen hinweg erhält. Hier findet keine Trennung mehr zwischen patrilinear-konjugalen und matrilinear-sozialisierenden Familienstrukturen statt. In Hannos Umfeld sind beide angelegt, stellen ihre Anforderungen an den Jungen und zerren aus diametralen Richtungen an ihm. Die Kunst übernimmt hier den definierten Antipart zum geordneten Bürgertum, worin ein unvereinbarer Konflikt zwischen beiden begründet ist. Der Künstler ist nicht Teil der bürgerlichen Gesellschaft, existiert nicht in einer funktionierenden Parallelwelt, wie Goethe es noch andeutet, sondern stellt den problematischen Außenseiter dar.
„Jugendeindrücke“, so Goethe, „verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen“ (Goethe, Sendung 1992, 892) – was in Kindheit und Jugend geschieht ist untrennbar mit dem Individuum verflochten. Erfahrungen, Prägungen und Sozialisation, die einem Menschen früh zuteilwerden, bestimmen sein Tun weit über diese Phase hinaus. Bei Goethe und Mann erhält das Puppentheater, genauer: die in Kindertagen gemachte Puppentheatererfahrung, eine ausgeprägte Wirkmacht auf die hier behandelten Protagonisten. Thematisch sind sich beide nah, doch hinsichtlich der Folgen dieser Erfahrung lassen sich deutliche Unterschiede erkennen. So kann die Kunst bei Goethe durchaus neben dem Bürger existieren, für eine gewisse Zeit auch vom Bürger selbst ausgeübt werden: Wilhelm ist schließlich in der Lage von der bürgerlichen in die künstlerische Sphäre und – später in den Wanderjahren – wieder zurück zu wechseln, ohne seine Identität und sein Dasein zu gefährden.
Jene Problematik, der Wilhelm sich zu stellen hat, wird in Buddenbrooks seinen Höhepunkt in gänzlich anderer Weise finden: Hier verneint Thomas Mann ein solches paralleles Existieren von künstlerischen und bürgerlichen Neigungen in einer Figur. Im buddenbrookschen familiären Raum spricht er einer solchen Parallelität sogar eine den Verfallsprozess determinierende und katalysierende Wirkung zu. Weder Christian noch Thomas und besonders nicht Hanno sind dazu in der Lage, die in ihnen angelegten Sehnsüchte nach dem Künstlertum mit der sie umgebenden merkantil bürgerlichen Sphäre auszusöhnen. Hervorzuheben sind hier Christian und Hanno, beide nachdrücklich beeindruckt von der Puppentheatererfahrung in Kindertagen, deren Zerrissenheit zwischen den beschriebenen Sphären in Identitätsverlust und Lebensunfähigkeit kulminiert.
Parallel zum bereits erwähnten Dreischritt, aus Goethes eigener Puppentheatererfahrung, von der wir in Dichtung und Wahrheit lesen, der Verarbeitung derselben im Meister-Komplex und Manns Buddenbrooks, lässt sich also auch die Entwicklung der Wirkmacht der intradiegetischen Funktion des Puppentheaters zeichnen: Wo sie bei Goethe selbst noch beflügelnde Wirkung auf den Jungen hat und als Grundlage seiner künstlerischen Schöpfertätigkeit definiert wird, bietet sie für die literarische Figur des Wilhelm hauptsächlich den Ausweg aus den Schranken seiner bürgerlichen Herkunft, hin zu einer Ich-Findung auf dem Theater. Bei Thomas Manns Buddenbrooks dagegen kulminiert die Entwicklung und kippt – sie wird katalysierende Kraft im Verfallsprozess. Die determinierende Wirkung der Puppentheatererfahrung wandelt sich demnach von einer fruchtbar-produktiven Funktion bei Goethe zu einem destruktiven Katalysator im Verfallsprozesses bei Thomas Mann.


[1] Das Kürzel „Meister-Komplex“ verweist auf: Wilhelm Meisters theatralische Sendung (Ur-Meister), Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre; wegen der hier interessierenden eng gefassten Bedeutung des Puppenthemas, werden die Wanderjahre im vorliegenden Beitrag zunächst ausgeklammert.

[2] Zitat aus Wilhelm Meister theatralische Sendung (Goethe 1992, 12).

[3] abrufbar unter: https://daten.digitale-sammlungen.de/0007/bsb00072373/images/index.html? id=00072373&groesser=&fip=193.174.98.30&no=&seite=102

[4] Zitat aus Wilhelm Meisters theatralische Sendung (Goethe, Sendung 1992, 892).


Literaturverzeichnis

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Über die Autorin / About the Author

Franziska Willbold

Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und der Katholischen Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Buchwissenschaft (München) seit 2020. Laufende Promotion zum Thema Das Puppentheater innerhalb der Diegese. Determinierendes Fatumsprinzip oder Mittel intratextueller Medialität? Forschungsschwerpunkte: Goethezeit, die Familie Mann, Exilliteratur, Identität und Genealogie.

Franziska Willbold

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