denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus
Magali Nieradka-Steiner
Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance
Abstract:
Briefe einer Puppe – verfasst von Franz Kafka als Trost für ein Mädchen, das
seine Puppe in einem Berliner Park verloren hat und weint? Diese von Kafkas
letzter Lebensgefährtin Dora Diamant mündlich überlieferte Episode aus der
gemeinsam verbrachten Zeit in Berlin kurz vor seinem Tod erweist sich – trotz oder wegen
ihres unklaren Wahrheitsgehalts – als Quelle literarisch-poetischer Inspiration für
Schriftsteller:innen über einen Zeitraum von mehr als sechzig Jahren. Der Beitrag geht
diesem Phänomen und damit der literarischen Resonanz auf einen ‚ganz anderen‘ Kafka
in zahlreichen dieser Texte nach.
Schlüsselwörter: Franz Kafka; Dora Diamant; Puppenbriefe; Verlust; Reise
Zitationsvorschlag: NIERADKA-STEINER, M. Von Briefen, die es nicht (mehr) gibt: Franz Kafka und die Puppe. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 52–58, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/106
Copyright: Magali Nieradka-Steiner. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 16.09.2021
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Es war einmal ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte. Ein Mann und
eine Frau näherten sich dem in Tränen aufgelösten Kind und fragten
nach dem Grund seines Kummers. Es erzählte unter Schluchzen, dass es
seine Puppe verloren habe. „Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß
es, sie hat mir einen Brief geschickt“ (Diamant 2005, 197), tröstete der Mann das
Mädchen. Diese überraschende Nachricht schien sofort den Schmerz des Kindes
zu stillen und es wartete fortan gespannt Tag für Tag auf den Fremden, der nun
in den Park kam, um dem Mädchen die Briefe seiner Puppe vorzulesen, denn es
konnte selbst noch nicht lesen. Die Puppe war lebendig geworden und schrieb
ihrer Besitzerin, dass sie sie sehr lieb habe, aber die Welt entdecken wolle und
deshalb fortgehen musste. So reiste die Puppe von Land zu Land und ließ das
Mädchen durch ihre Briefe an ihren Abenteuern teilhaben. Mit jedem Brief wurde
der Kummer des Kindes kleiner und als der Mann dem Mädchen den letzten
Brief der Puppe aushändigte, in dem diese von ihrer anstehenden Hochzeit erzählte,
nahm es die Briefe als neu gewonnenen Schatz entgegen, der es über den
Verlust der Spielzeug-Gefährtin hinwegtröstete.
Märchen, Anekdote, poetisch aufbereitete Erinnerung? Diese seltsam berührende
Geschichte soll sich tatsächlich begeben haben und zwar im Berlin des
Jahres 1923. Ihre Protagonisten sind ein kleines, namenlos bleibendes Mädchen,
ein vierzigjähriger Mann und seine Lebensgefährtin, die diese Episode mehr als
ein Vierteljahrhundert später zu Papier brachte (vgl. Hodin 1949, Hodin 1948, Robert
1953). Bei dem rätselhaften Tröster handelt es sich um keinen geringeren als
den deutschsprachigen Schriftsteller Franz Kafka (1883–1924). Im Juli 1923 hatte
er im Ostseebad Müritz die fünfundzwanzigjährige Dora Diamant (1898–1952)
kennengelernt, die dort als Betreuerin in einer Ferienkolonie arbeitete. Mit der 15
Jahre jüngeren Frau an seiner Seite, die in einem ostjüdisch-orthodoxen Umfeld
aufgewachsen und 1919 nach Berlin gezogen war, wagte der bereits schwer an
Tuberkulose leidende Autor, seinen Plan zu verwirklichen, seiner Heimatstadt
Prag endgültig den Rücken zu kehren und in Berlin mit Dora Diamant sesshaft
zu werden.
Berlin 1923, der Tanz auf dem Vulkan: Es war das Jahr der Hyperinflation, so kostete im September ein Kilogramm Roggenbrot 3,6 Millionen Mark. Im Oktober nahm der Flughafen Tempelhof den Betrieb auf und ebenfalls im Oktober wurde aus dem Vox-Haus im Stadtteil Tiergarten die erste Unterhaltungssendung ausgestrahlt, was als Geburtsstunde des Rundfunks gilt. Im November kam es im Scheunenviertel zu Pogromen gegen Juden1. Von alledem bekam Franz Kafka aber nur wenig mit. Zum einen kümmerte sich Dora Diamant um die alltäglichen Dinge, zum anderen bewegte er sich zunächst meist nur in Steglitz, später in Zehlendorf. Aus der Miquelstraße 8 (im Zweiten Weltkrieg zerstört; heute Muthesiusstraße 20/22) schrieb er am 09. Oktober 1923 an Felix Weltsch (1884–1964), einem seiner engsten Freunde aus Prager Tagen:
Über die nächste Umgebung der Wohnung komme ich kaum hinaus, diese ist freilich wunderbar, meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum kenne. Dann ist da noch der große Botanische Garten, eine Viertelstunde von mir, und der Wald, wo ich allerdings noch nicht war, keine volle halbe Stunde (Kafka 2005, 378).
Keine zwei Monate später wurde dem Paar, weil es nicht verheiratet war, gekündigt
und es zog in zwei bescheidene Zimmer in der Grunewaldstraße 13. Anfang Februar
1924 erfolgte ein weiterer Umzug in die Heidestraße 25–26 (heute Busseallee
7–9) nach Zehlendorf. Bereits anderthalb Monate später, am 17. März, sollte Franz
Kafka Berlin endgültig verlassen, weil sich sein Gesundheitszustand kontinuierlich
verschlechtert hatte.
In die Herbstmonate in der Miquelstraße fällt wohl die Episode von Kafka und
der Puppe. Erstaunlich ist, dass man in seinen Briefen keinen Verweis darauf findet.
Außer bei Dora Diamant, die sie am Ende ihres Lebens Journalisten anvertraute,
und bei Max Brod (1884–1968), seinem engsten Vertrauten und Nachlassverwalter,
der sie allerdings auch aus dem Munde Dora Diamants hatte (Brod 2005, 232), ist sie
nirgendwo verbürgt. Dora Diamant musste 1936 aus religiösen und politischen Gründen
– sie war Anfang der 1930er Jahre der KPD beigetreten – ins Exil gehen. Weder
Franz Kafkas Korrespondenz an sie noch die Briefe der Puppe – sollte es sie wirklich
gegeben haben – konnten vor den Razzien der Gestapo in Sicherheit gebracht werden.
Dora Diamant zeichnet ein Bild des Schriftstellers, wie wir es zuvor selten gelesen
haben. Sie beschreibt ihn als „heiter“ und als „geborene[n] Spielkamerad[en], der
immer zu irgendwelchen Späßen aufgelegt“ (Diamant 2005, 196) war. Dazu passt auch die von ihr berichtete Episode von Kafka, der als „Fremder“ ein weinendes
Kind im Park tröstet. Die „Puppenkorrespondenz“ (Brod 2005, 232) mutet
allerdings so gar nicht „kafkaesk“ an, wie man, in Anlehnung an Franz Kafkas
Erzählungen und Romane, literarische Werke bezeichnet, die „absurd, bedrohlich
[sind], so dass man Angst bekommt“ (Götz, Haensch u. Wellmann 2002,
533). Die kindliche Adressatin gibt sich am Ende mit der Hochzeit ihrer Puppe
zufrieden und Dora Diamant resümiert: „Franz Kafka hatte den kleinen Konflikt
des Kindes durch die Kunst gelöst“ (Diamant 2005, 198). Bei Max Brod wird die
Konfliktlösung anders beschrieben. Er verlegt die Episode in den Frühling des
Jahres 1924 kurz vor Franz Kafkas Wegzug aus der deutschen Hauptstadt: „Zum
Schluß vergaß er nicht, in allem Trubel des für ihn so traurigen Umzugs, dem
Kind eine Puppe zurückzulassen und sie als die alte, verlorene zu legitimieren,
die nur während all der Erlebnisse in fernen Ländern eine gewisse Umwandlung
erfahren habe“ (Max Brod 2005, 232f.). Klingt es nicht plausibler, dass Franz
Kafka und Dora Diamant dem kleinen Mädchen eine Puppe gekauft hätten,
bevor die galoppierende Inflation am nächsten Tag ihr Geld noch wertloser gemacht
hätte?
All das sind und bleiben natürlich Spekulationen. Zwei Versuche, das 1923
etwa sechsjährige Mädchen ausfindig zu machen, blieben erfolglos. 1959 veröffentlichte
das Steglitzer Stadtteilblatt einen Artikel, in dem es eine Frau in ihren
Vierzigern suchte, die sich an den Unbekannten im Steglitzer Park und die Puppenbriefe
erinnern könne2. Das kleine Mädchen von einst hätte sich nur melden
können, wenn es in all den Jahren trotz des Zweiten Weltkriegs nicht den Wohnort
gewechselt hätte. Rund vierzig Jahre später kam Kafka-Übersetzer Mark
Harman mit einem Stipendium der American Academy nach Berlin und begab
sich mit einem Aufruf in mehreren überregionalen Zeitungen auf die Suche nach
einer nun über achtzigjährigen Frau (vgl. Heike Faller 04.01.2001, 13). Doch auch
für den amerikanischen Germanistik-Professor blieben die Puppenbriefe und
ihre Empfängerin verschwunden.
Sollte sie Dora Diamant vielleicht wirklich erfunden haben, damit wir an
den als düsteren Pessimisten bekannten Schriftsteller menschliche Charakterzüge
entdecken? Ein Detail aus ihren Erinnerungen an Franz Kafka macht Leser,
die Berlin gut kennen, stutzig. Der Stadtpark Steglitz, von dem Dora Diamant spricht, wurde zwischen 1912 und 1914 als zwölf Hektar großer Landschaftspark
angelegt und liegt etwa zwei Kilometer von den beiden Steglitzer Wohnungen
entfernt. Viel näher, nämlich einen guten Kilometer zu Fuß, befindet sich der
größere und berühmtere Botanische Garten, der 1910 eingeweiht worden war und
den Franz Kafka zum Beispiel in dem oben zitierten Brief an Felix Weltsch erwähnt.
Sollte ein schwer an Kehlkopftuberkulose erkrankter Mann, der viel Zeit
im Bett verbrachte, täglich den doppelten Fußweg für einen Besuch im Park in
Kauf nehmen? Auch das ist eher unwahrscheinlich und man ist versucht, Dora
Diamants Erinnerungen noch weniger Glauben zu schenken. Sollte kein Wunder
geschehen, wird selbst die unvermindert aktive Kafka-Forschung das Mysterium
der Puppenbriefe nicht mehr lösen.
Unabhängig vom Realitätsgehalt der Puppenbriefe hat sich ein anderes kleines
Wunder ereignet. Zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland, Frankreich, Spanien,
Amerika und der Schweiz zeigten sich von Dora Diamants – und teilweise
Max Brods – Schilderungen der Puppenkorrespondenz derart fasziniert, dass
sie aus ihr oder um sie herum eigene Werke schufen. Sowohl Romane für Erwachsene
als auch Bücher, die der Kinder- und/oder Jugendliteratur zuzurechnen
sind, bedienen sich dieser faszinierenden Geschichte. Der Literaturwissenschaftler
Gerhard Köpf erinnert in seinem 2018 erschienenen Essay Der Schatten von
Kafkas Puppe (Köpf 2018) an den Schriftsteller, der sich als erster mit den Puppenbriefen
auseinandersetzte, aber heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist:
Klaus Nonnenmann (1922–1993) stellte im Oktober 1959 beim Treffen der Gruppe
47 in Garmisch-Partenkirchen seinen skurril-liebenswürdigen Roman Die sieben
Briefe des Doktor Wambach (Nonnenmann 1959) vor.
Auf den ersten Blick merkt man beim Lesen keine Parallele zwischen Dora
Diamants Erinnerungen an Franz Kafka und den letzten sieben Tagen im Leben
des titelgebenden Protagonisten, dessen Briefe von Klaus Nonnenmann im
Untertitel „zur abendlichen Lektüre empfohlen“ werden. Worum geht es? Der
Obervertrauensarzt Doktor Wambach tröstet das Nachbarmädchen Ise Kopperschmidt,
dessen Puppe Rapunzel, auch Punzel genannt, verloren gegangen ist.
Später wird sich herausstellen, dass Puppe Punzel Opfer der älteren Nachbarsjungen
geworden ist. Doktor Wambach lässt die Puppe eine Reise nach Paris, tun,
wo sie vieles erlebt und neunmalklug kommentiert, was im lustigen Gegensatz zur Charakterisierung durch ihre kleine Besitzerin steht: „Rapunzel ist innen
aus Stroh, nur ihr Kopf ist halbwegs hohl. Eingeschränkt hohl insofern, als ein
bewährter Zauber angewandter Mechanik zwei hellblaue Puppenaugen nach
Wunsch schließen oder strahlen lässt“ (Nonnenmann 2007, 19).
Doktor Wambach stirbt am Ende und begibt sich mit Rapunzel auf eine
lange Reise. Letztere schickt ihrer Puppenmutter Ise allerdings als Ersatz für
sie selbst „Emile, [ihren] frühgeborenen Sohn“ (147), eine Babypuppe, die das
Mädchen in Pflege nehmen soll. Anspielungen Klaus Nonnenmanns auf Doktors
Wambachs Lieblingsbuch Emil und die Detektive (1931) von Erich Kästner
und vor allem Jean-Jacques Rousseus pädagogisches Hauptwerk Émile oder
Über die Erziehung (1762) lassen sich durchaus augenzwinkernd zwischen
den Zeilen herauslesen. Doch waren Franz Kafkas Puppenbriefe wirklich eine
Inspirationsquelle für Die sieben Briefe des Doktor Wambach? Unter dem Impressum
ließ Klaus Nonnenmann vermerken: „Das Motiv dieses Kurzromans
geht auf eine Anekdote zurück, die Dora Dymant, Lebensgefährtin Franz Kafkas,
gestorben 1952, unter Hinweis auf ein persönliches Erlebnis Kafkas einer
Bekannten erzählt hat“ (Nonnenmann 2007, 4). Gerhard Köpf schreibt dazu:
„Wir wissen nicht, wie Klaus Nonnenmann auf diese Anekdote gestoßen ist.
Irgendwo muss er sie aufgegabelt und ihr poetisches und poetologisches Potential
auf Anhieb erkannt haben“ (Köpf 2018, 16). Die Vermutung liegt nahe,
dass der Schwabe Klaus Nonnenmann Dora Diamants Erinnerungen 1953 im
Stuttgarter Merkur gelesen haben könnte. Aber auch das bleibt Spekulation.
Fast ein halbes Jahrhundert ging ins Land, bevor Franz Kafkas „schöne,
überzeugende Lügengeschichte“ (Auster 2007, 178) von Paul Auster (* 1947)
in The Brooklyn Follies (Auster 2005) wiederentdeckt wurde. Der amerikanische
Schriftsteller gilt als Kafka-Kenner (vgl. Auster 2000) und dürfte auch von
Mark Harmans Bemühungen gewusst haben. Er lässt seinen Protagonisten
Nathan Glass, dessen Neffen Tom Wood und dessen stumme, aber schlaue
achtjährige Großnichte Lucy zu einem folgenreichen Road Trip aufbrechen,
an dessen Scheidepunkt Tom von den Puppenbriefen erzählt. „Wie Kafkas
Puppe glaubte er [Tom] nur nach Abwechslung zu suchen, aber da er die
Straße verließ und eine andere nahm, streckte Fortuna unerwartet die Arme
nach ihm aus und trug unseren Jungen in eine neue Welt.“ (Auster 2007,
182) Franz Kafkas Puppenkorrespondenz sei ein Beispiel dafür, wie Literatur
nicht nur von der Härte des Daseins ablenken, sondern auch ein Heilmittel
sein könne, lässt er den verkrachten Literaturwissenschaftler Tom am
Steuer philosophieren:
Natürlich vermisst die Kleine ihre Puppe inzwischen gar nicht mehr. Kafka hat ihr stattdessen etwas anderes geschenkt, und am Ende dieser drei Wochen haben die Briefe sie von ihrem Unheil geheilt. Jetzt hat sie die Geschichte, und wenn ein Mensch das Glück hat, in einer Geschichte, in einer Phantasiewelt leben zu dürfen, legen sich die Schmerzen der wirklichen Welt. Solange die Geschichte weitergeht, existiert die Wirklichkeit nicht mehr (180).
Auch der Schweizer Schriftsteller Jürg Amann (1947–2013) war bereits ein ausgewiesener
Kafka-Spezialist – er hatte 1973 über Kafka promoviert (Amann 1974)
–, bevor er 2011 Die Briefe der Puppe (Amann 2011) zu Papier brachte. Jürg
Amann, selber schwer an Krebs erkrankt, gibt sich im Vorwort als der Herausgeber
der 13 Briefe aus, die auf wundersame Weise den Weg zu ihm gefunden hätten:
„Durch meinen Großvater, der zwischen den Kriegen zuerst in Deutschland
Buchdrucker und Antiquar gewesen war, bevor er in die Schweiz auswanderte,
und über den Nachlaß meines Vaters sind sie schließlich zu mir gelangt, der ich
ebenfalls Büchermacher geworden bin. Dreizehn Briefe insgesamt. Ich habe sie
lange gehütet. Hier drucke ich sie nun zum erstenmal ab“ (8). So hätte es sich
durchaus zutragen können, denn Jürg Amanns Vater war Buchdrucker gewesen.
Die namenlose Puppe lässt er von Berlin, wo sie nicht verloren, wie sie betont,
sondern auf Reisen gegangen ist, über Prag, Wien, Kierling, wo Franz Kafka am
03. Juni 1924 in einem Sanatorium gestorben war, in die Schweiz reisen, das heißt
Jürg Amann verwebt seine eigenen Lebensstationen mit denen Franz Kafkas,
ein, so Insa Fooken und Jana Mikota, „doppeltes Vermächtnis“ (Fooken u. Mikota
2016, 208). Als die Puppe dann aber noch auf den Lyriker Friedrich Hölderlin
(1770–1843) trifft und ihn unter anderem nach Bordeaux begleitet, liest sich die
Geschichte stellenweise märchenhaft abstrus – oder sollte man an dieser Stelle
lieber kafkaesk sagen?
Der französische Schriftsteller Fabrice Colin (* 1972) hatte sich zuerst als
Autor zahlreicher Fantasy- und Science Fiction-Bücher einen Namen gemacht,
bevor er 2016 mit La Poupée de Kafka (Colin 2016) einen Roman schrieb, der
sich rund um die Puppenkorrespondenz entspannt. Seine Protagonistin Julie
Spieler, eine junge Französin mit jüdischen Wurzeln, will sich mit ihrem Vater
Abel Spieler, einem Kafka-Experten an der Pariser Sorbonne, versöhnen. Sie
setzt sich in den Kopf, in Berlin Kafkas Puppenbriefe, den „Graal der Forscher“ (199, Übersetzung: M. N.-S.), und deren nun weit über neunzigjährige Besitzerin
zu finden. Ist die unfreundliche Else Fechtenberg das 1923 sechsjährige
Mädchen? „Ich habe nie eine Puppe verloren. Es ist einfacher und zugleich
komplizierter“ (216, Übersetzung: M. N.-S.), lässt Fabrice Colin Else Fechtenberg
sagen. Der Pariser Schriftsteller entwirft nun einen komplexen Plot um die
Bedeutung der Puppenbriefe im Holocaust.
Diese Verbindung zwischen Verlust der Puppe und der eigenen Vertreibung
stellte auch der deutsche Schriftsteller Gerd Schneider (1942–2016) bereits 2008
in seinem Jugendbuch Kafkas Puppe her (Schneider 2008). Die kleine Waise
Lena verliert darin ihre Puppe Mira, ihr einziges Hab und Gut. Dora Diamant
möchte ihr eine neue Puppe nähen, mit einem grünen und einem blauen Auge,
wie de verlorengegangene Spielzeug-Gefährtin, doch Franz Kafka zögert dies
immer wieder heraus, denn Mira hat nun eine neue Funktion:
„Es sind Traumreisen, die Wirklichkeit werden“, erklärt Franz, „Erinnerungen an Schwerelosigkeit, an Nebelhaftes und Schleierhaftes, an Flüsse und Seen, an einen Windhauch in der Wüste, an fremde Tiere, an ein Theater, in dem wir Dichter, Schauspieler, Ballonfahrer, Maschinisten, Bühnenbildner, Seiltänzer, Entdeckungsreisende, Dompteure und Puppenspieler in einem sind, versteht ihr?“
„Davon schreibst du dem kleinen Mädchen?“[, fragt Dora]. „Ihre Puppe schreibt von ihrer Reise, nichts weiter. Sie will keine unbewegliche Puppe mehr sein. Sie will die Welt kennenlernen. Ist das so ungewöhnlich? […] Ich bin nur der Mittler, der die Briefe überbringt.“ (130f.).
Franz Kafka ist also „nur“ der Mediator zwischen Lena und der „schreibende[n]
Puppe“ (130). Gerd Schneider ist es gelungen, ausgehend von den Puppenbriefen,
eine für Jugendliche lesbare Biographie über Franz Kafka zu schreiben, die er
sowohl mit Fakten als auch mit Elementen aus Kafkas eigenen Erzählungen wie
Die kleine Frau spickt, in welcher er auf seine Vermieterin in der Miquelstraße
anspielt (vgl. Alt 2005, 675). Wie in einem Traum kann sich am Ende des Romans
die nun erwachsene Seiltänzerin Lena mit der Kraft der Puppenbriefe vor dem
Holocaust retten. In der Puppentextanthologie Sollen wir Menschsein spielen?
heißt es dazu: „Das kleine literarische Puppenmädchen, das sich im Laufe des
Handlungsgeschehens immer weiter vom Aufenthaltsort seiner Puppenmutter
entfernt, wird am Ende in die tröstliche Phantasiefigur eines Luftgeists transzendiert
– ein Versuch, auch das Thema der Vernichtung in ein Bild zu transformieren
und damit kommunizierbar zu machen“ (Fooken u. Mikota 2016, 131).
Puppen sind doch eigentlich etwas für Kinder, mag man denken. Die Kinderbuchliteratur
hat Franz Kafkas Puppenbriefe allerdings erst vor kurzem erobert.
Den Anfang machte der deutsche Schriftsteller Alfons Schweiggert (* 1947) mit
seinem illustrierten Kinderbuch Franz Kafkas Puppengeschichte (Schweiggert
2007). Auch Alfons Schweiggert gibt sich als Herausgeber der Briefe der Puppe
aus, die eine „Luftveränderung“ (17) braucht und deshalb auf Weltreise gegangen
ist. Ihre Besitzerin Sarah ist natürlich traurig, deshalb erhält sie von Puppe
Eleonora Briefe aus der ganzen Welt. Alfons Schweiggerts Buch versteht sich als
„Trostgeschichte“, wie es im Klappentext heißt, weshalb er nicht nur Dora Diamants,
sondern auch Max Brods Erinnerungen aufgreift. Franz Kafka schenkt
folglich dem kleinen Mädchen nicht nur die Puppenbriefe, sondern Eleonora
schickt Sarah am Ende ihre beste Freundin, damit Sarah und die (neue) Puppe
künftig aufeinander Acht geben können. Und wie sollte diese neue Gefährtin
anders heißen als Dora!
Auch der katalanische Jugendbuchautor Jordi Sierra di Fabra (* 1947)
lässt Kafka in Kafka y la muñeca viajera (2006) dem Mädchen am Ende eine
neue Puppe namens Dora kaufen. Wie in keinem anderen Buch, das die Puppenbriefe
zum Thema hat, wird hier allerdings deutlich, welche Bedeutung die
Korrespondenz nicht nur als Trost für die kleine Elsi, sondern vor allem für den
Schriftsteller selbst hat. Auf Elsis Frage, warum denn ausgerechnet der fremde
Mann im Park von ihrer geliebten Puppe Brigitte einen Brief bekommen haben
sollte, antwortet er ganz selbstverständlich und bestimmt: „¡Porque soy cartero
de muñecas!“ (Sierra di Fabra 2006, 16) [“Weil ich ein Puppenbriefträger bin!“;
Übersetzung: M. N.-S.]. Der kranke Kafka wird also zum „Puppenbriefträger“
und möchte Brigittes Reise nicht enden lassen, denn Elsis Neugier und Nähe geben
dem Totgeweihten Kraft zum Leben. Dem „Puppenbriefträger“ fällt folglich
nach Brigittes letztem Brief der Abschied schwerer als der kleinen Elsi, die nun
noch zusätzlich zu den Briefen Brigittes die wunderschöne neue Puppe Dora hat.
Besonders bibliophil kommt Juliane Sophie Kaysers (* 1971) Bilderbuch
Franz und die Puppe auf Reisen daher (Kayser 2020). Die deutsche Schriftstellerin
bedient darin ein häufiges Motiv der Kinder- und Jugendbuchliteratur, nämlich
den Verlust des personalisierten Spielzeugs, weil das Kind aus der Perspektive
der Erwachsenen dem Kindesalter entwachsen ist. Deshalb geht Lillis Puppe
Pauline auf Reisen. Am Ende stehen zwei Abschiede an: der von der Puppe und
der vom Puppenbriefschreiber. Lilli zeigt Franz Kafka stolz ihren Schulranzen, denn nun ist sie groß und das Puppenspiel wird durch das Lernen von Lesen
und Schreiben in der Schule ersetzt werden: „,Wenn ich das F und das K lerne,
denke ich an Dich, versprochen‘, sagte Lilli laut. ,Und vom A bis zum Z vielleicht
auch‘, dachte sie leise.“ (51). Im Anhang des Buches befinden sich zwei Urkunden,
Hurra, ich komme in die Schule! und Hurra, ich kann schon lesen!, welche
den jungen Zuhörerinnen und später Leserinnen den Übergang in die Schule und
die damit verbundene Initiation erleichtern sollen.
Die neueste Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Puppenbriefen stammt
von der amerikanischen Schriftstellerin Larissa Theule. In Kafka and the Doll
(Theule 2021) müssen Irma und Soupsy voneinander Abschied nehmen. Das ansprechend
von Rebecca Green illustrierte Buch erzählt natürlich auch von dem
schweren Verlust der Puppen-Gefährtin und der großen Freundschaft zwischen
dem kleinen Mädchen und dem großen Schriftsteller. Soupsy ist aber nicht nur
eine neugierige Puppe, sondern entwickelt sich zu einer Entdeckerin und Forscherin.
Das Buch endet also nicht wie Dora Diamants Erinnerungen mit der
Hochzeit der Puppe – einem für 1923 logischen Ende –, sondern mit Soupsys
letztem Brief von einer Polarexpedition, von der sie nicht mehr zurückkommen
wird. Franz Kafka schenkt Irma zum Schluss ein rotes Notizheft, denn sie soll
wie Soupsy ihrer Leidenschaft und ihrer Abenteuerlust nachgehen. Die letzte
Doppelseite zeigt ein Bild von der erwachsenen Irma auf einem Kamel, das rote
Notizbuch in der Satteltasche – das Bild wird nicht kommentiert, sondern überlässt
der Fantasie den Spielraum.
Franz Kafka als „Ghostwriter“3 – was für eine kafkaeske Geschichte. Und doch gefällt der Gedanke, dass eben jener Schriftsteller ein so großes Herz hatte, einem kleinen Mädchen über Wochen tagtäglich seine kostbare Lebenszeit zu schenken, um es wieder glücklich zu machen. Fast einhundert Jahre, nachdem sich die Episode ereignet haben soll, hat sie nichts an Faszination eingebüßt. Wer weiß, welche Puppenbriefe uns vielleicht noch in den nächsten Jahren begegnen werden.
[1] vgl. https://www.berlin.de/chronik/index.php?date=1923-00-00
[2] vgl. https://www.franzkafka.de/fundstuecke/kafka-als-ghostwriter
[3] vgl. https://www.franzkafka.de/fundstuecke/kafka-als-ghostwriter
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https://www.franzkafka.de/fundstuecke/kafka-als-ghostwriter (zuletzt abgerufen: 25. April 2021).
http://www.mondegrin.de/ohropax.html (zuletzt abgerufen: 25. April 2021).
Dr. phil.; Studium der Germanistik und Romanistik in Heidelberg. 2005–2009 Lektorin des DAAD in Nizza (Frankreich). 2009 Promotion in Heidelberg zu Sanary-sur-Mer als Ort des literarischen Exils. Akademische Mitarbeiterin für Französisch an der Universität Heidelberg und Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Gastdozenturen und Forschungsaufenthalte in Los Angeles (USA), Prag (Tschechien), Shah Alam (Malaysia) und Tomsk (Russland). Autorin von zahlreichen Monographien und Aufsätzen zum Exil, zu deutsch-französischen Themen und zur Kulturgeschichte des Spielzeugs. Habilitation zur Literaturgeschichte der Puppe in Mannheim (in Arbeit).
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
magali.nieradka@zsl.uni-heidelberg.de