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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus


Puppen, Freiheit und Möglichkeitssinn(e):

Die Echse und Michael Hatzius im Interview …
… mit Phillip Helmke

Michael Hatzius / Die Echse / Phillip Helmke



Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance



Zitationsvorschlag: HATZIUS, M.; HELMKE, P. Puppen, Freiheit und Möglichkeitssinn(e): Die Echse und Michael Hatzius im Interview … … mit Phillip Helmke. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 67–74, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/109

Copyright: Michael Hatzius / Phillip Helmke. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992

Veröffentlicht am: 16.09.2021

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Die Echse – sie hat alles gesehen und erlebt und ist noch immer auf der Höhe der Zeit. Nicht nur die biologischen, sondern auch die kulturellen Ursprünge der Welt hat sie maßgeblich mitgeprägt: Mit „Ari“ (Aristoteles) und „Kleo“ (Kleopatra) auf Du und Du, hat sie trotz ihrer intellektuellen Brillanz allzu menschliche Züge. Zebras hasst sie zutiefst. Nach Helmut Schmidt ist die Echse die letzte Prominenz, die im Fernsehen rauchen darf. Ähnlich staatsmännisch sind ihre lakonisch-lässigen Antworten, die in ihrer Selbstgewissheit ihresgleichen suchen. In diesem Interview wird es um philosophische, geradezu ‚echsistenzielle‘ Fragen gehen, die selbst eine mit allen Wassern gewaschene Echse nicht wechselwarm lassen dürften; Fragen, die die Identität der Echse selbst betreffen. Im Anschluss freue ich mich, Michael Hatzius persönlich Fragen zu stellen und mit ihm backstage nicht nur über die Echse zu sprechen, sondern auch über seinen persönlichen künstlerischen Werdegang, seine Affinität für Puppen und das Puppenspiel sowie das Phänomen der Puppe allgemein.

***

Phillip Helmke (PH): Liebe Echse, es ist mir eine Ehre, Sie für dieses Interview gewonnen zu haben. Bevor ich inhaltlich einsteige: Sie oder Du?

Echse (E): „Ihr“ wäre angemessen. Majestät, Durchlaucht – das ist im Grunde die Kategorie. Das Gottgleiche ist allerdings namenlos. Du kannst Echse sagen.

PH: Dann steige ich ohne Umschweife ein: Auf der Bühne bist Du nie allein, Echse, es gibt Dich zwangsläufig nur zu zweit. Welches Verhältnis pflegst Du zu dem, ich zitiere, „Zottel“, der Dich stets begleitet?

E: Verhältnis klingt mir zu intim. Ja, machen wir uns nichts vor, er steckt manchmal seinen Arm rein, aber im Grunde ist das eine reine Arbeitsbeziehung. Er stärkt mir den Rücken und darf mir dafür ein bisschen über die Schulter schauen.

PH: Identität gehört zu den schwierigsten psychologischen und philosophischen Themenkomplexen überhaupt. Wenn ich mich recht erinnere, tendierst Du grundsätzlich zu einer eher buddhistischen Weltanschauung. Was ist Identität für Dich?

E: Weißt Du, ich hab’ halt sehr viele Identitäten kommen und gehen sehen. Teilweise innerhalb von Sekunden. Im Grunde sind das ja alles nur Geschichten, die sich die Menschen im Kopf erzählen – und dann auch noch jeder eine andere, das führt nur zu Stress, und damit zu neuen Geschichten und noch mehr Stress. Insofern kann man das eigentlich knicken. Klar, ein paar Fixpunkte sind nicht verkehrt. Ich bin zum Beispiel einer.

PH: Puppen haben durch popkulturelle Beispiele ein teilweise infantiles Image. Was lösen Puppen etwa aus der Sesamstraße, Bernd das Brot oder auch Beutolomäus, der sprechende Weihnachtssack, in Dir aus? Wirst Du in dieser Reihe gern genannt?

E: Ich distanziere mich davon und weiß auch nicht, warum ich immer wieder auf dieses Thema angesprochen werde. Ich lehne Puppentheater grundsätzlich ab. Klar, man kann das schon machen, es ist zumindest immer noch besser als Streubomben schmeißen. Minimal besser.

PH: Verstörende Gegenbeispiele wären „Chucky, die Mörderpuppe“ oder „Annabelle“. Pflegst Du zu solchen Artgenoss:innen ein kollegiales Verhältnis?

E: Ich pflege zu allerlei Puppen ein Verhältnis. Das hängt aber nicht von ihrer Brutalität ab, sondern von ihrem Aussehen. Wobei das gerne auch brutal gut sein kann.

PH: In medienöffentlichen Debatten hat sich die Sensibilität für Fremdzuschreibungen signifikant erhöht. Svenja Flaßpöhler, Herausgeberin des Philosophie-Magazins, hat den Eindruck, viele Mitmenschen liefen als „offene Wunden“ durch die Gegend. Wie vereinbarst Du Fremdzuschreibungen als ‚Puppe‘ mit Deinem Selbstbild?

E: Von mir aus kann jeder sagen, was er will. Es ist der hilflose Versuch der Menschen, durch die Beschreibung der Dinge Sicherheit zu gewinnen, und damit scheinbar die Überlebenschancen zu erhöhen. Ich habe da durchaus Mitgefühl. Mir ist allerdings die Tierwelt näher. Weniger Konzept, mehr Gebiss.

PH: Die Gender-Sensibilität ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Interferiert Dein generisches Femininum mit Deinem eher, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, patriarchal geprägten Welt- und Selbstbild? Die Kategorie ‚Puppe‘ dürfte das nicht leichter machen.

E: Patriarchal? Das sind doch wieder Klischee:innen. Gendermäßig bin ich auf der Höhe. Genau genommen habe ich einen fremden Unterkörper. Damit bin ich hochmodern.

PH: Auffällig in öffentlichen Debatten sind Neologismen, die zuvor unreflektierte und als selbstverständlich erachtete Praktiken und Anschauungen angreifen. Wie stehst Du zu dem Konzept ‚Mansplaining‘? Kennst Du persönlich einen ‚Captain Obvious‘? Vielleicht Zebras?

E: Watt? Red’ ordentlich! So versteht das keine Sau. Ich denk, du hast Sprache studiert. Nächste Frage!

PH: Eine letzte Frage zu diesem Thema: Wie bewertest Du die zunehmend sensible Medienöffentlichkeit allgemein?

E: Die müssen sich einfach entscheiden. Entweder man nennt die Dinge beim Namen oder man fragt immer erst, welcher Name gerade genannt werden darf.

PH: Worauf viele Deiner Fans nicht neidisch sein dürften: Du warst im Prinzip schon immer da; auch, als die Welt insgesamt deutlich rauer und ungemütlicher war. Neid hingegen dürfte auslösen: Du wirst immer da sein! Wie bewertest Du Deine potenzielle Unsterblichkeit, Fluch oder Segen?

E: Im Grunde war’s immer entspannt. Die Frage ist ja, was man draus macht. Klar ist es nicht einfach, wenn Du Dich gerade gemütlich hingelümmelt hast und sich plötzlich Kontinentalplatten verschieben, Vulkane ausbrechen und Meteoriten einschlagen. So war das damals. Auf der anderen Seite gab es kein Facebook. Man fragt sich also, was besser ist. Mal sehen, was noch kommt. Denke aber, wenn das mit den Menschen rum ist, werd’ ich erstmal durchschnaufen.

PH: Helmut Schmidt hat in einem seiner letzten Bücher über Vorbilder gesprochen. Sich auf den römischen Philosophen Marc Aurel beziehend, formuliert er die Balance aus Gelassenheit und Pflichterfüllung als leitend. Erkennst Du Dich darin wieder, oder nur im Rauchen auf der Bühne?

E: Pflicht ist nicht meins. Das klingt so, als würde dir jemand sagen, was zu tun ist. Klar, man kann sich auch selbst Pflichten auferlegen. Man kann es aber auch lassen.

PH: Im Buddhismus ist die Wiedergeburt als höheres Wesen eine Triebfeder des irdischen Seins. Wo steht man als Echse auf der Leiter, ganz oben oder ist da noch Luft?

E: Man ist die Leiter.

PH: Wenn man unsterblich ist, kann es schnell langweilig werden. Hannah Arendt behauptet, die „Natalität“, also die Freiheit des immer wieder neu anfangen Könnens, sei lebensnotwendig. Wie siehst Du das?

E: Vielleicht hätte Hannah Arendt mehr Zeit mit mir verbringen sollen. Da wäre ihr nicht langweilig geworden.

PH: Du selbst bist ein begnadeter Puppenspieler, wie man in Fernsehauftritten mehrfach sehen konnte. Ist diese Metaillusion für Dich ein Test, wie weit Du es mit dem geneigten Publikum treiben kannst oder eine Projektion der eigenen Existenzbedingungen, ich will nicht sagen, Existenzbeschränkungen?

E: Ich werde von den Menschen darum gebeten, es zu tun, zum Teil mit Geld – und dann will ich nicht so sein. Das ist alles.

PH: Hast Du das Gefühl, Deinem Publikum manchmal einen Spiegel vorzuhalten? Abgesehen von den vielen Reptiloiden beziehe ich mich hier auf Deinen Habitus, in dem sich sicherlich nicht nur einige Berliner:innen wiedererkennen dürften.

E: Wenn überhaupt orientieren sich die Menschen an mir. Ich war zuerst da.

PH: Welche Kategorie beschreibt Dich treffender: Philanthrop oder Misanthrop?

E: Ich passe in keine Thropbox.

PH: Wie viele wissen, warst Du bereits in hochkarätigen Kabarettshows wie „Die Anstalt“ zu Gast. Können Puppen Satire und Kabarett besser als Menschen?

E: Wenn ich mir die deutsche Kabarettlandschaft anschaue, gehe ich davon aus, dass es in den meisten Fällen auch Pflanzen besser könnten.

PH: Besonders in einer herausfordernden Zeit wie dieser brauchen wir Menschen Perspektiven, Hoffnungen und möglicherweise Utopien. Stehst Du für eine bessere Welt, eine Utopie – eine Welt auf „Echstasy“?

E: Nein. Ich stehe da vor allem wegen der Weiber und der Kohle. Wenn es gelingt, dass die Leute merken, dass alles auch anders sein könnte, als sie sonst so denken – das geht schon damit los, dass sie mit einer großen Echse sprechen – und daher ein bisschen lockerer mit dem werden, was sie meinen, glauben zu müssen, ist das ein netter side effect.

PH: Vielen Dank, Echse, für diesen zumindest für mich unvergesslichen Austausch und für die Möglichkeit, nun mit Deinem steten Bühnenbegleiter zu sprechen; ich weiß, das ist ein Reizthema. Bleib – nichts Bestimmtes, bleib einfach, um mit einem Deiner buddhistischen Gedanken zu schließen!

E: Aus Dir kann was werden.

Die Echse und ihr Bühnenbegleiter Michael Hatzius

Abbildung 1: Die Echse und ihr Bühnenbegleiter Michael Hatzius (Foto: Christine Fiedler)

PH: Lieber Michael, ich freue mich, Dich für dieses Interview gewonnen zu haben und nun ein wenig den Gesprächsmodus zu switchen. Ein Interview mit einer Puppe zu führen ist zugegebenermaßen herausfordernd. Puppen verunsichern und irritieren auf produktive Art und Weise. Mittlerweile bist du der Puppenspieler Deutschlands, mindestens die Echse kennt fast jeder. Meine erste Frage zielt auf Deine Affinität für Puppen allgemein: Wann und wie begann diese Leidenschaft?

Michael Hatzius (MH): Ich bin als Jugendlicher in eine Theatergruppe gegangen, die von professionellen Puppenspielern angeleitet wurde. Natürlich haben wir auch die Stücke an diesem Theater angeschaut, und die Vielfalt der Erzählformen, ebenso wie der der Spielweise innewohnende Humor, haben mich sofort in den Bann gezogen.

PH: Haben Puppen Dich in Deiner Kindheit fasziniert?

MH: Ich glaube, eigentlich nur im normalen kindlichen Maße, wobei mich Puppen und Geschichten als Spielzeug schon immer mehr interessiert haben als Autos oder Technikkram.

PH: Das Puppenspiel ist keine Gelegenheitskunst, sondern ein erlerntes Handwerk: Du bist studierter Puppenspieler. Warum gerade dieses Studium?

MH: Mir war immer klar, dass ich auf die Bühne möchte und eine staatliche Schauspielschule besuchen will. Als ich dann das Puppenspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin kennenlernte, war ich begeistert, da das schauspielerische Handwerk dort als Grundlage für alle weiterführenden Ausdrucksformen begriffen wird.

PH: Wie reagierten Menschen auf Partys beim obligatorischen Job-Smalltalk auf Deinen Beruf, als Du noch weniger bekannt warst? Hast Du oft den pseudo-witzigen Taxischein-Spruch gehört?

MH: Ich war oft auf Partys, die sich entweder aus meinen Schulfreunden oder rund um die Theatergruppe generierte. Dort wussten alle schon, dass ich theatermäßig einen an der Klatsche habe, und es hätte sie, glaube ich, eher gewundert, wenn ich ‚was Richtiges‘ studiert hätte. Aber ja, es gab auch den Fall, dass fremde Leute dachten, ich mache Spaß, wenn ich sagte, ich studiere Puppenspielkunst. „Mit Dir kann man nie ernsthaft reden“, habe ich daraufhin mal gehört.

PH: Stand für Dich jemals im Raum, etwas ‚Gediegenes‘ wie Jura oder Lehramt zu studieren?

MH: Niemals. Das kann ich wirklich so sagen. Mir war immer klar, dass es nur die Bühne und eine damit einhergehende Ausbildung sein kann.

PH: Inwiefern hat das Studium Deinen Blick auf Puppen professionalisiert?

MH: Das Studium dauert vier Jahre und genau so lange könnte ich auf diese Frage antworten. Im Grund habe ich vielleicht gelernt, die richtigen Fragen an die Puppe zu stellen. Also zum Beispiel, wie ich sie glaubhaft verlebendigen kann und auch, warum ich das tun könnte, und was mit ihr zu erzählen ist, und wie. Allerdings sind die Antworten immer wieder offen und jedes Mal eine neue Reise. Das Studium endet also nie.

PH: Du hattest bereits Lehraufträge an Hochschulen. Wird das Puppenspiel akademisch ausreichend reflektiert?

MH: Naja, so eine akademische Reflexion läuft ja oft auch Gefahr, zu selbstreferenziell zu werden. Im schlimmsten Fall lenkt sie sogar vom eigentlichen Ereignis hab. Mir ist jemand, der null akademisch reflektiert, aber ein Theatererlebnis auf die Bühne bringt, wo einem der Mund offensteht, lieber, als jemand, der ellenlang schlau und mit vielen Fremdworten gespickt dozieren kann, aber am Ende ist das, was theatral passiert, eher mau. Die Frage ist ja vor allem immer: Was hat das Publikum davon? Da gibt es natürlich eine Riesen-Diskrepanz zwischen dem, was Menschen allgemein unter Puppenspiel verstehen, und dem, wie es an einer Hochschule ventiliert wird. Diese Lücke verkleinert man allerdings ausschließlich übers Tun, nicht übers Reflektieren.

PH: Du erwähntest, dass es einen Ost-West-Kampf in Bezug auf das akademische Fachvokabular gab: Figur versus Puppe. Hat sich eine Deutungshoheit herausgebildet?

MH: Tatsächlich gab es da mal einen Streit. In den 70er-Jahren wurde in Ostberlin der Studiengang Puppenspielkunst ins Leben gerufen, zehn Jahre später in Stuttgart der Studiengang Figurentheater. Im Westen wollte man bewusst nicht Puppe, sondern Figur sagen, um eine größere Vielfalt auszudrücken, die auch, zum Beispiel, Objekttheater umfasst. Im Osten sah man das als Minderwertigkeitskomplex und mangelndes Zutrauen zur Gattung seitens der Westdeutschen, da eine Puppe durchaus auch ein Objekt sein könne, und zudem der Begriff Figur in der Theatersprache schon belegt war. Die Figur ist der Woyzeck. Die Puppe ist das Material, was belebt wird. Im Osten legte man darauf großen Wert, denn wenn der Regisseur sagt: „Wir müssen an der Puppe arbeiten“, bedeutet das, da muss zum Beispiel in der Werkstatt ein Gelenk besser fixiert werden; sagt er: „Wir müssen an der Figur arbeiten“, heißt das, da muss eine intensivere Rollenarbeit erfolgen. Der allgemeine Begriff ‚Figur‘ führe da einfach zu Missverständnissen. Darüber konnten sich die Professor:innen damals grenzübergreifend herrlich streiten. Ich habe als Student noch die letzten Jahre der ersten Generation Professoren erlebt, da war schon eine Altersmilde zu spüren. Am Ende habe ich mal den Satz gehört: „Sagt, was ihr wollt, aber wisst, was ihr meint.“ Damit lebt es sich ganz gut.

PH: Das Puppenspiel scheint Indikator für außergewöhnliche Kreativität zu sein. Rainald Grebe, der wohl abgefahrenste zeitgenössische Kabarettist und wandelndes Dada-Gesamtkunstwerk, hat auch Puppenspiel studiert. Gibt das Puppenspiel dem Menschen einen besonderen Möglichkeitssinn?

MH: „Möglichkeitssinn“ ist ein wunderbares Wort. Eine Puppe hebelt ja die Gesetze unserer bekannten Möglichkeiten aus und ist damit in der Lage, sie vielleicht treffender zu zeigen, als der Mensch selbst. Zugleich sind die möglichen Metamorphosen endlos. Die Puppe ist ein dritter Ort, an dem verhandelt wird, sie entpersonifiziert Konflikte und hebt sie auf eine neue Ebene, was natürlich größere Gedanken- und Erfahrungsräume möglich macht, und dies bestenfalls sehr sinnlich – insofern erscheint mir hier von einem besonderen Möglichkeitssinn zu sprechen sehr zutreffend.

PH: Mit dem Puppenspiel hast Du eine Nische im deutschen Kabarett gefunden. Inwiefern unterscheidet sich das satirische Potenzial Deiner Puppen von dem des rein menschlichen Personals? Hat es mit Gegenständlichkeit und Verfremdung zu tun, die eine angenehm spielerische Distanz ermöglicht?

MH: Ja, absolut. Das Verfremdete entspannt und befeuert die Lage zugleich, da man sich auf eine metaphorische Ebene begibt. Der spielerische Charakter bleibt stets erfahrbar und daher läuft man weniger Gefahr, dass Menschen sich zum Beispiel ernsthaft angegriffen fühlen, zugleich können alle anderen aber die Kritik deutlich ablesen. Puppen können gerade, weil sie keine Menschen sind, menschliches Verhalten vortrefflich zugespitzt und präzise darstellen. Alles was eine Puppe tut, hat eine große Bedeutung, da immer mitschwingt, dass sie nichts von alledem tun müsste. Der Schauspieler kann den Atem für seine Figur finden, aber er müsste auch privat atmen. Die Puppe nicht. Atmet die Puppe also, bekommt das eine theatrale Dimension, die der Mensch so einfach nicht produzieren kann.

PH: „Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken“, behauptete Rosa Luxemburg. Können (Deine) Puppen Dinge aussprechen, die sonst nicht oder anders zur Sprache kämen?

MH: Ich hab’ das, als ich begann Comedy und Kabarett zu machen, sehr oft gehört. „Mit der Puppe kannst Du ja alles sagen, was du als Mensch nie sagen könntest“, und habe das nicht so recht für voll genommen. Erstens weil ich als darstellender Künstler immer von der Figur ausgehe, die natürlich all das sagen muss, was aus Sicht der Figur zu sagen ist, völlig unabhängig von meiner privaten Haltung. Zugleich habe ich aber auch nicht empfunden, warum man überhaupt als Mensch Nachteile haben sollte, wenn man alles sagt, erst recht auf einer Bühne. Das vergangene Jahr hat meinen Erfahrungsspielraum da wesentlich erweitert, denn man konnte, was den konkreten Umgang mit der Corona-Krise betrifft, erfahren, wie es sich anfühlt, wenn eine Haltung in Politik und Gesellschaft dominiert, die zugleich kein Hinterfragen und keine abweichende Position duldet. In der Tat habe ich dann gemerkt, wie wertvoll die Puppen in diesem Moment sind. Sie eröffnen diesen künstlichen Raum, in dem sich widerstreitende Positionen viel eher treffen als in dem personifizierten Menschenraum.

PH: Freiheit scheint ein wichtiges Ideal für Dich zu sein, und sie ist das höchste Gut der Kunst. Befreien Puppen?

MH: Ich denke ja. Die wesentliche Einschränkung der Freiheit liegt ja in unserem Verstand, der eng mit dem Ego verknüpft ist. Das Ego möchte meistens gut wegkommen und angesehen werden, was dazu führt, dass vieles von vornherein geblockt wird, weil es vom Verstand als nicht tauglich angesehen wird. Eine Puppe gibt dem Verstand das Signal: Entspann Dich! Das hat ja mit Dir nichts zu tun. Das ermöglicht viel Freiheit. Für mich ist es auch eine große Freiheit, dass ich in den Puppen viele Ideen umsetzen und immer bei mir führen kann, mit einfachen Mitteln kann ich quasi losspielen. Letzten Sommer habe ich mich coronabedingt einfach auf einen Balkon gesetzt, mit meinen beiden Schweinen auf der Brüstung, und die Leute standen unten. Fertig war das Theater. Natürlich heißt arbeiten mit Puppen auch immer, mit den Limitierungen klarzukommen, denn Puppen können ja vor allem ganz viel auch nicht. Die Echse zum Beispiel kann wesentlich besser den Kopf nach links drehen als nach rechts, das liegt einfach an der Anatomie meines Handgelenks. Wer die Echse kennt, weiß aber zugleich, dass sie sich innerhalb ihrer Limitierung alle Freiheiten nimmt.

PH: Die Echse ist vor vielen Jahren eingeschlagen wie kaum eine andere Figur. Wie erklärst Du Dir den nachhaltigen (!) Erfolg?

MH: Ich glaube, das begründet sich auf verschiedenen Ebenen. Einmal ist das ein Spielprinzip, was viele Menschen so noch nicht gesehen haben. Diese Verschmelzung aus Klappmaulfigur mit Menschenkörper in dieser Größe. Dann ist die Echse bildnerisch eine echte Wucht, die Maske trägt eine Vielzahl von Emotionen. Offenbar gelingt mir auch die Animation und Stimmgestaltung so, dass die Leute sich verzaubern lassen und die Verlebendigung als glaubhaft annehmen. Dazu die Geschichte des Allwissenden, alten Großkotz, der immer schon da war und sein wird. On top kommt dann die natürliche, direkte und oft interaktive Ansprache der Echse, also meine Spielweise, die sich selbst ernst nimmt und daher auch von den Menschen als vollwertiges Gegenüber akzeptiert wird. Das sind jetzt alles rationale Analysen, da hat sicher jeder Zuschauer seine eigene Wahrheit. Das muss ich auch gar nicht alles wissen, sondern freue mich einfach, dass es so ist.

PH: Mittlerweile sind viele Figuren hinzugekommen: das depressive Huhn, die schnodderige Zecke, die bittersüß komischen Schweine Torsten und Steffi, nicht zu vergessen die autoritäre Möhre. Ist es schwierig für Dich, abzuschalten und die Figuren in Deiner Freizeit hinter Dir zu lassen oder hilft das Externalisieren in Puppen gerade beim persönlichen Abgrenzen?

MH: Es handelt sich ja um einen bewussten professionellen künstlerischen Spielvorgang, der einen Anfang und ein Ende hat, und nicht um eine Psychose. Insofern kann ich das, sofort nachdem ich die Puppe abgelegt habe, auch hinter mir lassen. Ideen und Einfälle arbeiten natürlich immer im Unterbewusstsein und kommen meist dann, wenn man gerade gar nicht damit rechnet. Dann heißt es, schnell aufschreiben. Zu keinem Zeitpunkt aber denke ich, ich sei noch die Möhre oder müsse dem Huhn was zu essen geben.

PH: Die Zecke wurde, wie Du in einem früheren Interview erwähntest, von einer echauffierten Berlinerin inspiriert, die Dich auf Dein Falschparken hinwies. Wie schaffst Du es, Deinen Puppen eine Seele zu geben? Fühlst Du dich beim Spielen wie die Echse oder die Zecke?

MH: Bei der Zecke war es so, dass die Puppe da war, ich aber noch keinen stimmlichen Gestus gefunden hatte. Als mich eines Tags eine ältere Dame lautstark auf mein Falschparken hinwies und dies mit einer Generalabrechnung über „die Leute“ verband, hab’ ich versucht, mir den Klang, die Worte und die Energie zu merken, und das selbe mit der Zecke zu spielen und sofort entstand etwas. Meistens habe ich zuerst die Puppe und dann untersuche ich die Physiognomie und die Bewegungsqualitäten, versuche dann, das in mich aufzunehmen, meine Kanäle dafür zu öffnen oder mit etwas zu kombinieren, was ich irgendwo anders aufgesaugt habe, und schaue, welche Töne kommen und ob sie mir stimmig und durchlässig erscheinen. Aus Tönen werden Worte, aus Worten Sätze und aus vielen Sätzen Haltungen und Geschichten. Das alles macht dann irgendwann den Charakter der Figur.

PH: Hast Du manchmal das Bedürfnis, die Echse loszulassen?

MH: Nur, wenn ich mir die Hände waschen möchte. Aber im Ernst: nein. Ich bin unendlich glücklich, dass die Echse und ich zusammengefunden haben. Mir macht das nach wie vor Spaß und es gibt noch immer so viel zu entdecken. Alles andere kann ich ja trotzdem darüber hinaus tun.

PH: Mir scheint es, als genössen Deine Puppen einen gewissen Vertrauensvorschuss, einen Toleranzbonus. Man verzeiht ihnen vieles, auch wenn sie unter die Gürtellinie schlagen. Woran mag das liegen?

MH: Der spielerische Charakter ermöglicht das. Ich sage immer, wenn man sieht, wie seine Mensch-ärger-dich-nicht-Figur auf dem Spielfeld rausgeworfen wird, dann ist das etwas anderes, als wenn man vom Gegenüber direkt am Kragen gepackt und aus der Wohnung geworfen wirft. Das würde man vermutlich weniger verzeihen.

PH: Der Star-Violinist David Garrett wurde in einer Talkshow mit Dir mal kurz richtig wütend, weil er die Echse als „Arschloch“ erlebt hat. Dieser Eindruck korrigierte sich mit Blick auf Dich zwar schnell, aber wirst Du als Künstler oft mit Deinen Figuren identifiziert?

MH: Manche Leute, die nur die Echse kennen, denken so bin ich. Menschen, die die Echse und mich kennen oder Menschen, die mehrere Figuren kennen, sehen die Unterschiedlichkeit. Vermutlich bin ich alle ein bisschen und noch was dazu. Keine Ahnung.

PH: Um Charaktere so konturiert zu erschaffen und mit Leben zu füllen, wie Du es schaffst, braucht es viel Sensibilität und Empathie. Können Puppen dabei helfen, Trauer und Leere zu lindern?

MH: Es gibt ja einen Einsatz von Puppen auch in der therapeutischen Arbeit, damit kenne ich mich allerdings absolut nicht aus. Ich denke allerdings schon, dass Puppen einen ein Stück weit aus der Einkapselung in das eigene Gefühlsleben herausholen können. Das Spielereignis findet ja auch außerhalb statt und bringt dabei das Innere in Schwingung. Vielleicht ähnlich wie ein Instrument. Kunst allgemein.

PH: Ich denke, besonders Deine dialektale und habituelle Genauigkeit und Authentizität sind Gründe für den Erfolg Deiner Puppen. Könntest Du Dir auch vorstellen, ohne Puppe zu parodieren? Irgendwann geht ja auch Max Giermann in Rente.

MH: Ich trete in meinen Theaterstücken ja auch ohne Puppe auf und klar liegt mir auch da eine komödiantische Spielweise am meisten. Ich bin allerdings kein klassischer Parodist. Was Max Giermann macht, ist Parodie in einer unerreichten Perfektion zum Niederknien.

PH: Ich hoffe, das Gespräch hat Dir so viel Freude bereitet wie mir, lieber Michael. Vielen Dank für die spannenden Einblicke und ich hoffe, dass wir in Zukunft noch viele geniale von Dir erschaffene Charaktere sehen werden! Eine Abschlussempfehlung von mir wäre da noch Dein YouTube-Channel, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

MH: Ich danke Dir auch. Das waren wirklich gute und anspruchsvolle Fragen. Vor allem war DIE Standardfrage nicht dabei, was ich als sehr entspannend empfand, zugleich aber auch so ungewohnt, dass ich sie einfach aus Routine trotzdem noch beantworte: Nein, ich baue die Puppen nicht selber.


Über die Interviewten und den Interviewer / About the Interviewees and the Interviewer

Die Echse

Die Echse ist seit dem Urknall auf der Welt, bei dem sie wegen der immensen Lautstärke beide Ohren verlor. Durch eigenhändige Zellteilung mit einer gewöhnlichen Membran aus dem Baumarkt trieb die Echse die Evolution maßgeblich voran und war in den folgenden Jahrmillionen an allen wesentlichen historischen Entwicklungen beteiligt. Bis heute ist die Echse mit ihrem unerschöpflichen Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart, aber auch dank ihrer hellseherischen Fähigkeiten ein geschätzter Ansprechpartner für die Menschheit.

Die Echse

(Foto: Christine Fiedler)


Michael Hatzius

Studium der Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Berlin. 2006 Abschluss als Diplom-Puppenspieler/Darstellender Künstler. Gastengagements als Puppen- und Schauspieler u. a. am Schauspiel Hannover, am Deutschen Staatstheater Weimar und am Staatsschauspiel Dresden. Gründung der freien Gruppe „Theater Urknall“ mit internationaler Gastspieltätigkeit. Gastdozenturen u. a. an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Abteilung Puppenspielkunst. Seit 2009 mit der Figur „Die Echse“ und anderen Charakteren in Theater und Fernsehen erfolgreich. Ausgezeichnet u. a. mit dem Jurypreis des Prix Pantheon 2012 und dem Deutschen Kleinkunstpreis 2013.

Michael Hatzius

(Foto: Christine Fiedler)

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Phillip Helmke

Studium der Germanistik und Anglistik/Amerikanistik sowie Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover und Universitat de Barcelona. Seit 2020 tätig als freier Autor auf literaturkritik.de und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der deutschsprachigen Novelle, Gegenwartsnovellistik, literarische Imaginationen maritimer Räume sowie – autorenspezifisch – Kurt Tucholsky (Mitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft) und Günter Grass.

Phillip Helmke

(Foto: Elisa Meyer)

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