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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus


„Traumreisen, die Wirklichkeit werden“ – Zur Erzähl- und Handlungsfunktion der titelgebenden Figur in Gerd Schneiders Jugendroman „Kafkas Puppe“

Julia von Dall’Armi



Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios



Abstract:
Der Beitrag1 beschäftigt sich mit dem Motiv, der Erzähl- und Handlungsfunktion der ,Puppeʼ Mira in Gerd Schneiders Jugendroman „Kafkas Puppe“ (2008/9)2. Es lässt sich zeigen, dass Mira einen Ausgleich für das schwierige Leben der Hauptfiguren Kafka und Lena, der ,Puppenmutterʼ, bietet, indem sie von Krankheit, Einsamkeit, beruflichem Versagen und sogar dem Tod ablenkt. Zusätzlich eröffnet sie für beide Figuren Perspektiven der Selbstverwirklichung, indem sie Kafka als literarischer Impulsgeber, Lena als Lebensinspiration dient.

Schlagworte: Selbstverwirklichung; Literarische Inspiration; Franz Kafka; Jugendroman

Abstract:
This article explores the different narrative and motive functions of the doll Mira in Gerd Schneider’s young-adult novel „Kafkas Puppe” (2008/9). It was found that Mira helps the protagonists Kafka and Lena to cope with their difficult lives by distracting them from illness, loneliness, professional failure and even death. Additionally, the doll opens perspectives for the self-actualization of both characters, serving as literary inspiration for Kafka and a life-giving force for Lena.

Keywords: Self-actualization, Literary Inspiration, Franz Kafka, Youth Novel

Zitationsvorschlag: von Dall’Armi, J. „Traumreisen, Die Wirklichkeit werden“ – Zur Erzählund Handlungsfunktion Der Titelgebenden Figur in Gerd Schneiders Jugendroman „Kafkas Puppe“. de:do 2018, 1, 38-44. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212).

Copyright: Julia von Dall’Armi. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212

Veröffentlicht am: 17.05.2018

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Die Funktion der Puppe in Gesellschaft und Literatur: Einleitung und Abgrenzung

Anthropomorphisierte Objekte haben in der Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein Konjunktur. Während Automaten durch ihre ausgefeilte Mechanik als dienstbare Geister der Menschenwelt gehandelt werden und dem Betrachter aufgrund ihrer Lebensgröße und dem täuschend echten Erscheinungsbild ob der schwindenden Grenzziehung von Artefakt und Menschwerdung nicht selten Schauer über den Rücken jagen (vgl. Fooken 2014, 45), steht bei der durch einen Puppenspieler gelenkten Marionette die Passivität des Objekts im Vordergrund. Beide Artefakte werden als von Menschenhand entwickelt bzw. gesteuert wahrgenommen. Demgegenüber darf die Puppe durchaus einen exzeptionellen Status beanspruchen. Allein durch die Phantasie des mit ihr Spielenden und nicht etwa über mechanische Einwirkung entfaltet sie ein Eigenleben (vgl. Brittnacher 2013, 457). Sie erscheint durch ihr häufig kindliches Erscheinungsbild per se ‚beseeltʼ; auch der Begriff „Puppe“ birgt bereits etymologisch menschliche Anteile in sich: „Das Wort Puppe ist abgeleitet aus dem Lateinischen (pupa: neugeborenes Kind) bzw. dem Mittelniederländischen (puppa: kleines Mädchen)“ (Fritz 1992, Lehmann 1957, zitiert nach Fooken 2012, 45). Als menschliches „Alter ego“ (Müller-Tamm u. Sykora 1999, 65) bietet diese „hybride Mischform von Natur und Artefakt“ (ebd., 67) „eine offene Projektionsfläche“ (ebd., 66) für die mit ihr Befassten.
So fungieren Puppen außerliterarisch einerseits als systemkonformes role model für die sozial erwünschte Verinnerlichung weiblicher Werte und Normen (vgl. Barth 1997, 91ff.), andererseits bieten sie als nonkonformistische Wesen alternative Lebensmodelle an (vgl. ebd., 105), die im Schonraum des experimentellen Spiels erprobt werden können. Als „Identifikations-Spielzeug“ (Fooken 2012, 36, im Original kursiviert) kommt ihnen ferner eine kompensatorische, entlastende Wirkung zu, die den notwendigen Ausgleich zu schwierigen kindlichen Lebenssituationen schafft (vgl. Barth 1997, 92). Schließlich erzählen sie als „Übergangsobjekt“ (Fooken 2012, 27, im Original kursiviert) nicht selten Initiationsgeschichten, die die Reifung der Puppenmutter zur jungen Frau abbilden und das Spiel durch das ‚realeʼ Leben ablösen.

Die fiktionale (Kinder-)Literatur spiegelt die entwicklungspsychologischen wie sozialhistorischen Parameter dieses Spielzeuggeschöpfs wieder. So lassen sich aus ihnen psychologische, soziologische und historische Funktionen sogar Genres unterschiedlicher Puppenliteraturen ableiten. Mit Barth (1997) ist zwischen der „Puppenerziehungsgeschichte“ (ebd., 99) und der „Mädchenpuppengeschichte“ (ebd., 102) zu unterscheiden. Während erstere in der Puppe-Mädchen-Beziehung diejenige zwischen Mutter und Kind antizipiert und so die Heranwachsende auf ihre künftige gesellschaftlich erwartete Rolle vorbereitet (vgl. ebd., 99ff.), stellt die Puppe in der zweiten Variante eine Projektionsfigur für das Mädchen, das mit ihm spielt, dar. Probleme, die der Puppe widerfahren, nehmen so mögliche Probleme des menschlichen Spielpartners vorweg (vgl. ebd., 105). Auch wenn die Kinderliteratur nicht selten mit einer aus den beiden Genres stammenden Doppelfunktion operiert, so lässt sich durchaus immer ein bestimmter Schwerpunkt in den Texten erkennen.
In der Folge soll überprüft werden, inwiefern die genannten Funktionen des Spielzeuggeschöpfs und die hieraus resultierenden literarischen Handlungsstrukturen in einen Puppenroman des 21. Jahrhunderts Eingang gefunden haben. Neben der Frage nach der Bedeutung der Puppe für die histoire sollen zusätzlich eine literarische Nutzbarmachung des Puppenmotivs sowie die Rolle der Figur auf der Ebene des discours nachvollzogen werden.3 So lässt sich zeigen, dass hier die Puppe Mira einerseits als Handlungsträgerin innerhalb der Geschichte fungiert, andererseits aber auch konkrete erzähltechnische Funktionen erfüllt, die es zu charakterisieren gilt. Schließlich soll noch eine Standortbestimmung des Textes in der Puppenliteratur erfolgen.

Kafkas und Lenas Puppe: Textinhalt und Forschungsfrage

Aus einer historisch verbürgten Episode im Leben von Franz Kafka entwickelt Gerd Schneider einen mit Elementen von Wahrheit und Fiktion spielenden Jugendroman, „Kafkas Puppe“ (2008/9).
Der Dichter Franz Kafka trifft das Waisenmädchen Lena, das seine Puppe Mira verloren hat, zufällig im Steglitzer Park. Als Trost für den Verlust ersinnt der Dichter Briefe von Mira an Lena. Auch wenn die Existenz der Briefe außerfiktional, in den überlieferten Tagebüchern der Dora Diamant, verbürgt ist, sind die Schriftstücke selbst bis heute nicht mehr aufzufinden (vgl. Schneider 2009, 214). Schneider füllt diese Leerstelle und konzipiert um die von ihm erdachten Briefe zusätzlich eine Rahmenhandlung, die die Lebenswege von Kafka und Lena durch das zentrale Objekt der Puppe miteinander verschränken und beeinflussen.
Für beide Figuren haben die regelmäßigen Briefnachrichten des Spielzeuggeschöpfs eine eskapistische Funktion. Lena wie Kafka eint die Sehnsucht nach einer temporären Flucht aus dem bedrückenden, entbehrungsreichen wie gewaltgeprägten Alltag einer krisengeschüttelten Zeit. Der schwindsüchtige Künstler sucht sich vor dem Hintergrund der politisch wie wirtschaftlich prekären Lage der frühen Weimarer Republik von seinem bevorstehenden Tod ebenso wie von seiner Erfolglosigkeit als Schriftsteller abzulenken (vgl. Schneider 2009, 66), indem er selbst Briefe und damit Literatur verfasst, die sich zum ersten Mal an eine wirklich interessierte Rezipientin, nämlich Lena, richten. Deren trostloses Leben als Vollwaise in einer Pflegefamilie erfährt durch die phantasievollen Geschichten eine willkommene Abwechslung. Deutlich wird ihrer beider Interessensschnittmenge in einem Gespräch zwischen Kafkas Verlobter, der nun auch im Text auftauchenden historischen Figur Dora Diamant, und dem Schriftsteller. Als diese den Grund für die anhaltende Anziehungskraft der Puppenbriefe reflektiert: „[…] Alle Kinder wollen gern die Wirklichkeit verlassen und sich in Märchen flüchten“, erwidert er: „Nicht nur die Kinder […]“ (Schneider 2009, 27).4 Die Puppe als Ausgangspunkt für Literaturproduktion wie -rezeption erfüllt damit zunächst die ihr zugeschriebene, traditionelle Aufgabe einer „Bewältigung von Bedrohung, Angst, Konflikten“ (Fooken 2012, 112, im Original kursiviert). Dennoch erweist sich die mit der Puppe korrelierte Realitätsflucht hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen für beide Figuren als individuell unterschiedlich. Diese Auswirkungen sollen zunächst nachgezeichnet werden, um schließlich die Bedeutung der Puppe auf der metatextuellen Ebene zu erläutern.

Puppe(nspiel) und Literatur(produktion) in komplexer Verschränkung

Bevor Kafka Lenas Puppe Mira zur Hauptfigur seiner Briefe macht, nimmt das Geschöpf zunächst noch eine andere Aufgabe im Leben des Waisenmädchens ein. Schon äußerlich unterscheiden sich Spielzeugkind und stolze Besitzerin voneinander. Während Lena ihre blonden langen Haare zu Zöpfen geflochten hat und ansonsten mit einer „verwaschenen blauen Kittelschürze“ und „groben Wollstrümpfen“ (Schneider 2009, 5f.) ein ärmliches Erscheinungsbild abgibt, trägt die Puppe ein auffallendes „rotes Kleid“ mit Stiefelchen (vgl. Schneider 2009, 8) und ihre offenen, blonden Haare werden mit einer Schleife zusammengehalten (vgl. ebd.).
Die beschriebenen Attribute lassen Mira deutlich als schon recht feingliedrig ausgearbeitete „Kindpuppe“ (Regener 1988, 59) erkennen; zum Erzählzeitpunkt vermutlich aus Biskuitporzellan angefertigt, erweckt diese den Eindruck der Belebtheit (vgl. ebd., 61), dies umso mehr, als bei diesem Puppentypus nicht selten eingesetzte Glasaugen mit Iris und Pupille verwendet wurden.
Deutlich wird: Lena ist allein schon durch ihre Kleidung als künftiger Teil der Arbeiterschaft erkennbar, wohingegen die Puppe die Rolle einer für körperliche Arbeiten nicht vorgesehenen „höheren Tochter“ (Schmideler 2014, 101) einnimmt. Spielzeuge dieser Qualität sind für Mädchen der unteren Schichten ein ungewöhnlicher Besitz, denn derartig hochwertige Puppen waren für Kinder aus prekären sozialen Milieus kaum zugänglich (vgl. Regener 1988, 67), ein interpretationsbedürftiger Widerspruch.
Unschwer ist in der Puppe ein Alter Ego Lenas wiederzuerkennen; die sozial übergeordnete Stellung verheißt dem Waisenmädchen den Traum von einem besseren Leben. Doch noch kann Lena diese Kluft zwischen sich und der Puppe nicht überbrücken. Die Diskrepanz der sozialen Herkunft zwischen Spielzeug und Eigentümerin schafft keine Nähe zwischen Puppe und Besitzerin. So stört die Puppe beim Spiel mit den Gleichaltrigen, weil sie immer wieder aus Lenas Kittelschürze fällt und deshalb auf der Parkbank zurückbleiben muss (vgl. Schneider 2009, 7). Auch trägt das Geschöpf anfänglich noch keinen Namen (vgl. ebd., 78), ein weiterer Hinweis darauf, dass Lena es noch nicht als individuelle, anthropomorphisierte Spielgefährtin akzeptiert hat. Der Glaube an die bloße Dinglichkeit der Puppe zeigt sich zusätzlich in ihrer Reaktion auf Kafkas Phantasieerzählung. Als er sie für den Verlust trösten will, indem er behauptet, die Puppe sei an ihm vorbeigelaufen und hätte ihm etwas mitgeteilt, zeigt sich in Lenas Antwort, eine Puppe könne weder sprechen noch laufen (vgl. ebd., 9), die Vorstellung einer Puppe als eines unbelebten, passiven und statischen Objekts, nicht aber eines beseelten Ersatzmenschen.
Erst Kafkas Briefe (vgl. ebd., 19f.) sorgen für einen Wandel des Puppenbildes, das nun menschliche Merkmale integriert hat. Nachdem ein Heimkind Lenas Puppenverlust registriert hat und an einen Diebstahl glaubt, widerspricht Lena sofort: „‚Die ist nicht geklaut worden, die ist verreistʼ, sagt Lena feierlich“ (ebd., 22). Damit hat das Mädchen die von der literarischen Dichterfigur zu einem späteren Zeitpunkt postulierte Sprechaktfunktion der Literatur verinnerlicht:

Lena soll wissen, dass alles wahr ist, was mit ihrer Puppe geschieht. Sie soll wissen, dass hier etwas zum Leben erweckt wird, dass aus ihrem Spielzeug etwas anderes geworden ist. Es wird alles lebendig, was man sich vorstellt (ebd., 40f.).

Unschwer zeigt sich in Lenas Wahrnehmungswandel, dass das Vorlesen der Briefe das Puppenspiel ersetzt hat, mithilfe dessen normalerweise ein Spielzeuggeschöpf zum Leben erweckt wird. Dabei wird das Verhalten der Puppe nicht mehr in konkrete Spielsituationen eingebettet, sondern spielerisches Probehandeln durch die Experimentalanordnung der Literatur ausgetauscht. Gleichzeitig deutet sich hier eine komplizierte Relation zwischen der Puppe als Referenzobjekt und der auf der Metaebene auf sie rekurrierenden Literatur an.
Kafka dient die Puppe als poetologischer Impulsgeber.5 Ihr Verlust und ihre Absenz legitimieren erst die Briefproduktion und damit die Entstehung von Literatur, die das unbelebte Objekt zur literarischen Figur und zum anthropomorphisierten Akteur machen: „Hier vollzieht sich die Schöpfung durch das Wort. Die Puppen werden belebt und beseelt durch Sprechen, Erzählen und Vorlesen.“ (Mattenklott 2014, 39)
Dass die permanente Abwesenheit des Referenzobjektes für die Literaturentstehung notwendig ist, zeigt sich darin, dass Kafka Lena das Auffinden von Puppenfragmenten im Park verschweigt. Auch wenn er diese nach Hause bringt, so sollen die Teile auf seinen Wunsch hin zunächst nicht wieder zusammengesetzt werden (vgl. Schneider 2009, 99, 132). Als die von Kafkas Verlobter Dora Diamant mühevoll aus ihren Überresten restaurierte Mira dennoch wieder in neuem Glanz erstrahlt, kommt es nicht mehr zur Übergabe, da Lena von einem Ehepaar adoptiert wird (vgl. ebd., 190f.) und Kafka aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr in den Park kommen kann (vgl. ebd., 192). So bildet die materielle Rekonstruktion der Puppe einen Gegensatz zum Erzählvorgang, beide Handlungen heben einander auf bzw. ersetzen sich wechselseitig. Die Puppe markiert dabei eine Grenze von Rahmen- und Binnenhandlung.

Miras intradiegetische Erzählfunktion und die „Geschichte in der Geschichte“

In die Haupthandlung ist die besondere, über Briefe kommunizierte Binnenerzählung der intradiegetischen Erzählinstanz Mira eingebettet, die für den/die LeserIn kursiviert hervorgehoben sind. Miras Briefe an Lena füllen die vermeintliche Nullposition ihres Verschwindens, wie Kafka seiner Verlobten erklärt:

Ihre Puppe schreibt von einer Reise, nichts weiter. Sie will keine unbewegliche Puppe mehr sein. Sie will die Welt kennenlernen. Ist das so ungewöhnlich? Sie berichtet davon, wie sie gezwungen war, ihre ersten Schritte zu tun, sie erzählt von ihren Begegnungen mit Menschen und Tieren. […] Ich bin nur der Mittler, der die Briefe überbringt (ebd., 131).

Die Ausführungen der Puppen-Ich-Erzählerin werden jedoch nur der Form halber in eine Briefstruktur gebracht. Die diesem Kommunikationsmedium inhärente potenzielle Dialogizität einer an den Adressaten gerichteten Kontaktaufnahme ließe sich fast vollständig durch ein anderes Narrativ ersetzen, denn allein die Puppe berichtet über ihre Abenteuer monologisch seit ihrem Fortgang. Sie fragt nicht nach Lenas Befinden oder erwartet Antwortbriefe. Die Briefstruktur ermöglicht jedoch neben einer Aufrechterhaltung der Fiktion der Puppenabwesenheit ein episodisches, ‚portionsweises Erzählenʼ, das mit Cliffhangern an besonders spannenden Stellen endet (vgl. etwa ebd., 62, 141), um Lenas Interesse aufrecht zu erhalten.
Indem Kafka Lena die Briefe vorliest, verkörpert er nicht mehr in erster Linie die Rolle des werkvortragenden Dichters, sondern er nimmt diejenige eines traditionellen Vorlesers ein, der sich lediglich als Mittler der Puppe versteht (vgl. ebd., 138) und somit hinter ihrer Individualität zurücktritt. Die Binnenerzählung knüpft an das Genre der „literarischen Biographie eines Puppenlebens“ (Mattenklott 2014, 34) an und die Abenteuer der Puppe erinnern nicht zufällig an einen Entwicklungsroman. Mira schlüpft in die Rolle der bald adoleszenten Lena und unterläuft stellvertretend für sie einen Reifungsprozess. Dabei begegnet sie auf ihrer Odyssee mit dem Ziel einer Rückkehr zu Lena unterschiedlichen Figuren und Tieren, die sie bedrohen oder kidnappen wollen, deren Gefahrenkreise sie aber letztlich immer souverän umschifft (vgl. etwa Schneider 2009, 24f., 32f., 45). Den erfolglosen Instrumentalisierungsversuchen als Spielzeug oder Teil eines Puppentheaters durch die Menschenwelt weiß sie sich rasch zu entziehen.
Stattdessen wird sie zur aktiven abenteuerlustigen Akteurin, indem sie mit dem Heißluftballon fliegt (vgl. ebd., 62) oder fast in einem reißenden Strom ertrinkt (vgl. ebd., 95-6). Schließlich gerät sie an einen Zirkusdirektor, der ihr anbietet, Seiltänzerin werden zu dürfen (vgl. ebd., 178), ein Angebot, das sie gerne annimmt. Der Tanz auf dem Seil entspricht damit der bis hierhin gefährlichen Lebensreise, für die sie zur Metapher wird: „Die Puppe wird uns erzählen, wie ihre Welt ist, sie wird uns mitnehmen wie eine Zirkusreiterin, deren Bild mich einst gefangen genommen hat“ (ebd., 41).
Unschwer ist zunächst in der Seiltänzerschaft ein Bild für Kafkas Dichterexistenz (vgl. ebd., 180f.) zu sehen. Stets bedroht vom sozialen wie eigentlichen Absturz, dem Tuberkulosetod, befindet auch er sich wie die Puppe lediglich auf der ‚Durchreiseʼ vom Leben zum Tod.
Mit der Gleichsetzung von Zirkusreiterin und Puppe wird aber auch ein Bezug zu Kafkas Parabel „Auf der Galerie“ (1919) offenkundig, in der die zwei Szenarien einer in der Vorstellung des Ich-Erzählers vom Zirkusdirektor gepeinigten Kunstreiterin der fiktionalen Realität einer von ihm übertrieben rücksichtsvoll Behandelten gegenüberstellt werden. Diese „Parabel über Schein und Wirklichkeit“ (Niehaus 2014, 70) verkehrt aber ‚Wahrheitʼ und ‚Fiktionʼ:

Jedoch wird der schöne Schein als Wirklichkeit deklariert, während das, was wir als die brutale Wirklichkeit unter der Oberfläche unterhalb des schönen Scheins vermuten, als unwirklich verneint wird (Niehaus 2014, 70f.).6

Überträgt man dies auf das Leben der Figuren Lena und Kafka, dann zeigt sich, dass das Leben der Puppe schließlich Wirklichkeit wird, die Grenze zwischen innertextueller ,Fiktionʼ in ,Wahrheitʼ überschritten wird.
Die Briefreihe und die regelmäßigen Treffen im Park enden, als Lena neue Adoptiveltern bekommt und sich Kafkas Tod abzeichnet. Nichtsdestotrotz erweist sich die von Dora Diamant wiederhergestellte Puppe als wertvolles Bindeglied innerhalb der Handlung, indem sie deren Stränge fortsetzt und zusammenführt. Es kommt nicht mehr zur Übergabe an Lena, stattdessen erhalten die Kinder von Kafkas Schwester Ottilie (Ottla) sie als Spielzeug geschenkt (vgl. Schneider 2009, 192). Von dort findet sie den Weg ins Konzentrationslager Theresienstadt, wohin Kafkas Verwandte schließlich deportiert werden.7
Hier erkennt die zwischenzeitlich erwachsene Seiltänzerin Lena ihre Puppe während einer artistischen Darbietung sogleich in einem Kinderarm aus der Zuschauermenge wieder (vgl. Schneider 2009, 206). Zwar hat die Deportierte sich den einst literarischen Traum von Miras Seiltanzkunst erfüllt und die Berufung der Puppe in innerfiktionale Realität verwandelt, die Extremsituation des Auftritts im Lager lässt sie jedoch von der eigenständigen Puppe zur passiven Marionette werden: „Die Seiltänzerin lässt sich pantomimisch von einem unsichtbaren Partner führen, beugt sich zum ihm hin, folgt seinen Schritten“ (Schneider 2009, 200).
Der Seiltanz ist unschwer als Metapher für die akute Gefahrensituation zu sehen, in der sich Lena und die übrigen Lagerinsassen befinden. Die Lenkung durch das auftrittsbegleitende Musikspiel des Ehemanns, das Handeln auf Geheiß eines anderen zeigt an, dass im Lager keine Freiheit der Kunstausübung mehr gewährleistet ist. Nicht zufällig sind die sie viele Jahre begleitenden Puppenbriefe bei der Zwangsverschickung nach Theresienstadt verloren gegangen, ein Hinweis auf den Verlust jedweder Kunstproduktion. Ottla besucht noch einen letzten illegalen Vortrag über das Werk ihres Bruders Franz Kafka (vgl. ebd., 210), ein Hinweis auf das baldige Ende einer Auseinandersetzung mit jeglicher Kunst.
Für Lena ist mit dem Wiederfinden der Puppe ein Zeichen der „Abreise“ (ebd., 210) gegeben, ein Euphemismus für die Erkenntnis des eigenen baldigen Todes. Bildhaft umgesetzt wird dies durch das nonverbale Verhalten der Wachmänner, die ein „Ende der Vorstellung“ (ebd., 206) und damit auch die Beendigung des Seiltanzes als Lebensmetapher anzeigen.
Wie von Geisterhand verschwinden Lena und ihr musizierender Ehemann von der Schaubühne, was die Erzählinstanz als Rettung durch die „Luftgeister“ (ebd., 209) interpretiert. Mithilfe dieser literarischen Ablenkung vom eigentlichen Transport ins Todeslager – Lena alias Mira verabschiedet sich am Ende des Textes als Luftgeist – soll „das Thema der Vernichtung kommunizierbar“ gemacht werden (Fooken u. Mikota 2016, 131). Während die Puppe für eine Konfrontation mit der Realität und damit letztlich den Tod steht, bedeutet die Kunst ein (Weiter-)Leben über den Tod hinaus. Obwohl die Fragmente des lebendig erscheinenden Objekts Kindern wie Erwachsenen zeitweilig Hoffnung verleihen, ist die intakte Gestalt der Puppe zudem mit dem Tod der literarischen Figur Franz Kafkas und seiner Familie untrennbar verknüpft. Paradigmatisch erfüllt die Puppe schließlich die ihr auch im außerfiktionalen Rahmen zugeschriebene Rolle, denn sie ist ‚Mediatorʻ, der Vergangenheit und Gegenwart zur Zukunft hin vorgreifend verlängert“ (Rusch 1994/95, 16).

Fazit

Verortet man den Text in der bisherigen Puppenliteratur, so finden sich in ihm einerseits markante Strukturwiederholungen, aber auch interessante Alleinstellungsmerkmale.
Die Puppendarstellung orientiert sich an den Sichtweisen, die um die vorletzte Jahrhundertwende, 1900, einsetzen und die Wahrnehmung der Puppen aus kindlicher Perspektive sowie ihre Verlebendigung (Brittnacher 2013, 458, 462) in den Mittelpunkt rückten. Weder der schon Jahrzehnte zuvor in der Romantik einsetzende „Pygmalionismus“ (ebd., 458) noch der sehr moderne Ansatz der Puppe als „selbstreferenzielles Objekt“ (ebd., 462) kommen hier zur Anwendung. Traditionell knüpft Schneiders Roman auch an das Genre der „Mädchenpuppengeschichte“ (Schmideler 2014, 97) aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd., 98) und an die „Spielzeuggeschichte“ (ebd., 99) an. Das Puppenspielzeug wird in der Geschichte zum Mädchen, zum belebten Objekt. Miras Abenteuer bieten Lena „Möglichkeiten der spielerischen und phantasierenden Herausbildung des eigenen Selbst und seiner Positionierung in der Welt“ (Mattenklott 2014, 35), indem Eigenschaften vom Menschen auf die Puppe, aber auch von der Puppe auf den Menschen übertragen werden. Mira, der ,Wunderbaren ʼ, kommt dabei die Bedeutung einer „Semiophore“ (ebd., 32) zu:

Zugrunde liegt dem Gedanken von magischen Energien die Vorstellung von einem geheimnisvollen Zusammenhang aller Lebewesen und Dinge, der es erlaubt, Gegenstände mit Macht über die Lebenden und über andere Dinge aufzuladen […] (ebd., 31f.).

Die Puppe gewinnt Macht über die Menschen, indem sie in der Welt der literarischen Phantasie Lenas Zukunft in Teilen vorwegnimmt.
Variiert wird dieser Topos aber durch die bewusste Abwendung eines gesellschaftskonformen Puppenschicksals als Vorausdeutung eines rollentypischen Werdegangs, wie er für weibliche Figuren des 19. Jahrhunderts vorgesehen ist. So werden weder die Eheschließung noch die Mutterschaft der Puppe Mira thematisiert, was durchaus Inhalte herkömmlicher Puppenliteratur sind.
Stattdessen plant die Kafka-Figur zwar immer die Abbildung von Sozialisation, etwa indem er die Puppe zur Schule gehen lassen möchte (vgl. etwa Schneider 2009, 181f.), verwirft das aber zugunsten der Seiltänzergeschichte. Nicht mehr das konformistische Streben nach sozialer Akzeptanz, sondern die individuelle Selbstverwirklichung einer weiblichen Figur steht also im Vordergrund: „In diesem Sinn stellt die Puppe zugleich die Umhüllung dar, woraus die Seele als künftiger Schmetterling entschlüpfen soll.“ (Di Noi 2014, 203)
Diese Wendung macht den Text zu einem modernen Stück Jugendliteratur.


[1] Das Zitat im Titel „Traumreisen, die Wirklichkeit werden“ stammt aus Schneider (2009, 130).

[2] Zitiert wird aus der Ausgabe von 2009.

[3] Vgl. zu den Termini Genette 1998, 16f.

[4] Vgl. hierzu auch: „Diese Welt werden wir nicht hereinlassen“ (Schneider 2009, 40), erklärt Kafka, bevor er sich an seinen Schreibtisch für die nun erfolgende Literaturproduktion setzt.

[5] Insofern wird er durchaus als Teil einer Dichtertradition inszeniert, man denke etwa an Rilkes Ausführungen in seinem „Puppen-Essay“ oder an Kleists dramentheoretische Anmerkungen „Über das Marionettentheater“.

[6] Auch wenn Niehaus in der Folge diese Interpretation als „Scheinlösung“ (71) zugunsten ausgefeilterer Interpretationsansätze wertet, so lässt sich angesichts der Handlungsparallelen bei Schneider und Kafka diese Deutung hier als durchaus brauchbar ansehen.

[7] Vgl. zur Bedeutung der Puppe für die deportierten Kinder in den Lagern Peiter (2014).


Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Schneider, Gerd (2009). Kafkas Puppe. 2. Auflage. Würzburg: Arena.

Sekundärliteratur

Barth, Susanne (1997). Puppenschicksale. Zur Entstehung und Entwicklung der Puppengeschichte in der Mädchenliteratur um die Mitte des 19. Jahrhundert In: Dagmar Grenz, Gisela Wilkending (Hg.), Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen. (S. 91-114).Weinheim: Juventa.

Brittnacher, Hans Richard (2013). Stichwort „3.2.19 Puppe“. In: Hans Richard Brittnacher, Markus May (Hg.), Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. (S. 457-465). Stuttgart: Metzler.

Di Noi, Barbara (2014). Puppenseele und Puppending: Der Puppenessay auf dem Hintergrund der frühen Poetologie von Rainer Maria Rilke. In: Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 203-217). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Fooken, Insa (2012). Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut (unter Mitarbeit von R. Lohmann). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Fooken Insa (2014). Mehr als ein Ding: Vom seelischen Mehrwert der Puppen. In: Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. (S. 43-54). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Fooken, Insa, Mikota, Jana (2016). Sollen wir Menschsein spielen? Eine kommentierte Anthologie deutschsprachiger Puppentexte. Siegen Universitätsverlag.

Fritz, Jürgen (1992). Spiele als Spiegel ihrer Zeit: Glücksspiele, Tarot, Puppen, Videospiele. Mainz: Matthias-Grünwald.

Genette, Gérard (1998). Die Erzählung (2. Aufl.). München: Fink.

Lehmann, Emmy (1957). Die Puppe im Wandel der Zeiten. Schriftenreihe des Deutschen Spielzeugmuseums Sonneberg. Leipzig, Thüringen: Urania.

Mattenklott, Gundel (2014). Heimlich-unheimliche Puppe: Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge. In: Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 29-42). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Müller-Tamm, Pia, Sykora, Katharina (1999). Puppen – Körper –Automaten. Phantasmen der Moderne. In: Pia Müller-Tamm, Katharina Sykora (Hg.), Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne. Köln: Oktagon.

Niehaus, Michael (2014). Franz Kafka. Erzählungen. Der Kaufmann, Das Urteil, Der Heizer, Vor dem Gesetz u. a. München: Oldenbourg.

Peiter, Anne D. (2014). Puppen, Alltag, Deportation: Fotos von in Frankreich lebenden jüdischen Kindern aus den 1940er Jahren. In: Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 231-248). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Regener, Susanne (1988). Das verzeichnete Mädchen. Zur Darstellung des bürgerlichen Mädchens in Photographie, Puppe, Text im ausgehenden 19. Jahrhundert. Marburg: Jonas.

Rusch, Waltraud (1994/5). „O Puppenseele“ – Rainer Maria Rilke und die Puppen. München: RPPR-Verlag.

Schmideler, Sebastian (2014). Bücherschicksale der „Puppe Wunderhold“: Die Erfolgsgeschichte eines Mädchenbuchs des 19. Jahrhundert In: Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. (S. 93-109). Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.



Über die Autorin / About the Author

Julia von Dall´Armi

M. A., Jg. 1980, Studienrätin am Gymnasium für Deutsch und Geschichte, derzeit abgeordnet an das Institut für Germanistik der TU Braunschweig, Abteilung Didaktik der deutschen Sprache und Literatur; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Literatur und Naturwissenschaften, (empirische) Leseforschung, Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht.

Julia Dalarmi

Korrespondenz-Adresse / correspondence address:

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