denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus
Kristiane Balsevicius
Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance
Abstract:
Vor dem Hintergrund der eigenen Familien- und Migrationsbiographie reflektiert
Kristiane Balsevicius die Bedeutung früher Puppen- und Puppenspielerfahrungen
im Kindes- und Jugendalter für ihre künstlerische Entwicklung als
Puppenspielerin, Regisseurin und Leiterin eines Figurentheaters. Im zusammenschauenden
Rückblick wird deutlich, dass frühe Emotionen und Spielthemen (z. B. Heimat,
Sehnsucht, Selbstbestimmung, Liebe) in ganz unterschiedlich gestalteten Puppenfiguren
und Inszenierungen für Kinder und Erwachsene wiederkehrend bearbeitet und künstlerisch
transformiert werden.
Schlüsselwörter: Puppenspiel in Kindheit und Jugend; biographische Spuren in der künstlerischen Entwicklung
Zitationsvorschlag: BALSEVICIUS, K. Títeres, Teddybären und Puppen in der Hand – Auf der Suche nach der eigenen Welt. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 75–80, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/110
Copyright: Kristiane Balsevicius. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 16.09.2021
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Abbildung 1: Spielpuppen
Ich war ein braves Kind, die Mittlere in der Schwesternreihe. Meine Kindheit
zwischen Kolumbien und Berlin war durch häufige Ortswechsel innerhalb meines
Geburtslandes und den Aufenthalten in der großmütterlichen Villa in der damals
ummauerten Stadt gekennzeichnet. Damit verbunden: häufige Schulwechsel,
vorübergehenden Trennungen (auch innerhalb der Familie), Neu-Anpassungen.
Mein Vater übermittelte die Angst vor den Russen, vor denen seine litauische
Familie weiträumig ins Ausland geflohen war. „Reisen“ und irgendwo „landen“
waren frühe Grundthemen im (Puppen-)Spiel mit der Schwester. Wir mussten in
all diesen Turbulenzen „funktionieren“. Und doch gab es auch Wut, Eifersucht,
Verlorenheit, sowie den tiefen Wunsch nach Anerkennung und das Bedürfnis
Grenzen zu überschreiten. Das Puppen-Spiel bot die Möglichkeit, Geboten auszuweichen
und sie auf anderer Ebene auszuloten und zu verwandeln.
Neben den sozialen und emotionalen Themen waren haptische Erfahrungen
für mich wichtig. Da war Neugier und Lust, Dinge anzupacken, das Material
zu spüren und zu erforschen: der gefühlte Schutz durch die Berührung des
kleinen Steiff-Teddys in der Faust zu Schulbeginn, das Experimentieren mit der
Veränderbarkeit des Materials, die Freude, selbst einen Ausdruck zu finden und
zu gestalten. Diese Lust ermöglicht mir bis heute, die Puppe buchstäblich auf
den Kopf zu stellen, in Spielzeugabteilungen die Füllung der Körper abzutasten,
die Beweglichkeit der Gelenke zu testen, das gekaufte Kuscheltier skrupellos zu
zerschneiden und den Ansatz der Gliedmaßen neu zu fixieren. So, jetzt kann sie
richtig laufen! Vielleicht noch ein kleines Gewicht in die Füße?
Welche Wege und Umwege hat der Entwicklungsverlauf von den früh prägenden
Puppenspielerfahrungen in der Kindheit bis zur professionellen Puppenspielerin,
Leiterin eines Figurentheaters und einer FigurenTeaterWerkstatt genommen?
Wie fing das an, was im Laufe von mehr als 45 Jahren Berufserfahrung
zu „Werk“ und „Schaffen“ wurde?
Abbildung 2: Dornröschen und Lieselotte
Den Spuren meiner frühen Kindheitserfahrungen folgend entdeckte ich, wie vielseitig ich in meinen frühen Puppenwelten Orientierung suchte und – meinem Entwicklungsstand entsprechend – die Lebensstationen in unserer unsteten Familie bearbeitete. Mit teilweise bizarren Übersetzungen der gelebten Herausforderungen hielt jede Entwicklungsphase ihre eigenen Spiele, Figuren und Themen bereit. Im Puppenspiel konnte ich Grenzen überschreiten, Verbote verletzen und dennoch die Regeln des sozialen Miteinanders aushandeln und in gewisser Weise achten. Ein frühes Beispiel:
Das strenge Verbot meiner Mutter, mit meiner dreijährigen Schwester gefährliche Sprünge von der ansteigenden Garten-Mauer zu üben, verwandelte ich in ein Spiel: ihre Puppe, die stehen konnte, stellte ich an die Kante. Sie stürzte sich nach unten – und war tot! Und noch mal, noch höher! Und noch höher!! Im Puppen-Format verschärfte sich der Raum dramatisch, meine Schwester war tief beeindruckt. Die Versuchung der lockenden Grenzüberschreitung war geblieben. Ich hatte meiner Mutter gehorcht – und sprang trotzdem.
Abbildung 3: Teddybären
Im Vorschulalter waren es die Menschen-Puppen (vgl. Abbildung 1), die jedoch
nie Fürsorge oder Familienalltag erfuhren, sondern eher „Härtetests“
ausgesetzt waren: Wie hoch können
sie fliegen? Kann man den Gummikopf
abmachen? Kann man sie unter
Wasser tauchen?
Abbildung 4: Anziehpuppen I
Die Babypuppen, die die Großmutter
uns in Berlin schenkte, wurden
nicht gewiegt, sondern gingen
zu tief ins Wasser und drohten – laut
Mahnung des Strandbads Wannsee –
zu ertrinken. Von der Teppichkante
des Wohnzimmers ließen wir sie den
Parkettboden entlang rutschen, bis
unter den Glasschrank. „Hilfe!! Hilfe!!“
Dann wurden sie gerettet –und
betraft! Auch dieses Spiel wiederholte
sich mehrfach. Wann ruft man um Hilfe? Wenn man zu früh und zu oft ruft,
um Aufmerksamkeit zu erringen, wird man nicht mehr gehört. Und auf gar keinen
Fall darf man nur aus Spaß um Hilfe rufen!
Es waren nie die fürsorglichen VaterMutterKind-Spiele. Die Gummipuppe
Lieselotte wurde gründlich untersucht, geknautscht (tolle Grimassen!), in
die Luft geworfen, unter Wasser getaucht, sie konnte beten, denn die Fingerchen
ließen sich ineinander klemmen und der Kopf ließ sich ab- und wieder
aufschrauben. Der befremdlich schönen Puppe Dornröschen (Schlafaugen) schnitt ich die langen Haare ab – und rührte sie nicht mehr an. Offenkundig
spielte ich lieber mit strapazierfähigen Puppen (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 5: Anziehpuppen II
Am Ende der Vorschulzeit, mit dem beginnenden
Schulalter, übernahmen die Stofftiere das
Geschehen. Sie boten dem Spiel ein viel breiteres
Spektrum durch ihre Verschiedenartigkeit in Größe,
Gestalt und Wesensart: Katze Misi, ein kleiner
Steiff-Terrier, Löwe Leo, Äffi, Hasi, Ente PlimPlim,
Panda Bär … Sie waren als Gruppe oft reisend unterwegs,
bestanden auf unterschiedliche Weise Abenteuer
und Prüfungen, erkundeten Landschaften und
neue Lebensräume. Im Ernstfall durften wir Kinder
auf Ausflügen oder Ferien-Reisen aber nur maximal
2–3 Tiere mitnehmen. Das hatte ein hartes Ranking
um den Platz des ersten „Welt-Sehers“ zur Folge.
Der winzige Teddybär, in Symbiose mit mir bei
der Einschulung in die bereits laufende Klasse, wurde
schon erwähnt. Auf Armeslänge, um mich herum,
hatte ich mein eigenes Universum. Im Garten
bäuchlings auf dem Rasen blickte man aus „Tettebärs“
Perspektive durch riesige Halme in einen Gänseblümchen-Wald. In der Weggefährtin Gertraude
fand ich eine Verbündete: unsere befreundeten Minibären
bewohnten von nun an in Jackentaschen oder
Schulmappe. Im Unterricht trafen sie sich heimlich
unter dem Schreibpult auf der Ablage, spazierten
zwischen den Büchern und den Heften – ein Stück
Freiheit und Triumph (vgl. Abbildung 3).
In den Jahren der Pubertät bis etwa zum 15.
Lebensjahr widmeten meine jüngere Schwester Isa
und ich uns intensiv den Anziehpuppen aus Papier.
Fast suchtartig spielten wir stundenlang ausgefeilte
und vielschichtige Konfrontationen auf dem Hintergrund
von realen Schulerfahrungen. Ich hatte bereits
den dritten Schulwechsel hinter mir, meine ältere Schwester die Erfahrung
in einem Internat. Ihre eindrucksvollen Geschichten aus dem Landschulheim von
seltsamen Zimmergenossinnen aus aller Welt und
ihrer schrecklichen Lehrerin beeindruckte Isa und
mich tief. Ausgebreitet auf dem Teppich als Schulklasse
eines fiktiven Internats ging es um Anpassung
und Bewahrung der eigenen Identität mit allen
gruppendynamischen Herausforderungen: Anführer,
Außenseiter, Streber, Machtkämpfe, Intrige
und Verschwörung. Man musste seinen Platz finden
zwischen Leistungsanforderung und klasseninterner
Gruppendynamik (vgl. Abbildung 4).
Die Lehrerin wurde von Isa und mir im Wechsel
gespielt und hieß Frau Spinnebein. Mit autoritär-gespreizten Gehabe stelzte sie vor der Klasse
auf und ab und machte im Frontalunterricht Druck
„von oben“: Rechnen, Aufsatzthemen und Abfragen.
Vor ihrem Aktionsbereich waren die Papierpuppen
verteilt. Links saßen die „Musterpuppen“, die schleimenden
Streberinnen, rechts hinten die Rebellierenden,
denen ja gleichermaßen die Schul-Leistung
abverlangt wurde.
Im Internat gab es kein Entkommen. Es bildeten
sich Banden oder Untergruppen, es gab Freundinnenpaare,
Zwillinge, Geschwister, Verliebte, Verschworene.
Sehr viele Puppen aus dem Mittelbereich
mussten sich im Laufe des Spiels positionieren. Es
wurde gepetzt und intrigiert, verleugnet und gelogen,
rebelliert und bestraft. All das war außerordentlich
spannend.
Wenn alles eskalierte, gab es Klassenkeile.
Dann mischten Isa und ich gemeinsam die Papierpuppen
wie einen Kartenhaufen und sangen dabei
gemeinsam mit Kopfstimme „Keilerei!! Keilerei!! Keilerei!!“. Arme und Beine verkeilten
sich, rissen ein oder sogar ab. Im Anschluss an solche kleinen Kriege schauten wir uns in aller Ruhe die Opfer an, malten Blut an die „Wunden“ und flickten
sie mit Klebeband. Die labilen Stellen (Hals, Arme, Füße) wurden rückseitig mit
Pappe verstärkt. Die uns wichtigsten Figuren hatten die dickste Verstärkung (vgl.
Abbildung 5).
Das Universum Schulinternat wurde immer wieder neu aufgemischt, wenn ein
Neuer oder eine Neue ins Spiel kam. Wir ergänzten die Papierpuppen zunächst durch
ausgeschnittene Models aus Zeitschriften, später malten wir eigene Figuren und statteten
sie mit Slogans, Pistolen und Schwertern aus. Wildwestfilme aus dem Fernsehen inspirierten
unsere Fantasien. Isa liebte Pierre Brice, den Winnetou, ich war bereits großer
Fan der Beatles. Wir schufen also Figuren, die Bezug zu diesen Welten hatten. Trat ein
„Neuer“ in die Klasse, ging es für den Gegenspieler darum, sein Rätsel zu ergründen,
denn es waren oft einsame Krieger:innen. Die Klassenstreber schleimten sich neugierig
an, der Boss einer bestehenden Klicke provozierte, die Lehrerin machte Druck und die
neue Figur kämpfte um einen Platz in diesem Haufen. Wie viel Geheimnis gebe ich
Preis, ohne dass es mich zu Fall bringt? Wem kann ich vertrauen? Wie bewahre ich
meine Integrität? Die von Lehrerin Spinnebein manchmal verordneten Aufsatzthemen
waren interessant, weil unsere wichtigsten Spielfiguren Stellung beziehen mussten:
„Was ist dein Lieblingstier?“ „Wie findest Du das Internat?“. Wir fühlten uns also in die
Charaktere ein und schrieben für jede Figur prägnante Statements auf kleine Zettel, die
wir einander vorlasen.
Der erste Kuss kam einer Entlassung aus der Kindheit gleich. Mein intensives
Papier-Puppenspiel wurde abrupt beendet. Es funktionierte nicht mehr, ich war verliebt.
Für eine kurze Zeit hatten die Puppen ausgespielt. Theater fand nun in zahlreichen
Schultheateraufführungen statt und machte mir viel Spaß, auch wenn mir das korporale
Spiel, das nur mit Schminke und bestenfalls Perücke und Kostüm eine Verfremdung
erfuhr, „zu nahe war“. Es sollte nicht lange dauern bis eine ganz neue Runde des Spiels
mit den Puppen eingeläutet wurde …
Abbildung 6: „Oh wie schön ist Panama“ I
Meine vage Vorstellung für Studium und Beruf war, „auf Abstand“ etwas mit Theater
zu tun haben zu wollen. Von daher war es wohl letztlich kein Zufall, dass ich gleich
im ersten Semester des Studiums der Theaterwissenschaft eine Lehrveranstaltung zu
„Theorie und Praxis des Puppenspiels“ belegte und bereits im zweiten Semester mit
sechs Studenten Regie-Erfahrungen machen durfte. Jetzt galt es, mein Tun zu analysieren,
um es zu vermitteln. Ich durfte die fragilen Stabfiguren mit der sogenannten Dreipunkt-Kopfmechanik und Führungsstäben für gelenkige Arme und Hände mit
nach Hause nehmen. Vor dem großen Kleiderschrankspiegel studierte ich gezielt Gesten,
Haltungen und Spiel-Tempo. Im stimmigen Miteinander entfaltete die Puppe ihre
große Wirkungskraft. Sie lebte!
Ich erkannte Möglichkeiten, die das Schauspiel bei Weitem übersteigen. Die Puppe
ist hochemotional, anrührend und immer besonders. Ich kann sie von der Schwerkraft
befreien und den Ausdruck ihrer Gefühle bis ins Groteske überzeichnen. Ihre
Lebendigkeit ist „ausgelagert“. Sie ist ein Instrument, mit dem ich spiele. Ich kann die
Puppe/die Figur/die Rolle sowohl anpacken und animieren, als auch komplett loslassen
und beiseitelegen. Ich kann Nähe und Abstand gleichermaßen ausbalancieren. Was
„kann“ die Puppe? Bewegt sie sich gut? Bewegt sie mich? Was erzählt sie mir mit ihrem
Gesicht, mit ihrem Körper, ihrer Silhouette? Funktioniert sie für das, was ich ausdrücken
möchte? Sie ist mein Ausdrucksmittel.
Da ich bald selber Puppen gestaltete, ergaben sich somit auch bildnerische Experimentier-Felder. Dabei stand die Theater-Figur immer in Bezug zum Raum, den
es gleichermaßen stimmig als eigene Welt zu gestalten galt. Er konnte realistisch bis
abstrakt sein. Puppenbau und Spiel gehörten für mich zusammen. Inszenierungen entstanden
nicht im Nacheinander der einzelnen Aufträge (Text schreiben, Puppenbau,
Bühnenbau, zuletzt Musik), sondern erprobten sich im
suchenden Nebeneinander, bis die endgültige Form gefunden
war – Chaos-Phasen inklusive.
Abbildung 7: „Oh wie schön ist Panama“ II
Das waren oft schmerzhafte Entstehungsprozesse, in denen Gefühle geweckt wurden, die mich überraschten und überrollten. Aber: Hatte ich mir die Titel nicht selbst ausgesucht? Intuitiv wählte ich wohl oft auch Stoffe, die tief mit alten, frühen Themenkreisen zu tun hatten.
Was ist Heimat? Ich entdeckte, dass der kleine Tiger in meiner Hand gar nicht auswandern wollte im Gegensatz zum Bären, der Fernweh hatte. Oh wie schön ist Panama spielt auf einer Drehbühne mit gekippter Spielfläche, die in der Drehung die Perspektive stark veränderte (vgl. Abbildung 6). Auf Armeslänge um meine eigene Körperachse laufen die Tiere konsequent im Kreis, um letztendlich auf dem Sofa zuhause Geborgenheit zu finden (vgl. Abbildung 7). Die Erzählerin spielt anfänglich sichtbar, verschwindet später hinter der Bühne (die kleinen Figuren agieren nun „selbstständig“) und tritt schließlich heraus, um die Geschichte loszulassen. Nur der Vogel fliegt als Schatten im hellen Hintergrund in die Ferne.
Abbildung 9: „Die kleine Meerjungfrau“ II
Abbildung 8: „Die kleine Meerjungfrau“ I
Um Sehnsucht und Fernweh ging es auch bei der kleinen Meerjungfrau, die sich
verliebt und alles aufgibt, um Mensch zu werden (vgl. Abbildung 8). Sie ist stumm
in der der neuen Welt, scheitert, löst sich auf als Luftgeist. Die Spielerin aber
spannt den Boden, wechselt die Perspektiven
von Nah auf Fern, ist mal Großmutter,
mal Hexe, singt „Gracias a la vida“. Auch
hier bleiben die schönen Puppen am Ende
stehen, als Momentaufnahmen tragischen
Erlebens, während die geheimnisvolle
Spielerin, barfüßig mit Bändern tanzend
den Bühnenraum füllt. Angekommen!
(vgl. Abbildung 9). Circa 40 kleine Köpfe,
auf unterschiedlichste Weise mit nackten
Händen im kleinen Rahmen oder im freien
Raum gespielt, eröffneten ein Panorama
zum Thema Liebe (vgl. Abbildung 10).
Das preisgekrönte Abendprogramm LIEBE und das ganze Theater sprengte das
gewohnte Handpuppenspiel und funktionierte im schnellen Wechsel unterschiedlichster
Charaktere im Wirbel der Gefühle (vgl. Abbildung 11).
Nach einer sehr viel später begonnenen Weiterbildung zum „Therapeutischen
Puppenspiel“ weiß ich heute, was ich schon lange ahnte: ich habe mich
mit meinen Inszenierungen selbst therapiert, Stück für Stück. Mit zunehmender
Sicherheit, Freiheit und Eigen-Präsenz lebte ich mich auf den Bühnen-Brettern,
die die Welt bedeuten, in jeder Aufführung aus.
Abbildung 10: „LIEBE und das ganze Theater“
Kann man davon leben? Basteln Sie die Puppen selber? Diese Fragen haben mich ein Leben lang als Puppenspielerin begleitet. Ja! Man kann davon leben und ja, ich gestalte meine Puppen selber! Ich habe z. T. sogar die Musik für die Stücke selbst geschaffen. Es war mir – vor allem bei den Solostücken – immer sehr wichtig, dass alles aus einem Guss ist. Wahrscheinlich arbeitete ich vorrangig als Solospielerin, weil ich (unbewusst) etwas alleine mit mir aushandeln wollte und die Fäden gern in der Hand behielt. Begleitet wurde ich immer von kompetenter, einfühlsamer Regie, die mich herausforderte und gleichzeitig schützte, kurzum „Geburtshilfe“ leistete. Im Bereich Bühnenbau, Technik und Licht unterstützten mich kluge, verlässliche Fachleute.
Abbildung 11: „LIEBE und das ganze Theater“
Die Haltung, das Spiel mit Perspektiven, die Puppe im immer neuen Bühnenraum, mitsamt ihren Gefühlen, greifen jedes Mal neu und anders ineinander. Und überhaupt: der Umgang mit Raum, die Drehbühnen und Verbindungsbrücken … Das Auf und Ab mit Koffern, Kisten, Spielrahmen und Stativen prägten jahrzehntelang den Gastspiel- und Tourneebetrieb. Manchmal mit dabei: der Auswanderungskoffer meiner Mutter in der Inszenierung „Pippi Langstrumpf“. Auf der Bühne packe ich als Spielerin einfache, skizzenhafte Tischfiguren heraus, die ich gezielt von außen anpacken, positionieren und bewegen kann.
Im Corona-Lockdown nach all den Jahren innezuhalten, veranlasste mich, Abstand zu gewinnen und Grenzen zu akzeptieren. Ich machte in meiner Werkstatt Inventur und war beeindruckt von der Fülle des inspirierenden Materials, das sich über die Jahrzehnte angesammelt hatte.
Abbildung 12: „Flasche“ und „Lotte“ – Figurenbau eines Jungen (6 J.) und Mädchen (8 J.)
Ich sortierte,
sinnierte: Muss ich selber (noch)
Theater spielen? Auf der Bühne stehen?
Handwerkliches Tun einerseits, die Analyse
andererseits – das bleibt. Die Mischung
aus hoher Emotionalität und distanzierter
Betrachtung beim Umgang mit Puppen
prägt meinen Beruf und meine Berufung.
Die Faszination, die Figur sowohl animieren/
anpacken als auch komplett loslassen
zu können, Nähe und Abstand – eine gute
generative Balance.
Ein Therapiekind gestaltete in meiner
Werkstatt ein großartiges Monster, die Enkel
meiner Freundinnen bauen zur Zeit Stabfiguren und Handpuppen (vgl. Abbildung
12). Jedes Mal explodiert Spielfreude. Ich sehe genau diesen Moment,
wenn die Kinder dem Geschöpf auf der Flasche gegenüber neugierig die Arme bewegen, ich sehe, wie diese kleine Bewegung von außen Fassungslosigkeit
und Staunen hervorruft, weil das Gegenüber, das sie anschaut, „lebt“. Ich lehne
mich zufrieden zurück, weil das Spiel beginnt ... die Puppen sprechen, sie heißen
„Flasche“ und „Lotte“ ...
(Copyright aller Abbildungen: © Kristiane Balsevicius)
Abbildung 1: Spielpuppen
Abbildung 2: Dornröschen und Lieselotte
Abbildung 3: Teddybären
Abbildung 4: Anziehpuppen I
Abbildung 5: Anziehpuppen II
Abbildung 6: „Oh wie schön ist Panama“ I
Abbildung 7: „Oh wie schön ist Panama“ II
Abbildung 8: „Die kleine Meerjungfrau“ I
Abbildung 9: „Die kleine Meerjungfrau“ II
Abbildung 10: „LIEBE und das ganze Theater“ I
Abbildung 11: „LIEBE und das ganze Theater“ II
Abbildung 12: „Flasche“ und „Lotte“ – Figurenbau eines Jungen (6 J.) und Mädchen (8 J.)
Studium der Theaterwissenschaft und Pädagogik an der FU Berlin; KOBALT-Figurentheater seit 1980 mit eigener Werkstatt in Berlin Neukölln; Inszenierungen für Kinder und Erwachsene (http://www.kobalt-berlin.de/stuecke.html); Solound Ensemblespiele im In- und Ausland; Regiearbeiten, Lehraufträge, Veröffentlichungen sowie Projekte mit Neuköllner Grundschülern.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
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