denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.4 Nr.1 (2021) | Rubrik: Fokus
Ida Kammerloch / Mona Hesse
Focus: Puppen als Seelenverwandte – biographische Spuren von Puppen in Kunst, Literatur, Werk und Darstellung
Focus: Dolls/puppets as soulmates – biographical traces of dolls/puppets in art, literature, work and performance
Abstract:
Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um eine Aufbereitung der Videoarbeit
Resusci Anne (2019/2020) von Ida Kammerloch, die exklusiv über den Link am
Ende des Beitrags angeschaut werden kann. In enger Zusammenarbeit haben die
Künstlerin Ida Kammerloch und die Kuratorin Mona Hesse einen Kommentar zum Film
kreiert, der sich aus Filmstills, Grafiken, Hintergrund-Informationen und Kommentierungen
zusammensetzt.
Schlüsselwörter: Resusci Anne; Trainingspuppe; Videokunst; Frauenfiguren
Zitationsvorschlag: KAMMERLOCH, I.; HESSE, M. Resusci Anne Zwischen Wieder-Belebung und Zur-Ware-Werden. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 4, n. 1, p. 103–116, 16 Sep. 2021. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/114
Copyright: Ida Kammerloch / Mona Hesse. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 16.09.2021
Um auf Zusatzmaterial zuzugreifen, besuchen Sie bitte die Artikelseite.
Ida Kammerloch verwebt in ihrer Videoarbeit Resusci Anne (2019/2020) die
Geschichten von zwei jungen Frauen, um deren Tode sich unzählige Mythen
ranken. Die Künstlerin wird dabei selbst Teil dieser Erzählung, in der sie
sich im Videobild inszeniert. Sie kreuzt beide Frauenfiguren sprachlich wie bildlich
miteinander.
Der Titel der Videoarbeit bezieht sich auf die standardisierte Trainingspuppe
Resusci Anne, im Englischen Rescue Annie oder CPR-Annie genannt. Entwickelt
wurde die Puppe Mitte der 1950er Jahre von dem norwegischen Hersteller Laerdal
Medical und dient seither weltweit dem Erlernen und Trainieren der Herz-Lungen-
Wiederbelebung.
Ein weiterer Erzählstrang in der Videoarbeit bezieht sich auf den brutalen
Mord an einer russischen Travelbloggerin und angehenden Ärztin im Juli 2019.
Was passiert bei der fragmentarischen Gleichschaltung und Überblendung dieser
beiden Narrative?
Bei den Zeichnungen im Beitrag handelt es sich um Abbildungen aus der
originalen Gebrauchsanweisung, die von der Künstlerin modifiziert wurden. Die
Grafiken zeigen ursprünglich Männerhände, die die Puppenteile auseinandernehmen.
Durch die Verlängerung der Fingernägel wird mit diesem Aspekt gespielt.
Die „Parts List“ aus dem Handbuch der Wiederbelebungspuppe zeigt, was alles
im Koffer enthalten ist. In Ida Kammerlochs Version gibt die Liste an, welche
Materialien und Gegenstände im Film vorkommen und fungiert damit ebenfalls
gewissermaßen als eine Art Evidence Board und Quellenangabe.
Resusci Anne ist der offizielle Name der standardisierten Trainingspuppe, die zum Erlernen und Trainieren der Herz-Lungen-Wiederbelebung (CPR) im Rahmen der Ersten Hilfe eingesetzt wird. In den 50er Jahren von Laerdal Medical entwickelt, wird die Puppe seither in allen Schulungen weltweit eingesetzt. In einem Interview erwähnte Asmund Laerdal, dass die Wahl eines weiblichen Übungsobjekts gewährleistete, dass Männer größeres Interesse am Erlernen von Wiederbelebung zeigen würden. Als das „meist geküsste Gesicht der Welt“, gibt Resusci Anne so immer wieder vor. in Lebensgefahr zu schweben, nur um erneut reanimiert zu werden.
>> “Annie, are you ok Annie?”
Für das Erscheinungsbild dieses neuen Produkts zog der aus der Spielzeugindustrie stammende Asmund Laerdal ein bereits existierendes Gesicht als Vorlage heran. Angelehnt an eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Totenmaske, erhielt Resusci Anne das Gesicht eines ertrunkenen Mädchens. Auch bekannt als die Unbekannte aus der Seine (L’Inconnue de la Seine) oder auch Mona Lisa of Suicide, soll sich das junge Mädchen der Legende nach Ende des 19. Jahrhunderts infolge einer unglücklichen Liebesaffäre in der Seine das Leben genommen haben. Ergriffen von dem tragischen Schicksal kombiniert mit den rätselhaften Todesumständen gewann die Maske im 20. Jahrhundert an großer Popularität. Im Prozess der Kommodifizierung wurde das Abbild des jungen Mädchens zum Massenprodukt, populären Souvenir und dekorativen Einrichtungsgegenstand. Als ideale Projektionsfläche und Phantasma der perfekten Muse diente sie als Grundlage unzähliger literarischer wie künstlerischer Werke, vorrangig männlicher Künstler.
>> “An endless history in a single thing. Escorted to climax by toymakers, doctors, pathologists, photographers, painters, writers, filmmakers, musicians, and a thousand other men I won’t mention here.”
Eine russische Travelbloggerin, Instagram Influencerin und angehende Ärztin wird ermordet in ihrem Reisekoffer gefunden. Für kurze Zeit ist ihr Schicksal weltweit viraler Gegenstand, was post mortem zu einer Verdoppelung ihrer Follower auf Instagram führt. Als im Zuge der Ermittlungen aufgedeckt wird, dass die junge Frau ihren luxuriösen Lebensstil mit einem Doppelleben als Escort finanziert hat, gerät die 24-Jährige in den russischen Medien stark in Kritik. In einer der quotenstärkten russischen Talkshows werden unzählige der insgesamt 651 Instagramposts der Ermordeten auf vermeintliche Zusammenhänge untersucht.
>> “A line I read on the Internet hits me hard.”
Was passiert bei der fragmentarischen Gleichschaltung und Überblendung dieser beiden Narrative?
In ihrer Videoarbeit erforscht Ida Kammerloch beide Frauenfiguren filmisch und verbindet Fragmente beider Erzählungen bildlich, wie sprachlich miteinander. Man sieht die Künstlerin in ihrem Atelier, Fotografien unter einer Lupe betrachtend, Requisiten sammelnd oder über Ebay, Instagram und andere Internetseiten scrollen, Informationen und Bildmaterial akkumulierend. Auf Ebay bestellt sie diverse Objekte, darunter ein gebrauchtes Exemplar einer Resusci Anne. Aufbewahrt und geliefert wird die Puppe in einem Koffer versehen mit Gebrauchsanleitung und Hygieneutensilien. Einer Spurensicherung gleich, öffnet Ida Kammerloch den Koffer und inspiziert den Inhalt.
Als Objekt mehrdeutig interpretierbar, streift der Koffer neoliberale Dispositive der Mobilität und Flexibilität. Zum einen unverzichtbarer Reisebegleiter, die Kapsel, welche unsere Habseligkeiten für ein mobilisiertes Leben umfasst. Ein Symbol der Sehnsucht sich der alltäglichen Passivität zu entziehen, sich zu optimieren, Erfahrungen zu sammeln und zu intensivieren.
Wer erfüllt in unserer Gesellschaft die Voraussetzungen dafür? Welcher Pass, welches Kapital, welcher globale Stellenwert ist von Bedeutung? Welche Körper zirkulieren auf welche Weise?
Zum anderen verwandelt sich ein unbeaufsichtigtes Gepäckstück an stark frequentierten Orten, wie Bahnhöfen oder Flughäfen schlagartig in eine potenzielle Bedrohung, ein Objekt des Terrors.
Das Reisen steht eng in Verbindung mit einem weiteren Leitmotiv: Wasser. Erst ertrunken und immobilisiert in Gips, erweckt die Unbekannte aus der Seine das Interesse ihrer Zeitgenossen. Google Street View-Aufnahmen der Seine, die den besagten Auffindungsort der Ertrunkenen zeigen sollen, tauchen neben Pools, Stränden, Sonnenuntergängen und populären Frau-Wasser Darstellungen der Kunstgeschichte auf, wie beispielsweise die Ophelia von John Everett Millais, die die Narration weiter verdichten. Als Katalysator und Raum für Projektionen fungiert Wasser somit als tödliches wie vitalisierendes Element.
>> “Woman, water, tantalizing combination.”
Ein weiteres Tool bei der Erforschung und Konstituierung beider Frauenfiguren ist die Maske. Als Sinnbild von Gesellschaften und stetigem Bedeutungswandel ausgesetzt, scheint die Maske unendlich manipulierbar. Adaption, Imitation, kultureller Transfer, Appropriation, Tradition, Mutation, Kommodifizierung. Mal tritt sie im Film als Plastikobjekt mit glatter Oberfläche auf, als feuchtigkeitsspendende Tuchmaske auf dem Gesicht der Künstlerin, dann wieder als kulturelles Sammelobjekt oder Instagram Filter.
Welche Fluchtlinien verstecken sich hinter unseren Abbildern, den Totenmasken, den digitalen Masken?
>> “Look at these photographs I took at several Russian cemeteries. It’s impossible to see their faces without touching the grave. But who would do that? It is said that even taking these kinds of photos brings misfortune.”
Gleichermaßen das Gesicht überlagernd, erscheinen ovale Portraits, die die Künstlerin in einer dunkelhaarigen Perücke hinter Blumenbouquets zeigen. Die diesen Aufnahmen zu Grunde liegenden kurzen Texte stammen aus Instagram Posts der Verstorbenen.
Während Ida Kammerloch weder das Gesicht der Influencerin zeigt, noch ihren Namen nennt, dienen diese Zitate, sowie Fragmente aus den Reise- und Beauty Schnappschüssen als Substitut bei der Annäherung an die Person hinter dem Schlagzeile. Vorstellungen von Romantik und Heteronormativität verschmelzen mit klassischen Medienkonstrukten bestehend aus weiblichem Opfer, romantischem Tatmotiv und tragischem Ende.
Die anachronistische Montage beider Narrative lässt beide Identitäten fluide und zu einem einzigen mythischen und allegorischen Korpus verschmelzen, in dem die penetrante Normativität von Frauenbildern thematisiert und rekontextualisiert wird. Resusci oder Rescue kann auch mit Befreiung übersetzt werden und ist somit nicht die Reanimierung eines Mythos, sondern eine Hinterfragung unserer patriarchalen und westlichen Narrative. Instagram, digitale Bildgeschichte, in der wir uns scheinbar nur selbst deuten und kanonisieren.
Basic survival. What does that mean? A minimum viable audience. Losing oneself in a proliferation of digital masks. My autoicon an everyday strategy. I forgot how to interact with this world that is presented to me as series of products day after day. What is it that you could offer people that would provide value to them? Listen. You can’t just have a life. You are condemned to design it. Why producing more products? Why don’t you be your own bestselling product?
Just as if living were your primary market. Authenticity, a skill to appropriate. Look at me. I have written a couple of books. One is about how to travel the world by controlling a green screen. Would you mind telling me if you have a passport?
In ihrer Videoarbeit Resusci Anne (2019/2020) untersucht Ida Kammerloch popkulturelle Figuren, Bilder und Mythen. In intensiver Recherche entdeckt sie verschachtelte Geschichten und erkundet die Welten hinter der berühmten Reanimationspuppe. Auch in ihren anderen künstlerischen Arbeiten erkundet Kammerloch populäre, unbekannte, flüchtige Frauenfiguren aus den Massenmedien. Sie erscheinen in ihren transdisziplinären Werken (Video, Text, Fotografie, Installation) als soziokulturelle Projektionsflächen und Mittler ihrer Untersuchungen. Dabei deckt sie Darstellungskonventionen des Weiblichen und Prozesse der Kommodifizierung auf.
[1] Auf den folgenden elf Seiten wurde die Angabe der Seitenzahlen herausgenommen, um das Kunstwerk davon unberührt ‚als solches‘ wirken zu lassen.
Video Resusci Anne (2019/2020) von Ida Kammerloch abrufbar unter: https://vimeo.com/376271629 Passwort: passport
Filmstills aus Resusci Anne (2019/2020) von Ida Kammerloch Grafiken von Ida Kammerloch
Benkard, Ernst (1929). Das ewige Antlitz. Frankfurt: Frankfurter Verlags-Anstalt.
Bernhardt, Sarah (1907). Memories of My Life: Being My Personal, Professional, and Social Recollections as Woman and Artist. Boston: D. Appleton.
Chaudhuri, Shohini (2006). Feminist Film Theorists. London: Routledge.
Citton, Yves (2019). Mediarchy. Cambridge: Polity.
Ebenstein, Joanna (2016). The Anatomical Venus. London: Thames & Hudson.
Federici, Silvia (1998). Caliban And The Witch: Woman, The Body, and Primitive Accumulation. Ohne Ort: KNV Besorgung.
Lovink, Geert (2019). Sad by Design: On Platform Nihilism. London: Pluto Press.
Saliot, Anne-Gaëlle (2015). The Drowned Muse: Casting the Unknown Woman of the Seine Across the Tides of Modernity. Oxford: Oxford University Press.
Filmstills aus Resusci Anne (2019/2020) von Ida Kammerloch Grafiken von Ida Kammerloch
Jg. 1991; Studium der Freien Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saar Saarbrücken; 2019 Meisterschülerin bei Prof. Lanz; 2020–2022 Stipendiatin der Karl Schmidt-Rottluff Stiftung; internationale Ausstellungstätigkeit u. a. in Moskau, Valencia, Luxemburg; lebt und arbeitet in Wien.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
studio@idakammerloch.com
Jg. 1990; MA-Studium der Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig; 2017–2019 Wissenschaftliche Volontärin am Kunstmuseum Celle; Studienaufenthalte an der University of East London und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte, Paris; freie Kuratorin und Kulturmanagerin in Hannover
Korrespondenz-Adresse / correspondence address
monahesse@posteo.de