denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.5 Nr.1 (2022) | Rubrik: Fokus
Jana Scholz
Focus: Literarische Narrative – Puppen in Romanen,
Erzählungen und Kinderlyrik
Focus:
Literary narratives – dolls/puppets in novels,
stories and children’s poetry
Abstract:
Das Essay setzt Kazuo Ishiguros Roman Klara und die Sonne von 2021 in einen
Bezug zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann von 1816. Beide literarischen
Texte thematisieren die Wirkung aothropomorpher Artefakte auf die
menschlichen Fignren innerhalb der e rzählten Welt. Es wird herausgearbeitet, inwiefern
lshiguros Romao auf Hoffmanns Erzählung referiert. Dabei wird deutlich, dass beide literarischen
Texte die Grenze zwischen Mensch und Ding infrage stellen, ohne sie jedoch
aufzulösen. Mit den sehr unterschiedlichen Erzählweisen beziehen beide Te.i:te die Lesenden
ein und lassen sie gewissermaßen teilhaben an der ,Menschwerdung' der anthropomorphen
Artefakte.
Schlüsselwörter: Anthropomorphe Arte fakte, Fiktion , Wahrnehmung
Zitationsvorschlag: Scholz J., Anthropomorphe Artefakte und literarische Fiktion. Uber Kazuo lshiguros Roman Klara und die Sonne und E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 5, n. 1, p. 26-33, 17 Okt. 2022. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/127
Copyright: Jana Scholz. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 17.10.2022
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Der 2021 erschienene Roman Klara und die Sonne des britisch-japanischen Autors und Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro handelt von der ‚Künstlichen Freundin‘ (KF) Klara. Sie ist eine solarbetriebene Roboterin, die geschaffen wurde, um Kindern Gesellschaft zu leisten und sie zu behüten. Klaras Geschichte beginnt in einem Geschäft, in dem sie an eine Familie verkauft werden soll. Hier wird der Geschäftsführerin schnell klar, dass Klara besonders ist: Sie hat eine ungewöhnliche Beobachtungsgabe. So kommt die „KF“ zu Josie, einer Jugendlichen, die unter einer nicht näher beschriebenen Krankheit leidet. Klara wird tatsächlich ihre beste Freundin und fügt sich gut in das Familienleben ein. Sie prägt sich Abläufe schnell ein und studiert darüber hinaus genauestens das Verhalten und die Stimmungen von Josie und deren Mutter sowie die Beziehung zwischen den beiden. Ishiguros Klara erfasst ihre Welt nicht nur im Sinne einer rechnenden Informationsverarbeitung. Je mehr sie von ihrer Außenwelt mitnimmt, desto mehr bildet sie eigene Gefühle und Ansichten aus – und entwickelt sogar eine eigene Spiritualität (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: Kazuo Ishiguro: Klara und behind a window (1942) die Sonne. Roman-Cover. München: Karl Blessing Verlag (2021)
Kazuo Ishiguro referiert mit seinem Roman
auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann
von 1816. Für seine Hauptfigur wählt er den Namen
‚Klara‘ in deutscher Schreibweise und stellt
damit den Bezug zu einer der Hauptfiguren in Hoffmanns berühmtem Text her:
Hier ist Klara die Künstliche Freundin eines kranken Kindes, dort ist Clara die
kritische, klarsichtige Verlobte eines jungen Mannes, dem Studenten Nathanael,
der sich in die Automate Olimpia verliebt (vgl. Abbildung 2)
Hoffmann hat mit seiner Erzählung das Narrativ des menschenähnlichen
Artefakts bis heute stark geprägt. Über 200 Jahre später knüpft Ishiguro mit
seinem Roman an Hoffmann an und führt das Narrativ gewissermaßen einen
Schritt weiter – von der Illusion in die Realität, vom Schein zum Sein. Denn
während Hoffmanns
Olimpia nur menschlich
wirkt, entwickelt
Klara tatsächlich unverwechselbar
menschliche
Eigenschaften. Um zu
unterstreichen, dass sie
Menschen ähneln und
von ihnen geschaffen
wurden, bezeichne ich
Olimpia und Klara im
Folgenden als anthropomorphe
Artefakte.1
Anthropomorphe Artefakte und literarische Fiktionen befinden sich in einem Spiegelverhältnis: Nicht nur sind beide menschengemacht und in gewisser Weise menschenähnlich (man denke etwa an die Erzählinstanz oder die Figuren innerhalb der erzählten Welt) – sie können auch Agency entwickeln,wenn Menschen in Dialog mit ihnen treten. Dies geschieht in besonderer Weise, wenn die literarische Fiktion die Erschaffung anthropomorpher Artefakte thematisiert. In diesem Essay sollen zwei literarische Texte in Beziehung gesetzt werden, bei denen genau das der Fall ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie Hoffmanns Der Sandmann und Ishiguros Klara und die Sonne als literarische Fiktionen die anthropomorphen Artefakte menschlich erscheinen lassen und dabei selbst Agency entwickeln.
Im Sandmann ist die Automate Olimpia bereits bei der ersten Begegnung mit
Nathanael hinter einer Glastür verborgen. Der Student schaut durch einen kleinen
Spalt, den die sonst „dicht vorgezogene Gardine“ lässt und erblickt Olimpia,
deren Augen ihm starr scheinen (Hoffmann 2009, 24f.). Auch im weiteren Handlungsverlauf
ist das anthropomorphe Artefakt nur über den Sehsinn präsent und
zugleich hinter (Fenster-)Glas versteckt: Nathanael blickt von seinem Fenster in
ein Zimmer
wo oft Olimpia einsam saß, so, daß er ihre Figur deutlich erkennen konnte, wiewohl die Züge des Gesichts undeutlich und verworren blieben. Wohl fiel es ihm endlich auf, daß Olimpia oft Stundenlang in derselben Stellung, wie er sie einst durch ihre Glastüre entdeckte, ohne irgend eine Beschäftigung an einem kleine Tische saß und daß sie offenbar unverwandten Blickes nach ihm herüberschaute; er mußte sich auch selbst gestehen, daß er nie einen schöneren Wuchs gesehen; indessen, Clara im Herzen, blieb ihm die steife, starre Olimpia höchst gleichgültig und nur zuweilen sah er flüchtig über sein Compendium herüber nach der schönen Bildsäule […] (ebd., 34).
Abbildung 2: Hugo Steiner-Prag: The Tales of Hoffmann: Woman behind the window (1942)
Auch in Ishiguros Roman ist die Künstliche Freundin Klara zunächst im Fenster eines Geschäfts ausgestellt, von wo aus sie Kundinnen und Kunden anlocken soll. Die Geschäftsführerin, von Klara schlicht ‚Managerin‘ genannt, wundert sich hin und wieder über diese ungewöhnliche Roboterin, die zwar nicht zur technisch innovativsten Serie gehört, aber die Menschen auf der Straße bis ins Kleinste studiert. ‚Managerin‘
hatte uns gelobt und gesagt, wir hätten „schön und würdevoll“ ausgesehen im Fenster. Unterdessen war die Beleuchtung im Laden heruntergefahren worden, und wir waren im hinteren Teil und lehnten an der Wand […]. Als Managerin fragte, ob ich einen schönen Tag gehabt hätte, ergriff ich die Gelegenheit, um die traurigen Kinder vor dem Fenster zu erwähnen. „Klara, du bist wirklich bemerkenswert“, sagte Managerin leise, um Rosa und die anderen nicht zu stören. „Du nimmst so viel wahr und in dir auf.“ (Ishiguro 2021, 18).
In dem vergleichbaren Grundsetting werden sowohl Olimpia als auch Klara objektifiziert und durch ein Fenster zur Schau gestellt. Die Fensterscheibe trennt scheinbar die Welt der Objekte und der Subjekte, der Artefakte und der Menschen. Doch im Sandmann erwacht Olimpia erst mithilfe eines mechanischen Instruments, eines Fernglases zum Leben – und zwar in Nathanaels Schauen:
Um die Mitte unseres vierten Vormittags im Fenster sah ich, wie draußen ein Taxi langsamer wurde […]. Josies Blick war auf mich geheftet, als sie aus dem Wagen stieg. Sie war blass und dünn, als sie auf uns zukam, sah ich, dass ihr Gang sich von dem der anderen Vorübergehenden unterschied. […] Ich schätzte sie auf vierzehneinhalb. Als sie so nah war, dass die Fußgänger alle hinter ihr vorbeigingen, blieb sie stehen und lächelte mich an. „Hallo“, sagte sie durch die Scheibe. „Hey, kannst du mich hören?“ […] Ich war aber angesprochen worden und durfte daher das Kind direkt ansehen, das Lächeln erwidern und ermutigend nicken. (Ishiguro 2021, 19).
Es ist das Schauen, dass die nicht-menschlichen Gestalten in den Augen der Menschen besonders werden lässt; in der optischen Wahrnehmung, die immer auch imaginierend ist, entsteht Bindung.2 In Ishiguros Roman entsteht diese Bindung aber nicht nur vor der Fensterscheibe, sondern auch dahinter: Klara sucht geradezu extrem nach Kontakt, sie wünscht nichts sehnlicher, als gekauft zu werden und einer Familie zu dienen. Die Erzählperspektive erlaubt dabei einen unmittelbaren Einblick in Klaras innere Welt. Ganz anders im Sandmann: Hoffmann nutzt eine auktoriale Erzählinstanz, die gezielt darüber im Unklaren lässt, ob das Empfinden und Denken, im übertragenen Sinne, ‚jenseits der Fensterscheibe‘ stattfindet. Bei einem Ball fordert der Student Olimpia zum Tanz auf:
Eiskalt war Olimpia’s Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. Und auch in Nathanael’s Innerm glühte höher auf die Liebeslust, er umschlang die schöne Olimpia und durchflog mit ihr die Reihen. (Hoffmann 2009, 39).
An „der ganz eignen rhythmischen Festigkeit, womit Olimpia tanzte und die ihn oft ordentlich aus der Haltung brachte, merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt“ (ebd.). Der Erzähler formuliert stets so, dass Olimpia grammatisch wiederholt als Subjekt aufscheint; beim genaueren Lesen scheint es jedoch vielmehr so, dass nicht Olimpia tanzt, sondern dass ein (mechanischer) Rhythmus sie tanzen lässt; dass es nicht ihres Lebensblutes Ströme sind, die Olimpias Hände glühen lassen, sondern Nathanaels, der ihre kalte Hand erwärmt; dass sie nicht Nathanael anschaut, sondern ihre Augen seine Liebe und Sehnsucht im physikalischen Sinne spiegeln. Schließlich sieht Olimpia ihn nicht an, sondern ihr Auge „strahlt ihm entgegen“. Sie wird vom Erzähler durchweg nur scheinbar subjektifiziert. Anders als bei Ishiguro ist die Fensterscheibe, durch die die erste schauende Begegnung stattfindet, vielmehr ein Spiegel: der als Projektionsfläche unerfüllter Wünsche fungiert. So gibt Nathanael in der für Hoffmann typischen komisch-ironischen Erzählweise in einem Brief an seinen Freund Lothar einen Hinweis darauf, dass es tatsächlich „[s]einer Augen Blödigkeit“ (ebd., 18) ist, die seine Weltwahrnehmung bestimmt.
Im Sandmann sind es die Gedanken und Gefühle Nathanaels, Claras und des Erzählers, die wir erfahren, nie aber Olimpias. Bei Ishiguro hingegen ist es die Roboterin, die die Lesenden daran teilhaben lässt, wie sie die Welt des Zwischenmenschlichen entdeckt. Dabei wird Klara sogar zur Vermittlerin der Liebe. Als Rick, Nachbarsjunge und Josies Freund seit der frühsten Kindheit, sich nach einem Streit verletzt von Josie abwendet, erklärt Klara dem Jungen Josies Gefühle und ihr ablehnendes Verhalten. Auf diese Weise gelingt es ihr, die gekappte Freundschaft zu kitten. Die vielschichtigen, komplexen Gefühle der beiden Kinder und ihrer Eltern, die diese selbst nicht durchschauen, bringt sie pointiert auf den Punkt und entwirrt dabei die verstrickten Beziehungsfäden:
„Auch ich bin der Meinung, dass Josies Worte manchmal unfreundlich waren“, sagte ich. […] „Josie ist beunruhigt wegen des Plans. Ich denke, sie glaubte, dass Ricks Mutter Rick deshalb nicht gehen lassen möchte, weil sie die Einsamkeit fürchtet, die sich für sie daraus ergeben würde.“ (Ishiguro 2021, 164).
Klara verwendet wie selbstverständlich Formulierungen wie „ich bin der Meinung“,
„ich denke“, „ich habe die Hoffnung“ (ebd., 166), „ich empfinde“ (ebd.,
346). Hier wird die Verwandtschaft von Hoffmanns Clara und Ishiguros Klara
deutlich: Sie sind beide in der Lage, Beziehungsgeflechte zu durchschauen. Denn
ganz ähnlich hilft Clara in einem Brief dem von Ängsten geplagten Nathanael
„auf die Sprünge“: „Gerade heraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich
meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem
Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig Anteil
hatte“ (Hoffmann 2009, 21). Bleibt jedoch Claras geordnete Weltsicht für den zur
emotionalen Ekstase neigenden Nathanael zutiefst ungenügend, ist Klaras Sicht
auf die Beziehungsgeflechte zwischen den Jugendlichen und deren Eltern eine
große Hilfe für beide Familien. So erscheinen die Menschen im Roman gelegentlich
als Marionetten Klaras, eine ähnliche Konstellation wie zwischen Nathanael
und Olimpia. Diese Form der Agency der beiden Figuren Klara und Olimpia kann
als implizites Plädoyer gewertet werden, die Grenze zwischen Ding und Mensch
infrage zu stellen.
So überrascht es nicht, dass Klaras einziges Ziel das Glück Josies ist – und
sie einen Plan entwickelt, deren Krankheit zu heilen. Und zwar mithilfe der
Sonne, die auch ihr selbst essenzielle Energie liefert. Josies Mutter dagegen hat
einen anderen Rettungsplan: Sie lässt den ‚Künstler‘ Mr Capaldi eine Nachbildung
Josies erschaffen, die ihr bis ins Detail gleicht. Nach Josies sich andeutendem
Tod soll Klara mit ihrer großen Beobachtungsgabe das Werk vollenden
und Josie, von ihrer Art zu gehen und zu sprechen bis hin zu ihren Gedanken
und Gefühlen, imitieren. Sie soll Josie „fortsetzen“ (Ishiguro 2021, 348) – wie
das im Detail funktionieren soll, wird zwar nicht erläutert. Aber vermutlich soll
Klaras ‚Software‘ auf die Nachbildung Josies übertragen werden.
Warum das jedoch nie hätte funktionieren können, erklärt Klara ‚Managerin‘
bei einer zufälligen Begegnung am Ende des Romans.
Mr Capaldi glaubte, es gebe nichts Besonderes in Josies Innerem, das sich nicht fortsetzen ließe. Gegenüber der Mutter sagte er, er habe gesucht und gesucht und nichts dergleichen gefunden. Aber ich glaube jetzt, er hat am falschen Ort gesucht. Es gab nämlich sehr wohl etwas Besonderes, aber nicht in Josie. Es war in denen, die sie geliebt haben. Deshalb denke ich heute, Mr Capaldi hatte unrecht, und es wäre nicht gelungen. (ebd.).
Die Figur des Mr Capaldi greift das wissenschaftlich-alchemistische Dreiergespann
Coppola/Coppelius/Spalanzani im Sandmann auf. Dies geschieht auch
hier über die Namensähnlichkeit, die in beiden Texten eine italienische Herkunft andeutet. Mr Capaldi soll im Auftrag von Josies Mutter eine artifizielle Kopie
der Tochter schaffen. Bei Hoffmann sind die Schöpfer anthropomorpher Artefakte
hingegen männlich konnotiert – so gilt Spalanzani als ‚Vater‘ Olimpias:
„Sie haben sich außerordentlich lebhaft mit meiner Tochter unterhalten […]. Nun,
nun, lieber Nathanael, finden Sie Geschmack daran, mit dem blöden Mädchen
zu konversieren, so sollen mir Ihre Besuche willkommen sein“ (Hoffmann 2009,
40f.). Josies Mutter kommt dem Gelingen dieses Vorhabens aber viel näher als
Hoffmanns männliches Wissenschaftler-Trio. Denn mit Klara hat sie ein anthropomorphes
Artefakt, das nicht nur Tochter Josie genauestens studiert, sondern
das auch selbstständig denkt und fühlt.
Klara ist jedoch überzeugt, dass Menschen nicht kopierbar sind: Sie sind
einzigartig in dem Beziehungsgeflecht, in dem sie sich bewegen; in der Bindung
anderer Menschen an sie. Das Paradoxe ist, dass Klara in dieser Logik
zu den Menschen zählen müsste. Auch sie erfährt Anerkennung und Zuneigung:
zuerst von ‚Managerin‘, später von Josie, die sie so gern in ihrer Nähe
hat, aber auch von Rick und Josies Mutter. Dass aus Klaras Sicht das Experiment
einer ‚kopierten‘ Josie zum Scheitern verurteilt ist, liegt an der strikten,
hierarchischen Grenzziehung zwischen Menschen und KFs in Ishiguros erzählter
Welt. Da sie selbst erfährt, dass diese Trennlinie von Seiten der Menschen
in Bezug auf sie selbst nicht aufgebrochen wird, obwohl sie mit ihrem
Wesen vielmehr zu deren Welt zählt, ist sie sicher, dass sie auch andersherum
nicht überschritten werden kann. Ein Mensch kann nie auf die Seite der KFs
treten, wie auch eine KF nie zu den Menschen zählen kann.
Eine andere wichtige Botschaft aus ihrem Gespräch mit ‚Managerin‘
lässt sich auf ebendiese Grenze zwischen Menschen und Artefakten bei Hoffmann
übertragen. Es ist der Blick eines Menschen, der Bindung herstellt –
und dabei ist es im Prinzip unwesentlich, wie die Beschaffenheit des geliebten
Objekts ist. Liebe liegt buchstäblich im Auge der Betrachtenden. In dieser
Beziehung zwischen Subjekt und Objekt entsteht Einzigartigkeit, die nicht
kopierbar ist. Daran verzweifelt Nathanael, da er sich, aus der Perspektive
seines sozialen Umfelds, das falsche Bindungsobjekt gewählt hat.
Die Trennung zwischen Menschen und anthropomorphen Artefakten
bleibt also in beiden Texten strikt. Alle Figuren bewegen sich nah an dieser
Linie, überschreiten sie in beide Richtungen, aber letztlich bleibt es ein unauflösliches
Gesetz: Anthropomorphe Artefakte dürfen nicht wie Menschen
behandelt werden. Daran ändert nicht einmal Klaras Spiritualität etwas, die
von niemandem verstanden wird – was auch daran liegt, dass Klara daraus
ein Geheimnis macht. Die solarbetriebene KF entwickelt nämlich im Laufe
der Erzählung den Glauben, dass die Sonne nicht nur ihr neue Energie gibt,
sondern auch Josies Krankheit heilen könne. Eine Scheune in der Nähe von
Josies Wohnhaus, die die Sonne jeden Abend mit warmem Licht erfüllt, bevor
sie untergeht, wird daher zu ihrem Gebetsraum. Doch lange geschieht nichts,
weswegen die KF glaubt, dass die Umweltverschmutzung daran schuld sei.
Schließlich gibt sie mit der Unterstützung von Josies Vater etwas von ihrer
„PEG-9-Lösung“, die für ihre Leistungsfähigkeit und ihr Wohlbefinden essenziell
ist, in eine Teermaschine, die aus ihrer Sicht Ursprung der Umweltverschmutzung
ist (vgl. Ishiguro 2021, 259ff.). Nach diesem Opfer und nach
langem Warten kommt schließlich tatsächlich der Moment, in dem Klara die
Jalousien und Vorhänge in Josies Zimmer aufreißt und die Sonne in voller Intensität
auf Josie scheint: Sie schickt ihre ‚Besondere Hilfe‘. Danach gesundet
die Jugendliche.
Doch niemand erkennt Klaras erfolgreiche Bemühungen an. Als die Roboterin
im Gespräch mit ‚Managerin‘ darlegt, was Josie aus ihrer Sicht unersetzlich
gemacht hat, antwortet diese bloß: „Das höre ich immer am liebsten,
wenn ich meine KFs wiedertreffe – dass ihr froh seid, wie alles gelaufen ist.
Dass ihr nichts bedauert“ (ebd., 348). Dieses Verkennen von Klaras Reflexionen,
ihrer emotionalen Kompetenz und ihrem Geschick, das Leben Josies
zum Guten zu wenden, zieht sich durch den gesamten Roman. Es ist
nur Rick, Josies Freund, der Klara nebenbei wiederholt wertschätzt für ihre
Intelligenz (ebd., 164ff.) und sie offenbar für fähiger als sich selbst hält. Auch
hier spielt Ishiguro auf das Verhältnis zwischen Olimpia und Nathanael an:
Denn in gewisser Weise stehen sich Rick und die KF sehr nahe, mit dem großen
Unterschied, dass Klara im Gegensatz zu Olimpia wirklich geistvoll und
empfindungsfähig ist. In der Künstlichen Freundin Klara kombiniert Ishiguro
also die Hoffmannschen Figuren Olimpia und Clara. Zunächst tritt Klara wie
Olimpia als menschengemachtes und menschenähnliches Artefakt in Erscheinung,
im Laufe des Romans entwickelt sie sich jedoch immer mehr hin zu
Clara – was einer Menschwerdung gleicht. Der Autor verunklart damit Klaras
Status und verunsichert dabei auch die Einordnung durch die Lesenden, wie
unten noch beschrieben wird.
Im Sandmann formuliert der Erzähler ironisch, dass nach der tragischen
Geschichte um Nathanael und die Holzpuppe Olimpia alle Herren von ihrer Geliebten
verlangten, dass diese „nicht bloß höre, sondern auch manchmal in der
Art spreche, daß dies Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze“
(Hoffmann 2009, 46f.). In beiden Texten wird die Frage aufgeworfen, ob es nicht
vielleicht die Menschen sind, denen Geist und Empfindung fehlt: Denn warum
genügt es in der Hoffmannschen Welt, Gedanken und Gefühle zu spielen? Und
warum erkennt niemand, dass Klara mit ihren für Roboter einzigartigen Fähigkeiten
die Grenze zu den Menschen hin überschreitet und sie entsprechend behandelt
werden müsste?
Die Tragik der Künstlichen Freundin Klara liegt denn auch darin begründet, dass ihr Umfeld sie trotz ihrer fast menschlichen Einzigartigkeit der Welt der Dinge zuordnet. So wird die KF am Schluss des Romans auf eine Art Schrottplatz gebracht, einem Hof für nicht mehr verwendete Bauteile. Ihre Erinnerung verschwimmt zunehmend, und doch ist sie voller Gedanken, Gefühle und Reflexionen:
Dennoch füllen solche Erinnerungszusammensetzungen meinen Geist manchmal ganz lebendig und realistisch, und ich vergesse lange, dass ich in Wirklichkeit hier im Hof auf dem harten Boden sitze. […] Als ich hierherkam, dachte ich zuerst, der Hof sei unaufgeräumt, inzwischen aber erkenne ich seine Ordnung und weiß sie zu schätzen. Dieser ursprüngliche Zustand, so ist mir aufgefallen, kam dadurch zustande, dass viele hier gelagerte Gegenstände ihrerseits von unaufgeräumten Wesen sind – das gilt zum Beispiel für die vorstehenden Reste abgetrennter Kabel oder verbeulte Gitterplatten. Bei genauerer Betrachtung wird klar, wie sehr sich die Hofarbeiter angestrengt haben, um jedes Maschinenteil, jede Kiste und jedes Bündel zu systematischen Reihe zu ordnen, sodass ein Besucher, der durch die so geschaffenen langen Gänge geht – auch wenn er vorsichtig sein muss, um nicht zu stolpern – in der Lage ist, jedes einzelne Objekt zu betrachten. (Ishiguro 2021, 343f.).
Klara endet an einem Ort, der die im Roman sorgsam aufgebaute Personifizierung eines technischen Artefakts in einen extremen Kontrast zur unbeseelten, leblosen Welt der Dinge setzt. Entgegen ihrer Entwicklung, an deren Ende Klara sich selbst einen „Geist“ zuspricht (ebd., 343), verbringt sie den Rest ihres Daseins neben toten Maschinenteilen – ausgesondert wie Abfall. Anthropomorphe Artefakte stellen immer auch die Frage nach den Grenzen zwischen Mensch und Ding. Werden sie in ihrer Materialität funktionslos, können sie wie andere Dinge auch zu Abfall werden, was aufgrund ihrer Menschenähnlichkeit besonders irritierend ist (vgl. hierzu Scholz 2018). Für diejenigen, die etwas wegwerfen, geht das Entsorgte in einen chaotischen Zustand über. Das Weggeworfene bedarf keiner Ordnung mehr, da es keine Funktion mehr erfüllt. Und doch entdeckt die Klara in den aussortierten Dingen auf dem Hof eine Struktur, eine Systematik. Sie akzeptiert damit zwar ihr eigenes Schicksal als ‚Abfall‘, drückt jedoch gleichzeitig aus, dass die Grenzlinie zwischen Dingen und Menschen etwas Willkürliches hat und keineswegs selbstverständlich ist. Claras Schicksal, mit dem Der Sandmann endet, ist ebenso offen wie Klaras:
Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können. (Hoffmann 2009, 49).
Trotz dieses wie gezeichneten Bildes voller Harmonie ist aufgrund der ungewissen
Erzählweise nicht sicher, dass Clara wirklich dieses Glück gefunden hat („will man
[…] Clara gesehen haben“, „Es wäre daraus zu schließen […]“). Zudem wird nur
das Setting, in dem sich Clara befindet, positiv beschrieben (ein „schönes“ Haus,
ein „freundlicher“ Mann, „muntre“ Knaben), wir erfahren aber nicht, wie es Clara
damit geht; ob dieser Ausgang, der vielleicht ohnehin nur eine Vision des Erzählers
ist, ihren Wünschen entspricht. Versteht man Klaras Ende als Verweis auf das von
Clara, den Schrottplatz als Anspielung auf die ländliche Idylle, erscheint es fast wie
ein ‚Ausrangiertsein‘ in die emotionale Einsamkeit; als wären auch ihre psychologischen
Kompetenzen funktionslos geworden. Die Namensähnlichkeit der beiden
Figuren betont, dass Klara keine Wiederholung der Olimpia ist, sondern mehr und
mehr zu Clara geworden ist. Doch beide stoßen mit ihren Fähigkeiten an die Grenzen
ihres sozialen Umfelds.
Entgegen der Warnungen Claras nimmt Nathanael bis zuletzt nicht wahr,
dass Olimpia kein Mensch ist. So ist deren Ende wiederum für ihn (und womöglich
auch für die Lesenden, die unter Einfluss der verunsichernden Erzählinstanz
stehen) ein Schock. Er kommt zu einem Streit zwischen Spalanzani
und Coppola hinzu: „Der Professor hatte eine weibliche Figur bei den Schultern
gepackt, der Italiäner Coppola bei den Füßen, die zerrten und zogen sie hin und
her, streitend in voller Wut um ihren Besitz“ (ebd., 44). Im Gefecht zerbrechen
Phiolen, Retorten, Flaschen, gläserne Zylinder; „alles Gerät klirrte in tausend Scherben zusammen. Nun warf Coppola die Figur über die Schulter und rannte
mit fürchterlich gellendem Gelächter rasch fort die Treppe herab, so daß die
häßlich herunterhängenden Füße der Figur auf den Stufen hölzern klapperten
und dröhnten“ (ebd., 44f.). Das zerbrechende Glas, Sinnbild für die imaginative,
Dinge lebendig werdende Wahrnehmung, verliert seine magische Wirkung.
Erstmals erkennt Nathanael Olimpias artifizielle Materialität, nimmt ihre Holzfüße
wahr. „Olimpia’s toderbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer
schwarze Höhlen; sie war eine leblose Puppe“ (ebd., 45). Wie Ishiguro spielt
auch Hoffmann mit dem Oszillieren des Artefakts zwischen seiner Belebung
und seiner Materialität, die es der Welt der Dinge zuordnet.
Man könnte Klara und die Sonne als Entwicklungsroman eines anthropomorphen
Artefakts lesen: Eine Roboterin wird zu einer gläubigen, reflektierten Persönlichkeit
mit eigenen Einschätzungen und Absichten – sie gleicht den Menschen
nicht nur äußerlich, sondern entwickelt ein weit über die rechnende Funktionalität
hinausgehendes (verborgenes) Innenleben. Klaras Emanzipation geschieht
dabei auch auf erzählerischer Ebene: Die Gedanken und Empfindungen dieser
Ich-Erzählerin werden den Lesenden vollständig dargeboten – in ihrer Naivität
ebenso wie in allen kognitiv-technischen Herausforderungen, die sie zu bewältigen
hat. Wenn etwa ihr Blickfeld sich in zahlreiche Kästen unterteilt, weil eine
soziale Situation sie überfordert (vgl. Ishiguro 2021, z. B. 86ff., 123ff.); wenn sie
über eine Wiese läuft und der unebene Boden ihr die Orientierung erschwert
(vgl. ebd., 181ff.); wenn sie auf dem Schrottplatz sitzt und ihre Erinnerungen chaotisch
über sie kommen (vgl. ebd., 342f.). Diese Schilderungen ermöglichen eine
Nähe zur Hauptfigur, die in ihren Schwächen Identifikationsraum bietet. Die Erzählperspektive
schreibt den Lesenden einen Standpunkt zu, der weit über dem
der anderen literarischen Figuren liegt. Während diese Klara verkennen, sehen
die Lesenden ihre Entwicklung und vollziehen damit womöglich das, was die
intradiegetischen Figuren nicht tun: Klara als Menschen wahrnehmen und ihre
Einzigartigkeit anerkennen. Der literarische Text ist somit Teil ihrer ‚Menschwerdung‘,
indem er die Lesenden in eine Situation bringt, in der sie für ein anthropomorphes
Artefakt Mitgefühl und Sympathie verspüren. Dadurch ist er auch
in der Lage, die Lesenden zu verunsichern, da sie die Hauptfigur des Romans
nicht mehr klar in bestehende Kategorien einordnen können.
Auch Hoffmanns Erzählweise adressiert die Lesenden und schreibt ihnen
die Rolle zu, das anthropomorphe Artefakte zu personifizieren. Mit einem
Erzähler, der so unzuverlässig ist, dass die Lesenden über das Erzählte keine
Gewissheit erlangen können, wird Nathanaels Perspektive gespiegelt: Wie Nathanael
können auch die Lesenden die Geschehnisse nur vermittelt wahrnehmen
(durch Glas = den Erzähler = ein fiktionales Medium), sie haben keinen Zugriff
auf die erzählte Welt an sich. In diesem raffinierten Spiel mit dem Medium der
literarischen Fiktion treten die Lesenden in Interaktion mit dem Text und befragen
ihn immer aufs Neue. So wie Olimpia in der imaginierenden Wahrnehmung
Nathanaels Leben gewinnt, so bezieht die unbestimmte Erzählweise die
Lesenden in die Animation des Erzählten ein und lässt sie die Belebung Olimpias
‚mitschreiben‘. Die literarische Fiktion gewinnt auf diese Weise Agency.
Beide anthropomorphen Artefakte entwickeln Wirkmächtigkeit über die
intradiegetischen Figuren. Dabei bleibt Olimpia ein von diesen Menschen imaginativ
belebtes Artefakt, Klara hingegen zeigt Ichbewusstsein, Emotionen,
planendes Handeln, Erinnerungsfähigkeit und Spiritualität. Die Wirkmächtigkeit
der anthropomorphen Artefakte geht dabei noch über die Textgrenzen
hinaus, da beide literarischen Texte die Lesenden in die Personifizierung, in
die ‚Menschwerdung‘ involvieren. Das Ende der beiden anthropomorphen Artefakte
spiegelt dann auch den animierenden, performativen Leseakt, an dessen
Ende die Belebung der literarischen Fiktion abbricht und der Text wieder in die
Welt der unbelebten Dinge übergeht.
[1] Zur Erläuterung des Begriffs ‚anthropomorphe Artefakte‘, siehe Scholz (2019, 10ff.; 68). Die Definition, wie ich sie dort vorgeschlagen habe, habe ich für die beiden hier untersuchten literarischen Texte verkürzt.
[2] Zur These, dass anthropomorphe Artefakte im imaginierenden Wahrnehmen animiert werden und Agency entwickeln, siehe Scholz (2019).
Hoffmann, E. T. A. (2009). Der Sandmann. In Hartmut Steinecke (Hg.), E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke. Text und Kommentar. Unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen (S. 11-49). Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag.
Ishiguro, Kazuo (2021). Klara und die Sonne (aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden). München: Karl Blessing Verlag.
Scholz, Jana (2019). Die Präsenz der Dinge. Anthropomorphe Artefakte in Kunst, Mode und Literatur. Bielefeld: Transcript.
Scholz, Jana (2018). Puppenhüllen. Die aufblasbare Puppe in einem Film von Hirokazu Kore-eda und in Installationen von Clemens Krauss. In Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), denkste:puppe (1)(S. 73- 83). Siegen: universi – Universitätsverlag Siegen. Online unter: https://dedo.ub.uni-siegen.de/index. php/de_do/article/view/16
Abbildung 1: Kazuo Ishiguro (2021): Klara und die Sonne. Roman. Cover. Karl Blessing-Verlag: München. (Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Schaden). München: Karl Blessing Verlag (Umschlaggestaltung: Stardust München, nach einem Entwurf von Faber & Faber, London).
Abbildung 2: Hugo Steiner-Prag: The Tales of Hoffmann: Woman behind a window (1942). Part of a series: “From old Germany: The Tales of Hoffmann, newly translated by Eugene Jolas; illustrated with lithographs in color by Hugo Steiner-Prag and printed by William Edwin Rudges’s Son, New York”; accession numbers 78.837-78.850b. Leo Baeck Institute at the Center for Jewish History. Zugriff am 25.06.2022 unter: https://artsandculture.google.com/asset/the-tales-of-hoffmann-woman- behind-a-window-steiner-prag-hugo/_wH6wEz36AMddg
Jana Scholz
B.A.-Studium der Europäischen Literaturen in Marburg und Barcelona; M.A.-Studium der Vergleichenden Literatur- und Kunstwissenschaft in Potsdam; Promotion zur Agency menschenähnlicher Artefakte in Kunst, Mode und Literatur; Arbeit in der Wissenschaftskommunikation und als freie Autorin; Forschungsschwerpunkte: dingliche Agency und künstlerische Kommunikationsstrategien, Performativität, Body und Gender Studies.
Korrespondenz-Adresse / Correspondence address:
jana.scholz@uni-potsdam.de