denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.5 Nr.1 (2022) | Rubrik: Fokus
Insa Fooken
Focus: Literarische Narrative – Puppen in Romanen,
Erzählungen und Kinderlyrik
Focus:
Literary narratives – dolls/puppets in novels,
stories and children’s poetry
Abstract:
Puppen als anthropomorphe Wesen fordern Menschen dazu auf, mit ihnen zu interagieren
Treffen Pnppe und Mensch aufeinander, entsteht durch die Pnppe ein
Handlungsanreiz im Sinne einer puppenspeziftschen A.ffordanz, die im menschlichen
Gegenüber das innerpsychisch.e Wechselspiel von Identität und Alterität anregt.
Die These des Beitrags lautet, dass der Puppe situativ eine Alterität als psychologisches
Narrativ eingeschrieben ist: Die Puppe wird als alter wahrgenommen, was mit dem Bewusstsein
für ego einhergeht. Es ist ein Alteriätsangebot der Puppe mit performativem
Potenzial für das menschliche Gegenüber. Das Zusammentreffen von Alteritäts-Narrativ
(seitens der Pnppe) und neuer Selbstvergewisserung (seitens des Menschen) findet
sich auch in literarischen Texten. Am Beispiel von zwei Erzählungen -Ein Emigrant
(1914/1930) von Selma Lagerlöf und Popp und Mingel (1960) von Marie Luise Kaschni12
-wird diesen Überlegungen nachgegangen: Zwei heranwachsende Jungen greifen das Alteritäts-
Narrativ der Pnppe als Potenzial für die AusdiJferenzierung ihres Selbstkonzepts
auf, was dazu führt,dass sie sich für eine gewisse Zeit aus Geschlechtsrollenklischees
entlassen können.
Schlüsselwörter: Alterität, Affordanz, performatives Potenzial, Geschlechterrollen
Zitationsvorschlag: Fooken I., Alterität als Narrativ der Puppe. Selbstvergewisserung und Lösung aus Geschlechtsrollenklischees im Spiel mit Puppen.denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 5, n. 1, p. 26-33, 17 Okt. 2022. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/128
Copyright: Insa Fooken. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. ( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 17.10.2022
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Weil Anderssein, so, wie es sich in den stummern Bildern aufrührerisch zeigt, mehr hergibt. Und zulässt. (Gisela von Wysocki, 2021, 157).
Puppenaffine Motive und Themen haben in den diversen Gattungen von Literatur, Kunst, Theater, Medien und Technik eine lange Tradition, die von der Antike bis in die heutige Gegenwart reicht. Die in diesen Werken konstruierte Beziehungsgestalt zwischen Puppe und Mensch enthält in gewisser Weise ein psychologisch grundiertes Puppen-Narrativ – das der Alterität, im Sinne einer der Puppe eingeschriebenen Alterität. Auch wenn der Begriff Narrativ hier etwas ungewöhnlich klingen mag, ist er bewusst gewählt. Es soll damit deutlich gemacht werden, dass es nicht nur um allgemeine Merkmale und Wirkungen von Puppen geht, sondern dass die Puppe darüber hinaus eine situativ wirksame, sinnstiftende Botschaft kommuniziert, ein Narrativ, das besagt: „Ich bin anders als Du, aber mein Anderssein ist gleichzeitig ein Teil von Dir“. Das wiederum hängt mit der Affordanz der Puppe zusammen (vgl. Gibson 1979/1982), dem Handlungsangebot, das die Puppe durch ihre spezifischen Eigenschaften in einer konkreten Begegnungssituation von Puppe und Mensch an diesen, ‚ihren‘ Menschen richtet. Stimmen Handlungsanreiz der Puppe und psychische Gestimmtheit des Menschen überein, werden Prozesse der Selbstdifferenzierung angeregt. Das wiederum verweist auf das performative Potenzial solcher Puppe-Mensch Konstellationen (vgl. Abbildung 1). Im Folgenden wird diesen Überlegungen noch etwas weiter nachgegangen, um sie dann auf zwei literarische Texte beispielhaft anzuwenden.
Abbildung 1: Yaya Coulibaly (2022): Wall of puppets (Ausschnitt). (Foto: Insa Fooken, documenta 15, Kassel, 23.06.2022).
Wenn künstliche (Puppen-)Menschen und reale Menschen miteinander in
Beziehung treten, werden die Puppen zu Projektionsflächen der oft unbewussten
Vorstellungen, Absichten, Bedürfnisse und Phantasien ‚ihrer‘ Menschen. Puppen
können hier als Alter Ego, erweitertes Ich, Hilfs-Ich, Stellvertreter, Doppelgänger,
Schatten etc. fungieren. Die Puppe kann dabei in unterschiedliche gestalteten
Varianten und Formaten auftreten: als literarische Figur, als bildnerisch gestaltetes
Geschöpf, als technisch designter Automat oder Roboter, als geführte Puppe
im Figurentheater, als virtueller Avatar oder auch als Kinderspielzeug. Fast immer
enthalten solche Mensch-Puppen-Konstellationen auch fiktionale und/oder
phantastische Anteile (vgl. Brittnacher 2013; Drux 2001). Manche Puppen-Wesen
strahlen dabei eine Aura des „Unheimlichen“ aus, die Angst und Schrecken verbreitet
(vgl. Jentsch 1906; Freud 1919/1970). Andere Puppen wiederum regen die
mit ihnen (inter)agierenden Kinder und Erwachsene an, sich auf Unbekanntes
einzulassen. Die Puppe kann dabei die Funktion eines Übergangsobjekts haben
(vgl. Winnicott 1973), was vor allem bei solchen Puppengeschöpfen passiert, die
Vertrauen, Verlässlichkeit und (psychische) Sicherheit ‚ausstrahlen‘. Oft erspüren
bereits sehr junge Kinder das Paradoxe solcher Situationen, in denen Puppen
als Ko-Akteure von Interaktion und Kommunikation ‚agieren‘, lassen sich aber
durchaus auf den ‚als-ob’-Charakter (Packer u. Moreno-Dulcey 2022) bzw. auf
ein „dual bookkeeping“ (Rakoczy 2022, 3) des Geschehens ein: Sie wissen, dass
die scheinbar wie Menschen agierenden Puppen keine ‚echten‘ Menschen sind,
dass es aber hilfreich sein (und Spaß machen) kann, so zu tun, als ob sie es wären.
Ohnehin sind Puppen selten eindeutig, sondern wirken widersprüchlich
und fordern die Ambiguitätstoleranz und Ambivalenzfähigkeit ihrer menschlichen
Gegenüber heraus (vgl. Lüscher 2012): „Sie sehen aus, als wären sie
Menschen und zugleich nicht, oder als wären sie keine Menschen und zugleich
doch“ (Tawada 2000, 218). Auch diese den Puppen zugehörige Ambiguität gehört
zu ihrer Alterität und Affordanz. In der Beziehung zu den Menschen, die
sich von ihnen angesprochen fühlen, akzentuieren Puppen die Ähnlichkeit mit
ihrem menschlichen Gegenüber, bringen gleichzeitig aber auch ihr Anderssein
ins Spiel, das als ein auf den Menschen bezogenes ‚Anderes‘ bewusst wird. So
nimmt das sich wechselseitig bedingende (psychologische) Spiel von Identität
und Alterität seinen Lauf:
Ich kann nur dann im eigentlichen Sinn Bewusstsein von mir haben, wenn ich dabei etwas anderes als mich selbst in mein Bewusstsein aufnehme. Das Bewusstsein des ego setzt die Wahrnehmung des Anderen –alter– voraus (Raible 1998, 7).
Genau dann, wenn die ‚Alterität der Puppe‘ als ein auf das eigene Selbst bezogenes
‚Anderes‘ wahrgenommen wird, werden Prozesse der Selbstdifferenzierung
sowie der De- und Re-Konstruktion von Identität angestoßen. Ähnliche Prozesse
laufen auch ab, wenn auf der Bühne des Figurentheaters eine einzigartige
Ko-Präsenz („unique co-presence“; Piris 2020, 180), eine ‚Selbst-Ander-Beziehung‘
zwischen Puppenspieler:in als bewusstseinsfähigem Menschen und der
Puppe als Objekt, hergestellt wird – es findetr eine höchst produktive Form des
‚Uneins-Seins‘ statt (vgl. Burgholzer u. Hochholdinger-Reiterer 2020). So konstituiert
sich etwas, was als performatives Potenzial des Alteritäts-Narrativs der
Puppe bezeichnet werden kann.
Angeregt durch einige literarische Texte, in denen es neben anderen Themen auch
um die Beschäftigung und das Spiel von (heranwachsenden) Jungen mit Puppen
geht, sollen die hier angestellten Überlegungen zum Puppen-Narrativ der Alterität
und seines performativen Potenzials im Kontext mit Geschlechtsrollen-Stereotypien
betrachtet werden. Nicht von ungefähr wird das Thema Puppe oft mit Konformität
und Anpassung an stereotypisierte Vorgaben von Genderrollen verbunden.
So gelten für den Bereich der Kindheit Puppen als ein geschlechtstypisiertes
Spielzeug (für Mädchen) und werden, tendenziell pejorativ, als normativ-einengend
und kindlich-weiblich konnotiert. Puppenwelten sind Mädchenwelten, meist in der
Farbe Rosa. Auch wenn es für beide Geschlechter zahlreiche, hinsichtlich ihrer
Geschlechtsmerkmale hyperstereotypisierte Puppen gibt – klassische Barbie-Puppen
für Mädchen, Action-Figuren für Jungen – betrifft die partielle Abwertung
der Puppenwelten weitaus häufiger die weiblichen Puppenszenarien. Das wiederum
geht einher mit einer weitgehenden Tabuisierung der (Mädchen-)Puppenwelten
für Jungen. Sie müssen sich von diesen Puppen fernhalten, wenn sie als ‚richtige
Jungen‘ gelten wollen, sowohl in den Augen ihrer gleichgeschlechtlichen Peers als
auch bei Erwachsenen, die in bestimmten Milieus und Subkulturen gleichfalls davon
ausgehen, dass Puppenspiel für Jungen unangemessen ist (vgl. Fooken 2012,
102f., 138ff.). Demnach müssen Jungen bei einem möglichen Interesse an Puppen
davon ausgehen, als ‚unmännlich‘ etikettiert und sanktioniert zu werden. Demnach
müsste die hier postulierte Alterität der Puppe von Jungen kategorisch abgelehnt
und abgewehrt werden um der Geschlechtsrollen-Norm zu entsprechen, während
sie bei Mädchen eher ein Angebot für das Ausprobieren von Verhaltensvarianten
darstellen würde.
In einer Ende des 19. Jahrhunderts (sic!) durchgeführten Befragung zum
beobachteten Spiel von Kindern mit Puppen (vgl. Ellis u. Hall 1897) spielten interessanterweise
drei Viertel der Jungen durchaus mit Puppen oder hatten mit
ihnen gespielt. Allerdings wurde auch deutlich, dass ihnen der Zugang oft nur
zu bestimmten Puppen oder nur zu einer bestimmten Form des Mitspielens zugestanden
wurde. In einer späteren Untersuchung zum geschlechtsrollentypischen
Spielverhalten von Vorschulkindern, die in den 1960er Jahren in der DDR
durchgeführt wurde (vgl. Lippelt 1968), spielte etwa ein Fünftel der Jungen mit
Puppen, gaben das aber nur ‚verschämt‘ zu. Da hier auch die Eltern der Kinder
befragt wurden, zeigte es sich, dass insbesondere die Väter das Puppenspiel ihrer
Söhne ablehnten. Dabei zeigt die einschlägige Fachliteratur aus dem Kontext von
Literaturdidaktik und Kunst- und Theater-Pädagogik, dass starre Geschlechtsrollenklischees
im Zusammenhang mit em Puppenthema durchaus aufgehoben
werden können. So kann sich eine gut moderierte Form der Annäherung an Puppenfiguren
durchaus auch für Jungen als eine besondere Erfahrung der Identitätsentwicklung
und Selbstdifferenzierung ‚entpuppen‘ (vgl. Weber 2014). Auch
in der neueren Kinder- und Jugendliteratur wird die Begegnung und das Spiel
mit Puppen für Jungen zwar nicht immer als problemfrei thematisiert, bedeutet
aber fast immer eine positiv akzentuierte Erweiterung der Persönlichkeit und des
Erfahrungshorizonts (vgl. Mikota u. Fooken 2021).
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Thema Puppen und (erwachsene)
Männer meist anders konnotiert wird als es für männliche Kinder und
Heranwachsende der Fall ist. So ist die Puppe als idolisiertes und wirkmächtiges
Objekt der Begierde von Männern und Männerphantasien ein Topos, der
seit Jahrhunderten ungebrochen Konjunktur hat (vgl. Drux 2006), selbst wenn er
unter dem Vorzeichen von Exzentrik und Normabweichung steht. Meist ist die
Puppenaffinität hier ein Distinktionsmerkmal, das eine besondere Form künstlerischer
Kreativität suggeriert.
Im Folgenden soll die Idee der Alterität als ein der Puppe eingeschriebenes Narrativ exemplarisch für Fragen zur Genderrollen-Sozialisation von Jungen untersucht werden. Es geht um den Stellenwert von Puppen als Spielobjekte im Kontext des Heranwachsens zweier männlicher Kinder, die als Hauptprotagonisten in zwei literarischen Texten fungieren. Zum einen handelt es sich um die Erzählung Die Puppe als Erzieherin bzw. Der Emigrant von Selma Lagerlöf (1914) und zum anderen um die Kurzgeschichte Popp und Mingel von Marie-Luise Kaschnitz (1960). Das Handlungsgeschehen in den beiden Texten spielt in unterschiedlichen historischen Zeiten und Räumen. In beiden Geschichten geht es aber um die schwierige psychosoziale Situation von zwei heranwachsenden Jungen, die sich mit Alleinsein und Einsamkeit auseinandersetzen müssen und sich dabei auf das Spiel mit einer geschenkten Puppe bzw. mit einer selbst kreierten ‚Puppenfamilie‘ einlassen – im Bewusstsein dessen, dass sie damit gegen normativ vorgegebene Geschlechterrollen verstoßen. Beide literarischen Figuren konstruieren den Begegnungszusammenhang zwischen sich und den Puppen als einen offenen, mit Phantasie angereicherten Übergangsraum (vgl. Winnicott 1953), in dem sie versuchen, ihre innere psychische Befindlichkeit und die (normativen) Anforderungen der Außenwelt auszutarieren. Dies gelingt ihnen für eine gewisse Zeit, indem sie sich die Alteritäts- Spielräume der Puppen für eine stabilisierende Selbstvergewisserung aktiv zu eigen machen.
Im Jahr 1914, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, publizierte die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1858-1940) auf Deutsch die Erzählung Die Puppe als Erzieherin (Lagerlöf 1914a). Sie erschien in der Osterbeilage der Wiener „Neuen Freien Presse“ und kurze Zeit später auf Schwedisch unter dem Titel En Emigrant (Lagerlöf 1914b). In einer später in Deutschland publizierten Sammlung von Erzählungen (Lagerlöf 1930) wurde für diesen Text auch der Titel Ein Emigrant verwendet (vgl. Thomsen 2013). Beide Titelversionen akzentuieren wichtige Aspekte. So übernimmt die Puppe im Übergangsraum zwischen Kindheit und Erwachsen-Werden die Aufgabe einer ‚doppelten‘ Erzieherin und steht sowohl für die vom Jungen als fordernd wahrgenommene Außenwelt als auch für seine sich allmählich ausdifferenzierende Innenwelt und Selbst-Bildung. Und es geht auch darum, sich aus der Kinderwelt zu lösen und aus dem geschützten Übergangsraum zu ‚emigrieren‘, ohne das, was zurückgelassen wird, zu vergessen, abzuwerten oder abzuspalten. Wovon handelt die Erzählung? Der kleine Junge Fritz Hernquist wächst vaterlos auf. Er lebt zusammen mit seiner Mutter in bescheidenen Verhältnissen. Die Mutter betreibt einen Obst- und Gemüseladen im Keller, hat wenig Zeit und der Junge sitzt meist alleine, eifersüchtig auf die Kundschaft, unterm Ladentisch. Als Dreijähriger erhält er zu Weihnachten von der Mutter eine „große Bubenpuppe“ (Lagerlöf 1914a, 31) in Matrosenuniform. Auf der Mütze ist der Name aufgestickt: Laban. Fritz ist konsterniert: „[…] der Knabe [mochte] die Puppe gar nicht ansehen. […]. Er sagte gerade heraus, er wolle nicht mit Puppen spielen, er, der doch ein Junge war“ (ebd.). Aber die Mutter ist geduldig und redet Fritz gut zu:
[…]. Du glaubst gar nicht, wie viel er von allem weiß, was sich einmal in der Welt zugetragen hat.“ Nein, das ging doch über den Spaß. Die dumme Puppe dorten am Tisch! Die Mutter wurde wohl bald ebenso einfältig wie die Puppe selbst. Aber es war merkwürdig. Wie er am Weihnachtsmorgen dalag und die Puppe anguckte und sich dachte, daß das wohl die letzte wäre, die ihm etwas erzählen konnte, merkte er, daß sie plötzlich eine andere geworden war. […]. Mit der Zeit entdeckte der Knabe immer mehr und mehr gute Eigenschaften an der Puppe. Er sagte ganz ernsthaft zur Mutter, wie um ein großes Unrecht gut zu machen, daß er, bevor er Laban hatte, gar nicht gewußt hätte, wozu Puppen gut seien. Er hatte geglaubt, sie seien nur für kleine Mädchen zu brauchen, die ihnen Kleider nähten und ihnen diese Kleider wieder an- und auszogen. „Aber jetzt denkst du anders von ihnen?“ fragte die Mutter und lächelte ihm zu. Ja, gewiß, jetzt begriff er, daß Kinder Puppen so lieb hatten, weil sie sich verwandeln konnten. Und verwandelt hatte sie sich wirklich, diese Puppe (ebd.)
Fritz entwickelt eine tiefe Bindung zur Puppe Laban bzw. er entwickelt eine
selbstreflexive Beziehung zu ihr und versucht dabei, sich gegen das wachsende
Unverständnis in seiner sozialen Umwelt zu behaupten. Laban schlüpft
in zahllose soziale Rollen hinein und ermöglicht Fritz damit einen Zugang
zu einer Vielzahl von Alteritäten. Die Mutter unterstützt Fritz dabei in den
ersten Jahren und schlägt ihm angesichts seiner Angst vor einem möglichen
Leistungsversagen in der Schule einen reziproken Rollentausch mit Laban
vor: „‘Lehre du ihn jetzt zuerst, dann lehrt er dich‘, sagte die Mutter“ (32). Der
Puppenjunge wird als Alter Ego zum perfekten Hilfs-Ich. Er ermöglicht die
Selbstermächtigung von Fritz, der ihn als seinen Lehrer mit großem Wissensvorsprung
‚inszeniert‘ – ein Wechselspiel von Alterität und Identität. Allein
an Laban zu denken, lässt ‚dessen Wissen‘ auf Fritz übergehen. Er wird zum
besten Schüler der Klasse.
Findet es die Kundschaft der Mutter zunächst noch amüsant und nur leicht befremdlich,
dass dieser kleine Junge intensiv seine „Puppe sprechen und antworten
ließ“ (ebd.), so wächst allmählich der Druck auf Fritz, das Puppenspiel aufzugeben.
Er versucht eine erste Trennung von der Puppe, hält das aber nur für ein paar
Stunden durch. Ohne Laban ist er ein ‚Nichts‘. Nach dem Übergang aufs Gymnasium
nehmen die Hänseleien und Witze der Gleichaltrigen und das Befremden
der Erwachsenen zu, dass ein „so vielversprechender Junge […] diese lächerliche
Gewohnheit hat, in seinem Alter noch mit Puppen zu spielen“ (ebd.). Fast drei Jahre
versucht er, sich nicht beirren zu lassen. Aber die Ambivalenz in ihm wächst. Bindung
und unbedingte Liebe wechseln sich ab mit der Wut über die Abhängigkeit
von der Puppe. Es kommt zu radikaleren Trennungsversuchen. Fritz will Laban
im Hafenbecken ertränken, schreckt aber im letzten Moment davor zurück. Was
nun? Er schreibt der Puppe den Lösungsvorschlag zu, sie nicht zu töten, sondern
in die „Verbannung“ (33) zu schicken. Fritz greift die Anregung auf, setzt Laban
in den Salon eines großen Fährschiffes und verabschiedet sich: „Adieu, adieu!“
(ebd.). Aber die Trennung ist zu früh. Kaum zu Hause angekommen, plagt ihn die
Sehnsucht nach der Puppe. Er wird übellaunig und bricht leistungsmäßig völlig ein.
Nach einer Woche schleicht er zum Hafen und findet Laban da, wo er ihn platziert
hatte. Alles ist wieder gut. Er scherzt mit der Puppe und sie nehmen ihr altes Leben
wieder auf – für etwa ein halbes Jahr. Dann steigt der Druck wieder, in den Augen
der anderen ‚normal‘ werden zu müssen. Diesmal wird Laban in einer Straßenbahn
ausgesetzt, aber schon am Abend hat ihn jemand vor dem Haus abgelegt, zusammen
mit einem kleinen Spottvers über einen, der bei seiner „Docken“ bleiben soll.
Fritz fühlt sich gemeint und ist „starr vor Wut“ (35). Er läuft zum Bahnhof und setzt
Laban in das Abteil eines abfahrbereiten Zuges.
Laban begibt sich nun auf eine wundersame Reise mit der schwedischen
Eisenbahn, in der Bahnbeamte über Monate eine Spaß-Aktion mit ‚Eisenbahn-
Laban‘ inszenieren, der als vorgeblich berühmter Passagier – telegraphisch
angekündigt – von Station zu Station geschickt und unter Anteilnahme der Öffentlichkeit
mit Orden dekoriert und mit Ehrungen überhäuft wird. Selma Lagerlöf
baut hier in die Erzählung eine reale Episode ein, die in Schweden in den
Jahren 1904/1905 tatsächlich stattgefunden hatte und über die öffentlich berichtet
wurde (vgl. Thomson 2013). Beschrieben wird, wie gestandene Männer das Alteritätsangebot
der Puppe aufgreifen, um lustvoll und spielerisch aus der Autorität
ihrer Eisenbahner-Rolle zu fallen.
Aber wie geht es mit Laban und Fritz weiter? Fritz ist sicher, dass die Zeitungsberichte
über die Eisenbahn-Puppe von seinem Laban und dessen Abenteuer erzählen.
Das muntert ihn auf, verbessert aber seine Schulleistungen nicht. Dann verlieren
die Bahnbeamten die Lust auf ihr Spiel mit der Puppe. Sie ist „jetzt von den großen
Kindern, die mit ihr gespielt hatten, völlig vergessen“ (Lagerlöf 1914a, 37) und liegt
in einem Eisenbahnmagazin in der Nähe. Fritz wird nachdenklich, als er das erfährt,
entscheidet sich aber gegen einen Neu-Anfang mit Laban – im Gegensatz zur Mutter.
Die holt Laban aus dem Magazin und setzt ihn wieder auf seinen alten Platz. Fritz wird
der Puppe gegenüber nun aber von Wut ergriffen: „Wie kannst du dich unterstehen,
noch einmal zurückzukommen?“ (ebd.). Er packt sie, läuft zum Hafen und setzt sie an
Bord des großen Auswandererschiffs nach Amerika. „Und diesmal fühlte er eine wunderliche
Ruhe“ (ebd.). Er beschließt, vom Gymnasium abzugehen und bei der Mutter
im Laden anzufangen, denn ohne Puppe sind Kindheit und Schule vorbei. Und als die
Mutter ahnend fragt, ob denn die Puppe nicht mehr zurückkommen würde, sagt Fritz:
„Nein, jetzt kommt sie wohl in ein Land, wo man seine Puppen behalten darf!“ (ebd.).
Auf diese Art kam der Knabe in das praktische Leben. Jetzt ist er ein erwachsener Mann und trauert nicht mehr um die Puppe. Aber er erzählt gern von ihr. (ebd.).
Die Kurzgeschichte Popp und Mingel wurde von Marie Luise Kaschnitz (1901-
1974) im Jahr 1960 im Erzählband Lange Schatten veröffentlicht (Kaschnitz 1960). Die Handlung spielt in der Zeit des so genannten Wirtschaftswunders in
der damaligen BRD und greift den Diskurs über eine in dieser Zeit häufig beklagte
Familienkonstellation auf, in der beide Eltern berufstätig und mit dem Erwerb
von Konsumgütern beschäftigt sind (Auto, Kühlschrank, Musiktruhe), während
Kinder als „Schlüsselkinder“ zwar keine materiellen Entbehrungen erfahren,
aber emotional vernachlässigt und auf sich selbst zurückgeworfen sind.
Das Handlungsgeschehen wird aus der subjektiv rekonstruierten Rückschau
des Ich-Erzählers, eines Jungen am Ende seiner Kindheit, in Berichtsform mitgeteilt,
nicht chronologisch geordnet, sondern in verschiedenen Erzählsträngen,
sprachlich dicht, fast atemlos geschildert. Es geht um einen vom jungen Ich-Erzähler
verursachten ‚Vorfall‘, einen Brand, der entsteht, als er ‚träumend‘ nicht
verhindert, dass das hoch lodernde Feuer von vier offenen Gasflammen auf die
Gardine überspringt. Es folgen bedrängende Fragen an ihn von Eltern, Lehrern
und einem Arzt. Aber die realen Erwachsenen haben keinen Zugang zum Erleben
des Jungen. Ihre Erklärungsangebote für sein, aus ihrer Sicht erklärungsbedürftiges
Verhalten bleiben ihm fremd. Er möchte auch das, was passiert ist, nicht als
an sie gerichtete Botschaft verstanden wissen. Vor allem möchte er nicht, dass sie
erfahren, womit er wirklich gespielt hat, denn das würde nicht zu ihren Vorstellungen
von einem ‚richtigen Jungen‘ passen.
In der Realität wird er emotional von den Eltern vernachlässigt und alltagspraktisch
überfordert: Von der Schule nach Hause kommend muss er die Betten
machen, den Haushalt aufräumen und sich selbst versorgen. Dabei ist er bemüht,
mögliche Anlässe für elterlichen Ärger zu vermeiden und scheint seine Nicht-Beachtung
als ein Faktum zu akzeptieren, das nicht gegen ihn gerichtet ist, sondern
einfach im Stress des elterlichen Alltags passiert. So inszeniert er sich auch nicht
als Opfer, sondern versucht eher zu verstehen, warum die Eltern so handeln, wie sie
handeln. Die Welt der Peers mit ihrem normverletzenden Verhalten ist auch keine
Option für ihn, obwohl er davon ausgeht, dass es den Erwachsenen lieber wäre, er
würde mit den Jungen unten von der Straße um die Häuser ziehen, als dass er – und
das ist sein Geheimnis – mit einer selbst erschaffenen Puppenfamilie spielt.
Die Oberfläche dieser fast klaglosen Akzeptanz der Verhältnisse macht die
darunter liegende unbändige Sehnsucht unsichtbar für die anderen, die Sehnsucht
nach einer Beziehungswelt gegenseitiger Anteilnahme, wechselseitiger Fürsorge,
bedingungsloser Wertschätzung, Resonanz und Liebe. Diese Sehnsucht ist das
streng gehütete Geheimnis des Jungen. Auch wenn sie mitunter quälend ist, erweist
sie sich in der emotionalen und sozialen Einsamkeit des Jungen dennoch als
Kraftquelle und spendet Trost – weil er sie sich heimlich und spielerisch erfüllt.
Wie gelingt das?
Er hat sich eine ‚andere‘ Familie geschaffen, eine, die aus vier Puppenfiguren
besteht, die die meiste Zeit in einer Schachtel in seinem Spielschrank liegen
und nach der Schule zur Inszenierung eines gemeinsamen Familienlebens hervorgeholt
und verlebendigt werden. Sein Vater Popp ist ein „alter Fußball“ (Kaschnitz
1960, 109), kugelrund im Lehnsessel, immer lustig, mit einem „freundlichen
Vollmondgesicht“ (ebd.) und stolz auf ‚seinen Jungen‘: „Unser Jüngster“
(ebd.), so wird er täglich begrüßt. Seine Mutter Mingel ist eine „komische Puppe
ohne Beine“ (ebd.), ihre Ärmchen, aus denen Sägemehl quillt, streckt sie ihm
entgegen: „Komm zu mir mein Söhnchen“ (ebd.). Er trägt sie zum Herd, damit
sie für ihn und die anderen kochen kann und er mogelt für sie beim gemeinsamen
Gesellschaftsspiel, damit sie auch gewinnt und nicht traurig ist. Sein Bruder
Henry ist ein Schachpferd aus Elefantenzahn, mit dem er zusammen aufregende
Abenteuer in der Prärie und Fahrten zum Mond erlebt, wenn die beiden nach
draußen auf den Balkon gehen. Und seine Schwester Luzia ist ein leicht wackliger
Luftballon, der ein wenig Farbe und Luft verloren hat. Er neckt sie gerne
und wird dann von Vater Popp ermahnt. Aber meistens wird gespielt und gelacht
und die Eltern Popp und Mingel mögen sich gar nicht vorstellen, wie es ohne
ihre Kinder wäre. Fast alles, was der Junge in der Realität entbehrt, hat er sich
mit seiner geliebten Wahl-Familie erschaffen: die unbedingte Zuwendung und
Akzeptanz der Eltern, Geschwister, fröhliches Miteinander und wechselseitige
Fürsorge. Zwar sind die Mitglieder seiner Spielfamilie durch vielerlei Handicaps
objektiv stark beeinträchtigt, aber emotional und sozial sind sie völlig präsent
und unbedingt für ihn da. Dieses intensive Beziehungs-Miteinander liest sich
wie eine inklusionspädagogische Selbstermächtigung im Puppenspiel. Die phantasierte
Puppenfamilie steht für ein völlig anderes Narrativ als die mit den realen
Eltern erlebte Wirklichkeit. Es gelingt dem Jungen, in seiner fiktionalen Realität
seine Bedürfnisse als Alterität der Puppenfiguren und ihres Narrativs für sich
wirksam werden zu lassen. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass sein Verhalten
und seine Gefühle nicht geschlechtsrollenkonform sind. Aber für eine bestimmten
Zeitraum kann er sich mit den Puppenfiguren aus diesen normativen Erwartungen
befreien, weil sie ihm aktuell nicht entsprechen, auch wenn er ahnt, dass
das irgendwann wahrscheinlich anders sein wird.
Dieser Tag kommt allerdings schneller als gedacht, ein Tag voller Öde und
gähnender Leere. Beim Nachhause-Kommen weiß er noch nicht, dass seine Mutter
die versteckte Schachtel mit den Puppenfiguren höchstwahrscheinlich gefunden
und unwissentlich als Müll entsorgt hat. Zunächst in Panik, dann in Verzweiflung,
erkennt er, dass etwas Unwiederbringliches passiert ist. Wie in Trance steht er im
Dunkeln neben Fenster und Herd. Er zündet die vier Gasflammen an. Sie geben zumindest
Licht, flackern lebendig und verbreiten ein Gefühl der Wärme. Man könnte
mit ihnen sprechen. Stehen sie für die vier entschwundenen Familienmitglieder?
Ein letztes Mal spürt der Junge seine kindliche Widerstandskraft im Umgang mit
all den Enttäuschungen und der Abwehr der Trauer. Dann geben Popp und Mingel
ihren jüngsten Sohn frei. Das achtlos auf dem Herd liegende Papier fängt Feuer und
springt auf die Gardine über. Er ist erschrocken, schreit. Zum ersten Mal, steht der
reale Vater, der früher als sonst von der Arbeit zurückgekommen ist, ihm bei. Der
Beziehungsknoten innerhalb der realen Familie ist (noch) nicht gelöst, aber ein erster
Schritt ist gemacht. Vielleicht kann mit einem physisch und psychisch präsenteren
Vater das Wechselspiel von Identität und Alterität neu beginnen? Und auch die Pfiffe
der Jungen unten auf der Straße werden zum ersten Mal als Lockruf wahrgenommen,
auf den er sich einlassen könnte. Vielleicht gibt es ja ein neues ‚Anderes‘?
Diese Kurzgeschichte wird oft als gesellschaftskritische Anklage kinderfeindlicher
Familienkonstellationen rezipiert (Stichwort: Schlüsselkinder), aber sie kann
auch anders gelesen werden. Sie erzählt nicht zuletzt von der Kraft der Phantasie
im Zusammenhang mit dem Potenzial der Alterität der Puppen-Narrative und der
Affordanz der Puppen als Gegenstände angesichts von Trauer, psychischer Belastung
und Ohnmachtserfahrungen. Die in dieser Geschichte geschilderten Beziehungsprozesse
zwischen dem Jungen und seiner Puppenfamilie und die mit den
Puppenfiguren im spielerischen ‚als-ob‘-Modus gemachten Erfahrungen hat er verinnerlicht
und als intrapsychische Modalitäten der Erlebnisverarbeitung bewahrt,
auch wenn er weiß, dass sich seine Entwicklungskontexte verändern werden:
[…] und überhaupt habe ich nichts gegen meine Eltern, sie sind, wie sie sind, und ich mag sie gern. Nur daß es eben gewisse Sachen gibt, die man ihnen nicht erzählen kann, nur aufschreiben und dann wieder zerreißen, wenn man allein zu Hause ist, und es wird schon dunkel, und unten pfeifen die Jungens von der Bande, und noch ein paar Minuten, dann macht man das Fenster auf und ruft, ich komme, und dann geht man die Treppe hinunter, die Hände recht forsch in den Hosentaschen, vorbei an der Nixe, die hat einem früher sehr gefallen, aber jetzt weiß man mit einem Mal, daß man kein Kind mehr ist (Kaschnitz 1960, 114).
Dank der Menschenähnlichkeit der Puppe findet in der Puppe-Mensch Begegnung
ein reziprokes aufeinander Bezogen-Sein statt im Sinne eines (psychologischen)
Wechselspiels von Identität und Alterität. Das in solchen Begegnungszusammenhängen
entstehende Narrativ der Alterität ist eine auf das Handlungspotenzial
ihres menschlichen Gegenübers bezogene Alterität. Angewandt auf die in
diesem Text geschilderte Entwicklungsphase der späten Kindheit im Kontext
traditioneller männlicher Sozialisationsvorgaben, kann man von der Affordanz
zwischen Puppe und heranwachsendem Jungen sprechen. Auch wenn sie damit
aus traditionellen Genderrollenbezügen fallen, nehmen die beiden literarischen
Jungen-Protagonisten dieses Risiko in Kauf und lassen sich auf das Spiel-Angebot
der Puppe ein. Es ist das, was als Alterität auch in ihnen steckt, was ihre
‚anderen‘, unerfüllten Sehnsüchte und Bedürfnisse aufgreift, ihnen aus der sozialen
und emotionalen Einsamkeit heraushilft und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit
ermöglicht. Das performative Potenzial von Puppen hilft, festgefahrene
Strukturen zu durchbrechen, sich auf neue Perspektiven einzulassen, Empathie
und Verständnis für andere Menschen und Situationen (und für sich selbst) zu
entwickeln und Kreativität und Phantasie zu entfalten – es ist eine Form der
Selbst-Bildung (vgl. Fooken 2022). Auch die von Selma Lagerlöf beschriebene
karnevaleske Episode im Zusammenhang mit dem ‚Puppenspiel‘ der schwedischen
Eisenbahner ist ein gutes Beispiel für Veränderungsbereitschaft und zeigt,
wie dem Ernst und der Strenge männlicher Berufsidentität etwas Leichtigkeit und
Spielerisches hinzugefügt werden kann. Die erwachsenen Männer lassen sich auf
die Alterität der Puppe ein und fallen damit lustvoll aus der traditionellen männlichen
Geschlechterrolle.
Gut siebzig Jahre später, im August 1978, gibt es eine ähnlich anmutende
Episode. Als der deutsche Kosmonaut Sigmund Jähn in der sowjetischen Raumstation
Saljut 6 eintrifft und die Symbolpuppe der DDR, das „Sandmännchen“, im
extra angefertigten Weltraumanzug hervorholt, zieht zu seiner Verblüffung der
Chef der Mission, der sowjetische Kosmonaut Wladimir Kowaljonok, das russische
Püppchen Mascha hervor. Spontan zelebrieren die beiden Kosmonauten
im Kreis ihrer Kollegen und unter den stummen Blicken von Lenin, Breschnew
und Honnecker, die auf Plakaten an der Wand hängen, liebevoll eine kosmische
Puppenhochzeit (Der Spiegel 2011). Es ist ein leicht bizarr anmutendes Bild mit
bemerkenswerter Affordanz: Zwei erwachsene Männer, die den höchst männlich konnotierten Traumberuf vieler kleiner Jungen ausüben, spielen, etwa 300 Kilometer
von der Erde entfernt, auf einer Umlaufbahn mitten in einer Weltraumkapsel
mit – Puppen. Mussten sie sich so weit aus ihrem normalen Männeralltag
entfernen, um als große kleine Jungen einmal ganz anders spielen zu können? In
jedem Fall ist die Puppe eine bemerkenswerte ‚Erzieherin‘
Die Puppe, ist sie nicht die Begleiterin der Menschheit von ihrer frühesten Kindheit an? Wer weiß, wieviel wir ihr zu verdanken haben? […] die Puppe als diejenige, deren Aufgabe es gewesen war, die ungeahnten Anlagen des unzivilisierten Menschen auszulösen. War nicht im selben Augenblick, in dem die erste Puppe aus einem Lehmklumpen oder vielleicht etwas zusammengerolltem Gras geformt wurde, die Phantasie geboren worden und mit ihr das Spiel, die Dichtung, die schönen Künste? Das beste, das wir besitzen, das, worauf wir am stolzesten sind, ist es nicht die Fähigkeit des Schaffens, und wer hat diese Fähigkeit in so hohem Grade entwickelt wie die Puppe? (Lagerlöf 1914a, 37f.).
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Insa Fooken
Studium der Psychologie (Hauptfach), Soziologie, Pädagogik, Ethologie, Psychopathologie; klinisch-psychologische Tätigkeit; Promotion, Universität Bonn 1980; 1992-2013 Professur für Entwicklungspsychologie (der Lebensspanne) an der Universität Siegen; 2014-2020 Senior-Professorin am FB Erziehungswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt a. M.; Forschungsschwerpunkte u. a.: Kriegskinder im Alter; Resilienz; Bedeutung von Puppen.
Korrespondenz-Adresse / Correspondence address:
fooken@psychologie.uni-siegen.de