denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.5 Nr.1 (2022) | Rubrik: Fokus
Aliena Guggenberger
Focus: Narrative, Botschaften und visuelle Ästhetik figürlicher
Puppen in Mode, Kunst, Fotografie und Film
Focus:
Narratives, messages and visual aesthetics of figurative
dolls/puppets in fashion, art, film and photography
Abstract:
Der Beitrag zeichnet die Entwicklungslinie der Modepuppe bis zum lebendigen
Mannequin nach und beleuchtet dabei die symbolische Kehrseite einer weiblichen
Uniformität, die bis heute Gültigkeit besitzt. Modepüppchen sind im heutigen
Sprachgebrauch übertrieben auf ihr Aussehen bedachte, oft belächelte Personen.
Ausgangspunkt des Püppchen-Narrativs sind sog. Pandora-Puppen, die seit dem 17. Jahrhundert
weibliche Angehörige europäischer Königshäuser über die neuesten Modetrends
unterrichteten. Ihre Mission entpuppte sich als Unheil bringend, übertrug sich doch ihre
Funktion als steifes Präsentationsmodell auf die menschliche Trägerin der feinen Kleider.
Der um 1900 von Reform-Bewegungen kritisierte puppenartige Frauentypus bildet – Metapher
und Realität zugleich – den zentralen Anknüpfungspunkt.
Schlüsselwörter: Pandora, Modepuppen, Mannequins, Reform-Bewegung
Zitationsvorschlag: Guggenberger A., Von der Modepuppe zum Mannequin und zurück. Weibliches Selbstverständnis zwischen (Re)Präsentation und Individualität. denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 5, n. 1, p. 18-25, 17 Okt. 2022. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/132
Copyright: Aliena Guggenberger. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 17.10.2022
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Du hast uns lang genug regiert
von deinem stolzen Throne,
hast uns zu Puppen degradiert
der ganzen Welt zum Hohne.
(o. V. 1897, 59).
Die Tyrannin auf dieser lyrischen Anklagebank ist niemand geringeres
als die Mode. Im Jahr 1897 wird sie von Schweizerinnen in obigem
Zitat zur Haupt-Verantwortlichen für die schwache gesellschaftliche
Position der Frau als Puppe gemacht. Wie aber konnte die Inszenierung durch
Kleidung zur Tatverdächtigen für die Entwürdigung einer ganzen gesellschaftlichen
Gruppe werden?
Drei Jahre vor Erscheinen dieses Gedichts hatte der amerikanische Soziologe
Thorstein Veblen seine ökonomische Theorie zum Frauenkleid veröffentlicht.
Er sprach der Frau jegliche Eigenverantwortlichkeit ab, indem er sie auf ihr modisches
Erscheinungsbild reduzierte und dieses zum Repräsentationsinstrument des
männlichen Wohlstands erklärte. Die Dekadenz des Kleids machte die Frau laut
Veblen zum lebendigen Beweis der Kaufkraft ihrer Familie und objektifizierte
sie zum Teil des Hab und Guts („chattel“, Veblen 1894, 199). Im ausgehenden 19.
Jahrhunderts hatte die Mode mit der korsettgeschnürten Wespentaille, üppigen
Gigot-Ärmeln und hochgradig dekorierten Röcken mit weiten Schleppen erneut
ein Extrem erreicht, das die Frau zum Stillstand und damit ins Häusliche zwang:
„The modern civilized woman’s dress attempts this demonstration of habitual
idleness, and succeeds measurably“ (203). Zum Spielzeug der Mode geworden
glich sie einer lethargischen Puppe im Kinderzimmer, die aufgrund ihrer Wehrund
Leblosigkeit jede Laune ihrer Besitzer:innen erdulden muss. Kaum eine sich
als Dame der Gesellschaft definierende Frau um 1900 konnte sich der Sucht entziehen,
dem Dernier Cri zu folgen und ergab sich so der Natur der Mode, wie sie
seit dem 14. Jahrhundert kritisiert worden war. Nicht mehr die Mode präsentierte
die Trägerin, sondern die Trägerin präsentierte die Mode und wurde damit zum
wandelnden Luxusobjekt.
Die Wahrnehmung der Schweizerinnen als identitätslose Marionetten der launenhaften
Mode-Industrie teilten auch viele Frauen aus den deutschen Nachbarländern.
Zwischen 1896 und 1915 gründeten sich in fast 40 deutschen Städten
Vereine zur Verbesserung der Frauenkleidung. Neben den gesundheitlichen
Schäden durch die enge Schnürung des Korsetts war den Reformer:innen die
gesamte von Paris ausgehende Modepraxis, die ihrer Meinung nach auf pure Gefallsucht
abzielte, ein Dorn im Auge. Durch die Mithilfe einiger Künstler wie
Henry van de Velde oder Alfred Mohrbutter, die sich die ästhetische Erneuerung
der Kleider mit Jugendstil-Ornamentik zur Aufgabe gemacht hatten (vgl. Ewers
u. Holzhey 2018), war die „neue Frauentracht“ zur Jahrhundertwende in aller
Munde. Sie passte hervorragend in die Zeit der sogenannten Lebensreform, einer
Bewegung, die der neuen Sehnsucht nach mehr Natürlichkeit, Individualität und
Freiheit Ausdruck verlieh. Nicht mehr die Mode sollte vorgeben, was zu tragen
sei, sondern die Kleidung sollte der Persönlichkeit, dem Körper und dem Zweck
angepasst werden. Die Entwürfe männlicher Maler und Architekten behandelten
Kleider allerdings eher als Dekorations- und Ausstellungsobjekt innerhalb
der Debatte um einen neuen Stil und sollten im Kontext der Reformkleid-Bewegung
auch terminologisch gesondert als Künstlerkleider betrachtet werden. Vor
allem in Großstädten wie Berlin und München wurden die schlichten, gerade
geschnittenen und korsettlosen Kleider, deren Anfertigung sich immer Frauen
eigenständig annahmen, zum Gegenstand reger Diskussionen. 1907 beschrieb
ein Journalist die Bewegung so: „Es ist der Geist der Persönlichkeit gegenüber
schematischer Kleidung, es ist großer Stil gegen kleinen, es ist Schönheit und
Freiheit der Bewegung gegen Puppenkleidung“ (Thilo 1907, 21).
Puppenkleidung als Bezeichnung für die bisherige Frauenmode diente als Chiffre
für Kleider, die ganz bewusst für nicht am öffentlichen Leben teilnehmende
Wesen gestaltet worden war. Die Enge der Mieder und die Schwere der Röcke
sprachen ihnen automatisch die Fähigkeit zur natürlichen, ungehinderten Bewegung
ab. Dass Puppen lange vor Mannequins dazu dienten, neue Modetrends zu
verbreiten, hatte ein komplexes Narrativ kreiert: Es beinhaltet die zwischen Realität
und Klischee oszillierenden Verstrickungen von artifiziellem Drahtgestell
und lebendiger Frau.
Die mythische Pandora mag gemäß ihrer sagenhaften Überlieferung keine Puppe
im modernen Verständnis gewesen sein. Und doch ist sie eine künstlich (aus
Lehm), von einem Mann (Hephaistos) erschaffene Frau – so lebensecht gestaltet
und mit so attraktiver körperlicher Proportion, dass Epimetheus sie schließlich
heiratet. Von ihrem Schöpfer im antiken Olymp erhielt Pandora den obersten Auftrag der Verführung, den Minerva und andere Götter durch Geschenke wie
Liebreiz und Geschicklichkeit noch zu steigern wussten. Von der wörtlich „Allbeschenkten“
wird die Pandora im Zuge der Mode-Ökonomie zum materiellen
Geschenk selbst: Als Pandora-Puppe verfolgte sie eine ganz eigene Programmatik,
indem sie zur Bestellung neuester Kleiderwaren anregte.
Die Kleiderpuppe als Hilfsmodell des Schneiders existiert bereits seit 1300
v. Chr.; so erzählt es jedenfalls der Kulturhistoriker Max von Boehn (Boehn 1929,
137 f.). Dem Pharao Tut-ench-Amun soll in seiner Grabstätte neben seiner eigenen
Totenfigur eine lebensgroße Puppe beigelegt worden sein, deren weiß bemalter
Rumpf an ein Hemd erinnert. Die Vermutung liegt nahe, dass an ihr die prächtigen
Gewänder des Königs angepasst worden waren. Seit dem 17. Jahrhundert hatten sich
Püppchen, genannt Pandora, schließlich als systematischer Bestandteil der Mode-
Industrie und des Handels etabliert. Bevor bebilderte Modejournale adelige und
andere betuchte Frauen über die neuesten französischen Textiltrends unterrichteten,
wurden zu diesem Zwecke etwa
60 cm bis lebensgroße Puppen
zwischen den europäischen Höfen
verschickt (vgl. Kühl 2015, 15 f.).
Als Kopier-Vorlage für Schneider
und Putzmacherinnen außerhalb
von Paris erhöhten sie das
Renommee der Absender und
waren so nichts anderes als ein
äußerst effizientes Marketingtool,
das keiner sprachlichen Erklärung
bedurfte. Ziel der Mission war es,
bei den potenziellen Kundinnen
den Wunsch zu wecken, ein lebensgroßes
Abbild der jeweiligen
Pandora zu werden. Die
Möglichkeit, die Stoffe und Besätze
haptisch erfahrbar zu machen,
boten den entscheidenden Vorteil
gegenüber der konventionellen,
zweidimensionalen Werbung.
Die älteste erhaltene Pandora-Puppe
stammt aus der Zeit um 1590 (Scola
2021) und demonstriert die elaborierte
Ausstattung mit Echthaar-Perücke,
Seidenstoff und Goldstickerei (vgl.
Abbildung 1).
Anders als die Pandora in der
künstlerischen Umsetzung durch
John Flaxman1 trugen die nach ihr
benannten Modepuppen allerdings
nicht die leicht drapierten Chitone
der Antike (vgl. Abbildung 2).
Antike (vgl. Abbildung 2).
Vielmehr entsprachen die Mode-
Pandoras des 17. und 18. Jahrhunderts
dem europäischen, zeitgenössischen
Ideal mit geschnürtem Mieder und schweren, steifen Röcken. In der
Adaption des berühmten Mythos sendete nun der Mode-Olymp der französischen
Couturiers, ansässig in der Pariser Rue St. Honoré, die Puppen in die
Welt aus, um Frankreichs Monopol innerhalb der Branche zu manifestieren.
Pandoras animierten, verlockten und manipulierten ihrer Überlieferung entsprechend
allein durch ihre betörende Erscheinung all diejenigen, denen sie in
die Hände gerieten. Die Befürchtung Napoleons, sie könnten als Spioninnen
missbraucht werden und geheime Botschaften in ihren Röckchen importieren,
beendete die Geschäftsreisen der Puppen zumindest nach Großbritannien (vgl.
Thiel 1989, 245). Schon der Archetyp der Pandora galt vielen Autoren als Paradebeispiel
der Hinterlist und Eitelkeit. Die älteste Quelle, Hesiods „Theogonie“,
legte mit seiner Darstellung der Pandora als personifiziertes Übel den
Grundstein für ein misogynes Weltbild (Hesiod 1999, 47 ff.). Tertullian stellte
in seiner Abhandlung „De corona militis“ fest, dass sogar die sündige Eva einen
vernünftigeren Umgang mit Schmuck und Mode gepflegt habe als Pandora,
die zuerst ihr Haupt mit Blumen krönte, während Eva zuerst ihre Scham mit Blättern bedeckte (vgl. Panofksy 1992, 25). Haben die Pandora-Puppen als
Vorläuferinnen der Modepuppen und als Botinnen der gierigen Mode-Branche
tatsächlich Verderben über die Frauenwelt gebracht?
Abbildung 1: Pandorapuppe, ca. 1590, Sammlung Livrustkammaren
Bis sich der Beruf des Mannequins in den 1920er Jahren etablierte, blieben Holz-, Stoff- oder Porzellanpuppen ein gängiges Präsentationsmodell für neue Modetrends. Vor allem Vertreter:innen der Reformkleid-Bewegung widerstrebte das Vorführen neuer Kleider auf „toten“ Puppen, da steife Holzgestelle nicht annähernd die unterschiedlichen Körperlinien und die Bewegung einer lebendigen Frau nachbilden konnten. Neben der fehlenden Abbildung äußerer Individualität mangelte es den Puppen an individuellen inneren Merkmalen, die das Tragen eines Reformkleids, auch Eigenkleid genannt, zum Vorschein bringen sollte. Innerhalb der deutschen Reformkleid-Bewegung, die sich mit wachsendem nationalistischem Impetus explizit gegen eine „diktatorische“ Modebranche aus Frankreich richtete, diente das Puppenmotiv generell als Symbol für mangelnde Authentizität, für das strukturelle Nivellieren jeder Persönlichkeit, verkörpert vom Stereotyp der Pariser Demi-Mondaine2. Sie versinnbildlichte für die Reformerinnen die Frau als reines Dekorationsobjekt für Ballsäle mit dem Daseinszweck, das Gefallen des Mannes zu erwecken. Die „Gesellschaftspuppen“ (S. S. 1912, 93) waren es, die keine Ambitionen auf Studium oder Beruf hegten und gegen die der neue selbstbestimmte Frauentypus des beginnenden 20. Jahrhunderts aufbegehrte.
Abbildung 2: John Flaxman: Pandora Attired (Pandora angekleidet), 1817
Als Pionier für den Einsatz lebendiger Vorführdamen gilt gemeinhin der
Couturier Charles Frederick Worth, der seine Ehefrau Marie schon ab den
1860er Jahren zum ersten professionellen Mannequin machte. So wurde sie,
wie ihre Puppen-Kolleginnen zuvor und ihre lebendigen Kolleginnen später,
zur wandelnden Kopie der zuvor im Zweidimensionalen erdachten Modeskizze.
Die Übertragung des Begriffs (Mode-)Puppe auf Frauen aus Fleisch und
Blut war nur die logische Konsequenz. Immerhin stammt das „Mannequin“
etymologisch von der Gliederpuppe des Malers ab, der sie seit etwa 1500 auch als menschlichen Kleiderständer
für die korrekte Ausführung von
Drapierungen zur Hilfe nahm
(Koban 2020, 41). Dazu passend
inszenierte sich Worth als Künstler
in Rembrandts Nachfolge und
drapierte den Stoff bereits am lebendigen
Modell statt nur an der
Schneiderpuppe. 1911 führte der
ebenfalls zum Künstler stilisierte
Modeschöpfer Paul Poiret auf seiner
Europa-Tournee eine Gruppe
„Reise-Mannequins“ mit sich, die
man als besonders schlank und –
bezeichnenderweise – biegsam
in Erinnerung behielt. Im Sinne
einer internationalen Promotionkampagne
hatten sie die Funktion
der Pandoras übernommen
und bewarben erfolgreich Poirets
orientalisch anmutende Gewänder
in Empire-Linie. Im Gegensatz
zur populärwissenschaftlich
verbreiteten Annahme, Paul Poiret sei mit seiner fließenden Linie der Befreier
der Frauen gewesen, bewirkte er mit seinen Designs in diesen Jahren alles andere
als Bewegungsfreiheit: In Deutschland war man 1911 der Meinung, sein
berühmter Humpelrock, der zu den Knöcheln immer enger wurde, sei „für dekorative
Figürchen geeignet, nicht für weibliche Menschen, die mit den Füßen
ausschreiten wollen“ (o. V. 1911, S. 356). Tatsächlich wurden die Frauen mit
dem Humpelrock erneut zur Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit gezwungen,
wollten sie kein Stolpern riskieren. Wer sich an den mit einem Band am
unteren Ende gerafften Rock herantraute, erinnerte mit einem unbeholfenen
Trippelschritt an den Gang fremdgesteuerter Marionetten (vgl. Abbildung 3).
Im Jahr 1916, als der mit dem 1. Weltkrieg wachsende Patriotismus alles
Fremde, vor allem alles Französische aus der Sprache verbannen wollte, suchte man nach einem Ersatz für den Begriff „Mannequin“. Statt Probierdamen
wurde in der Zeitschrift des Deutschen Verbands für Verbesserung der Frauenkleidung
der Begriff „Modepuppen“ zum Vorschlag gebracht (o. V. 1916, 15).
Die steifen Gestalten mit starrem, puppenhaft geschminktem Gesicht bewegten
sich ohnehin wie an Drähten geführt und würden die Wirkung der Kleider beeinträchtigen,
hätten sie allzu viel Menschliches an sich, so der kritische Kommentar
der unbekannten Verfasserin. Die weitere Historie des Model-Berufs
(deren ausführliche Darlegung den Rahmen sprengen würde) erzählt von einer
knallharten, ausbeuterischen Branche, die junge Mädchen auf standardisierte
Körpermaße reduzierte. Erfolgsversprechend war stets die gute Miene
zum bösen Spiel, die sich zu einer funktionalen Fassade entwickelte und so das
Überleben in der Großstadt sichern konnte. Ein Gedicht aus Mascha Kalékos
„Lyrischen Stenogrammheft“ beschrieb 1933 die Lebenswelt der titelgebenden
Mannequins in Berlin und drückte dabei die typisch kühle Stimmungslage der
Neuen Sachlichkeit aus:
Abbildung 3: Francisco Javier Gose: „Il a Eté Primé" robe du soir“, 1914
Was nützt schon der Fummel aus Crêpe Satin –
Du bleibst, was du bist: Nur ein Mannequin.
Da gibt’s nichts zu lachen.
Wir rechnen, ob’s Geld noch bis Ultimo langt,
Und müssen trotzdem, weil’s die Kundschaft verlangt,
Das sorglose Püppchen machen.
(Kaléko 1933, 15).
Im selben Jahr, in dem Poiret mit seinen biegsamen Mannequins durch Europa
tourte, gründete Käthe Kruse in Berlin ihre erste Puppen-Manufaktur und
sorgte für einen Paradigmenwechsel in der Spielzeugindustrie. Während sich in
den älteren Generationen die reale Frau durch den Einfluss der Mode zu sehr
der Puppe angenähert hatte, lautete im Zeitalter des Kindes das neue Ideal, die
Puppen zum Ebenbild des realen Kindes werden zu lassen. In beiden Fällen hatten
Reform-Bewegungen, die ihren Blick auf menschliche Bedürfnisse richteten,
den Ausschlag zum Umdenken gegeben. Bis 1909 hatte Käthe Kruse mit ihren
beiden Töchtern auf dem berühmten Monte Veritá in Ascona gelebt und dort
entscheidende Anregungen für ihre zukünftige Unternehmung erhalten. Diente
die Puppe bis dato als Code für damenhafte, steife Künstlichkeit, stand nun ein
Imagewechsel bevor: Subjekt und Objekt, Mensch und Puppe, gingen ein neues
Verhältnis ein. Bisher bereiteten artige, dabei aber kalte und ausdruckslose Puppen
kleine Mädchen auf ihre Rolle in der Gesellschaft vor und weckten ganz nebenbei,
beim ständigen An- und Auskleiden, das Interesse an Mode. Ab ca. 1910
forcierten pädagogische Reformen sogenannte Charakterpuppen mit stark ausgeprägtem
Gesichtsausdruck, die dem menschlichen möglichst nahekamen (Reichelt
2002, 38 ff.). Wie die Künstler:innen der Reformkleider setzten sich auch die
Puppen-Reformer:innen gegen eine Massenfabrikation und für möglichst individuelle
Erzeugnisse ein. Innerhalb der Produktionsstätten der Reformpuppe und
des Reformkleids ergaben sich daher Überschneidungen: Die Wiener Werkstätte
beispielsweise nahm sich beiden im typisch geometrisierenden Stil an, verfehlte
die jeweiligen Zielgruppen jedoch eher aufgrund der zu starken Verkünstelung.
An einem Weihnachtsabende jedoch setzte [die Großmutter] allen ihren Wohltaten
die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ, und so in dem
alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen
Gemüter mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr
starken Eindruck, der in eine große langdauernde Wirkung nachklang (Goethe,
Dichtung und Wahrheit 1986, 20).
Dennoch erfuhr das Püppchen-Narrativ in Bezug auf seine schablonisierte
Weiblichkeit eine Entschärfung, indem das natürlich-Kindliche zum Vorbild
für die Puppe wurde und dem Selbstbild einer heranwachsenden Frau den wortwörtlichen
Spielraum bot. Als bei Marion Kaulitz in München und Käthe Kruse
in Berlin der Trend vom zerbrechlichen Porzellan zu einem weniger fragilen
Material ging, das mehr Lebhaftigkeit aushielt, zeichnete sich auch in der Mode
flächendeckend das Sportliche ab. So trauten sich junge Mädchen in den sogenannten
„roaring twenties“ beim Spielen zu toben und junge Frauen im kurzen
Rock zu turnen und zu tanzen, statt steif und still wie die einstigen Puppen auf
ihren Plätzen zu verharren. Erst im Medium der (Mode-)Fotografie, mit der
die Realität durch einen Knopfdruck in das Zweidimensionale gebannt wird,
verschwammen die Grenzen zwischen Lebhaftigkeit und Starrheit erneut. In
den 1920er und 1930er Jahren wurden mithilfe der unnatürlichen Lichtregie im
Fotostudio Konturen weichgezeichnet, Posen eingefroren und Körper-Achsen
modelliert. Die Verwechslungsgefahr von realer Frau und bekleideter Puppe
war innerhalb der frühen Webefotografie, die vor allem über Kleidungsschnitt
und Modewandel informierte, auf paradoxe Weise gewollt und es entsteht der
Eindruck, dass mit dem Blick durch die Kamera auch die leblose Puppe wieder verlebendigt werden konnte: Als Karl Schenker 1925 seine selbst entworfenen
Wachspuppen und George Hoyningen-Huene 1927 die Schaufensterpuppen der
Pariser Firma Siégel fotografierte, zog die präsentierte Kleidung alle Aufmerksamkeit
auf sich und machte die Täuschung perfekt. Technische Mittel, vor allem
die schlaglichtartige Beleuchtung, beseelten die Massenprodukte, verwandelten
die Puppen in lebendige Individuen und kreierten schließlich die skurrile
Illusion idealer Schönheit (Ruelfs 1999, 337). Als inszenierte Doppelgängerinnen
der menschlichen Frau wurden Schaufensterpuppen in der modernen Großstadt
zum Gegenstand verführerischer Konsum-Fantasien (weiterführend dazu
Sykora 2017).
Der Konnex Puppe, Frau und Mode hat seine Gültigkeit bis heute bewahrt. Dazu zählt nicht allein Barbies ungebrochene Popularität, die in Kombination mit Schmink- und Frisierköpfen das Klischee einer stets zurecht gemachten, figurbewussten Frau vom Kinderzimmer in die allgemeine Sphäre transferiert hat. Auch die internationale Laufsteg-Welt integrierte jüngst das Modepüppchen ganz wörtlich: Für die Präsentation ihrer Kollektionen 2020/21 griffen Maria Grazia Chiuri für Dior und Jeremy Scott für Moschino auf Puppen bzw. Marionetten zurück und führten damit eine Ideentradition fort, die zuvor bereits von Martin Margiela oder Viktor & Rolf realisiert worden war (weiterführend dazu Scorzin 2019). Marionetten schienen prädestiniert, als die Branche während der Pandemie zu einer menschenleeren Kulisse gezwungen war und geeigneten Ersatz für echte Models suchte. Als Inspirationsquelle diente die ebenfalls von Krisen gezeichnete Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Théâtre de la Mode waren damals mit einer Wanderausstellung kleine Pandora-Nachfolgerinnen im neuesten Pariser Chic durch die Welt getourt und sparten durch ihre Miniatur-Ausführung die damals knappen Ressourcen (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4: Théâtre de la Mode, 1945/46
In der Gegenwart eröffnet der Anblick der an Fäden geführten Moschino-Marionetten mit unnatürlich langen Beinen (vgl. Abbildung 5) und mechanischen Schritten auf dem Laufsteg eine Meta-Ebene, die die Mode-Maschinerie erneut als mächtige Puppenspielerin ins Licht rückt. Im 21. Jahrhundert revoltieren noch immer Frauen gegen die Mode, kämpfen Feministinnen gegen Rollenstereotype. Vor zehn Jahren beklagte die britische Publizistin Natasha Walter in ihrem Buch „Living Dolls“, dass die Verschmelzung von Puppe und realem Mädchen weit über die Kindheit hinaus fortbesteht (Walter 2012, 12). Jungen Frauen werde eine erotische Ausstrahlung als Schlüssel zum Erfolg vermittelt und die sexuelle Befreiung seltsam verzerrt: „Während viele Frauen aufatmeten und glaubten, die Auseinandersetzungen rund um die Gleichberechtigung seien größtenteils gewonnen […], machten sich die Puppen erneut auf den Vormarsch“ (19). Befeuert wird die konstant auf Instagram geteilte und durch die Kardashian-Jenner-Frauen3 personifizierte Selbstoptimierung neben der Fitnessbranche nach wie vor vonseiten der Modebranche. Bedenken zu Freiheit und Unfreiheit in Bezug auf Mode-Ideale zeigt ein jüngst erschienenes Essay aus dem ZEIT-Magazin:
Abbildung 5: Screenshot aus “No strings attached” Moschino, Frühling/ Sommer 2021, Puppen von Jim Henson’s Creature Shop
Darin möchte die Autorin Claire Beermann nach Jahren des Lockdowns endlich wieder High Heels tragen und fragt sich nach ersten schmerzvollen Trippelschritten, was für eine „ferngesteuerte Idiotin“ sie sei, sich immer wieder einzwängende Kleidung zu kaufen (Beermann 2022, 50). In einer feministisch- progressiven Welt scheinen die als typisch weiblich wahrgenommenen Kleiderkonventionen zwar zusehends zugunsten einer genderlosen Mode im Oversize-Format verbannt, dienen aber gleichzeitig nach wie vor der Selbstinszenierung. Statt des Spiegels nutzen viele längst die Frontkamera des Smartphones und setzen so das eigene Erscheinungsbild auf einen permanenten Prüfstand. Diverse digitale Filter drohen durch Weichzeichner, Fake-Lippen und überlange Wimpern die Uniformität von Püppchen-Gesichtern wieder in Mode zu bringen. Die Kriegserklärung gegen die Schönheits-Diktatur der Mode, verfasst von Schweizerinnen im Jahr 1897, hat demnach an Aktualität nichts verloren und klingt in ihren letzten, ermutigenden Versen ganz nach dem heute so präsenten „female empowerment“:
Nach Freiheit strebt jetzt auch das Weib
Nach Freiheit und nach Sitte
Du willst uns knechten Seel‘ und Leib
Krieg jedem deiner Schritte!
(o. V. 1897, 59).
[1] Innerhalb seines Illustrations-Projekts zu Hesiods Werken „Tage und Werke“ und „Theogonie“ hatte der britische Künstler John Flaxman (1755-1826) zwischen 1790 und 1817 insgesamt 37 Zeichnungen im Stil griechischer Vasenmalerei angefertigt, von denen sechs die Pandora-Episode behandelten. Die druckgrafische Ausführung war William Blake übergeben worden, der Verlag Longman & Co veröffentlichte sie.
[2] Im späten 19. Jahrhundert, beginnenden 20. Jahrhundert auch im Deutschen verwendete, oft abwertende Bezeichnung für Damen der (Pariser) „Halbwelt“. Der ihnen zugesprochene Lebensstil zeichnete sich durch extravagante Kleidung und ein ausschweifendes Liebesleben aus, sodass mit dem Begriff „Demi-Mondaines“ vor allem Schauspielerinnen und Kurtisanen gemeint waren.
[3] Gemeint sind hier vor allem Kim Kardashian (*1980) und ihre Halbschwestern Kendall (*1995) und Kylie Jenner (*1997), die durch ihre Familien-Reality-Soap 2007 Bekanntheitsgrad erlangten und mit ihren Modeund Kosmetiklinien zu Milliardärinnen wurden. Mit 311 Mio. Followern auf Instagram ist Kylie Jenner, die bereits mehrere Schönheits-Operationen hinter sich hat, die erfolgreichste Influencerin weltweit.
Primärliteratur
Beermann, Claire (2022). Wer schön sein will…. ZEIT Magazin 2022 (6), 49-51.
Hesiod (1999). Theogonie. Griechisch-Deutsch (übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger). Stuttgart: Reclam.
RKaléko, Mascha (1959/1933): Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
S. S. (1912). Was ein junges Mädchen erfuhr. Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 8 (8), 93.
Thilo, Reinhart (1907). Die Zukunft der Frauentracht. Hamburgischer Correspondent, 06.01.1907, 21.
Veblen, Thorstein (1894): The Economic Theory of Woman’s Dress. The Popular Science monthly, Vol. 46, 198-205.
o. V. (1897). Kriegserklärung. Schweizer Lehrerinnenzeitung 1 (4), 59.
o. V. (1911). Zum Poiret-Rummel. Der Kunstwart, 24 (11), 355-357.
o. V. (1916). Modepuppen. Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 12 (1), 15-16.
Sekundärliteratur
Boehn, Max von (1929): Puppen. München: Bruckmann.
Ewers-Schultz, Ina, Holzhey, Magdalena (Hg.) (2018). Auf Freiheit zugeschnitten. München: Hirmer.
Koban, Miriam (2020). Die Gliederpuppe – vom Hilfsmittel zur Projektionsfigur. Eine Untersuchung der Gliederpuppe im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/79) von Edgar Degas. denkste: puppe / just a bit of: doll (de:do) 3 (1.1), 38-47. Zugriff am 22.02.2022 unter: https://dedo.ub.uni-siegen. de/index.php/de_do/article/view/64/48.
Kühl, Alicia (2015). Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode. Bielefeld: transcript.
Panofsky, Dora, Panofsky, Erwin (1992). Die Büchse der Pandora. Bedeutungswandel eines mythischen Symbols (Sonderband der Edition Pandora). Frankfurt/New York: Campus Verlag. (S. 21-45).
Ruelfs, Esther (1999). Mannequin oder Model?. In Pia, Müller-Tamm (Hg.), Automaten. Phantasmen der Moderne (S. 336-364). Köln: Oktagon.
Scola, Natalie (2021). Slow Fashion. Pandora Dolls and the History of Fashion Advertising. MUSINGS (Master of Museum Studies Blog at the University of Toronto). Zugriff am 22.02.2022 unter: http:// musingsmmst.blogspot.com/2021/02/slow-fashion-pandora-dolls-and-history.html.
Scorzin, Pamela C. (2019). Von Maxi zu Mini und umgekehrt. Zum Motiv der Modepuppe als Modemedium im Werk von Viktor & Rolf. denkste: puppe / just a bit of: doll (de:do) 2 (1), 55-63. Zugriff am 22.02.2022 unter: https://dedo.ub.uni-siegen.de/index.php/de_do/article/view/44/28.
Sykora, Katharina (2017). Auf der Schwelle der Moderne. Osmose von Weiblichkeit und Großstadtraum in der Schaufensterfotografie. Feministische Studien, 17 (2), 16-31.
Thiel, Erika (1980). Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Henschelverlag
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Pandorapuppe, ca. 1590, Sammlung Livrustkammaren Stockholm, Schweden, Quelle. Zugriff am 22.03.2022 unter: http://emuseumplus.lsh.se/eMuseumPlus?service=ExternalInterface& module=literature&objectId=21288&viewType=detailView.
Abbildung 2: John Flaxman: Pandora Attired (Pandora angekleidet), 1817 (aus: Compositions From the Works Days and Theogony of Hesiod. London: published by Longman, Hurst, Rees, Orme & Brown, 1817, pl. 4).
Abbildung 3: Francisco Javier Gose: "Il a Eté Primé" robe du soir, erschienen in: La Gazette du Bon Ton 1914/N°3, Pl. 21.
Abbildung 4: Théâtre de la Mode, Pavillon de Marsan, 1945, © LAPI/Roger-Viollet, Courtesy of Dior. Zugriff am 22.03.2022 unter: https://www.dior.com/de_de/damenmode/haute-couture-shows/folder- herbst-winter-2020-2021-haute-couture-kollektion/le-theatre-de-la-mode-die-traum-odyssee.
Abbildung 5: Screenshot aus “No strings attached” Moschino, Frühling/Sommer 2021, Puppen von Jim Henson’s Creature Shop. Zugriff am 22.03.2022 unter: https://www.youtube.com/watch?v=EQQE- 9PrcIDo; 4:29/9:10.
Aliena Guggenberger
Bachelor in Kunst- und Kulturgeschichte an Uni Augsburg (2013-2017), Master in Europäischer Kunstgeschichte an der Uni Heidelberg (2017-2019). Seit 2019 dort wissenschaftliche Hilfskraft in der Lehre. Seit 2020 Promotionsprojekt an der LMU München zum „System Reformkleid – Die Karlsruher Modeschöpferin Emmy Schoch und die Erneuerung der Frauenkleidung“. Forschungsschwerpunkte in Kostüm- und Modegeschichte ab 1850 bis in die Gegenwart, im Kunstgewerbe des Jugendstil und in der Frauengeschichte um 1900. Aktuell lebt und forscht sie in Karlsruhe.
Korrespondenz-Adresse / Correspondence address:
aliena_guggenberger@web.de