denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.5 Nr.1 (2022) | Rubrik: Fokus
Tobias Lander
Focus: Narrative, Botschaften und visuelle Ästhetik figürlicher
Puppen in Mode, Kunst, Fotografie und Film
Focus:
Narratives, messages and visual aesthetics of figurative
dolls/puppets in fashion, art, film and photography
Abstract:
Heteronormative männliche Überlegenheitsnarrative, in denen die Frau als dienend,
verfügbar und benutzbar erscheint, kulminieren sowohl in älteren als
auch moderneren Kunstäußerungen im Topos der gänzlich auf Passivität ausgelegten
Puppe. Dieser Aspekt wird anhand der Werke der beiden Pop-Künstler:innen Allen
Jones und Jann Haworth untersucht und zu vergleichbaren Plastiken anderer Künstler:innen
und kultureller Puppen-Diskurse in Beziehung gesetzt. Während Jones lebensnah
gestaltete Kunststoffplastiken von in Reizwäsche gekleideten Frauen, die gleichzeitig als
Möbel fungieren, präsentiert, fertigt Haworth ihre French Maid aus Stoff und stopft sie
mit Watte aus. Die Frau ist bei Jones offensichtlich eine hochgradig sexualisierte Männerphantasie,
aber auch bei Haworth werden geschlechterrollenbezogene Stereotype bedient,
die auf erotische Rollenspiele verweisen. Die Jones-Frauen wie auch Haworth‘ French
Maid lassen sich im Kontext gesellschaftlich festgelegter Geschlechterrollen interpretieren:
Die verdinglichten Frauenkörper beider Künstler:innen werden zu Zeichen, welche
den gesellschaftlich tolerierten Sexus als repressiv entlarven.
Schlüsselwörter: Allen Jones, Jann Haworth, Pop Art, Schaufensterpuppe, Sexpuppe, RealDoll, Genderdiskurs, Sexismus, Uncanny Valley
Zitationsvorschlag: Lander T., Porno in der Puppenstube. Allen Jones, Jann Haworth und das Narrativ der sexuellen Verfügbarkeit im Kunstkontext.denkste: puppe – multidisziplinäre zeitschrift für mensch-puppen-diskurse, v. 5, n. 1, p. 18-25, 17 Okt. 2022. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/134
Copyright: Tobias Lander. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 17.10.2022
Um auf Zusatzmaterial zuzugreifen, besuchen Sie bitte die Artikelseite.
Wenn ein Narrativ der sexuellen Verfügbarkeit in der Kunstgeschichte
behauptet wird, mögen einem zunächst die unzähligen biblischen oder
mythologischen Darstellungen von der von König David begehrten badenden
Batseba bis zur von Zeus geraubten Europa einfallen, in denen Männer sich
Frauen aneignen. Doch obwohl die männlichen Protagonisten die zögernden, abwehrenden,
dennoch letztlich machtlosen Frauen mit Täuschung oder Gewalt bezwingen,
bleiben die Unterworfenen trotz aller Ohnmacht Agierende und obwohl diese Werke
nicht zuletzt als religiös oder humanistisch verbrämter Vorwand der Zurschaustellung
des nackten weiblichen Körpers dienen, bleiben die Frauen Subjekt.
Spätestens mit Expressionismus und Surrealismus änderte sich dieser Blick auf
den weiblichen Körper, der zu einem Objekt künstlerischer Obsession wurde.
Schwadronierten Paul Hindemith und Oskar Kokoschka in ihrer 1921 aufgeführten
expressionistischen Oper noch vom Mörder, Hoffnung der Frauen, während
Otto Dix und George Grosz ‚Lustmörder‘ mit ihren zerstückelten Opfern auf
Leinwand und Papier bannten, so sublimierten die Kubisten den modernen Topos
des fragmentierten Frauenkörpers in stiltypischer multiperspektivischer Auflösung
und Verzerrung. Die Surrealisten schließlich entdeckten die Puppe als Substitut:
Als Objekt künstlerischer Veränderung wurden Schaufensterpuppen auf
der Exposition Internationale du Surréalisme 1938 ins Joch oder in Ledermasken
gezwängt, in Vogelkäfige
gesteckt, zu Altarschreinen
oder wie bei Kurt Seligmanns
Ultramöbel zu einem
aus vier angewinkelten Frauenbeinen
bestehenden Hocker
umfunktioniert (Mahon
2005, 22, 39, 44ff.). Hans
Bellmer zerstückelte das
Mannequin und fügte es neu
zur berühmten La poupée
(vgl. Abbildung 1), trotz des
Skandals der unbeschränkten
Verfügungsmacht diesmal
ohne den Hautgout einer Morde feiernden moralischen Grenzüberschreitung wie
bei den Künstlern der Weimarer Republik. Denn wenn Bellmer mittels seiner
Deformationen die Bedrohung des eigenen Geschlechts durch das weibliche Geheimnisvolle
zu überwinden sucht (Gauthier 1980, 264), schafft er „erotisch-pornographische
Ungeheuer“ (Lampe 2001, 92) und dokumentiert keine Opfer und
Täter wie bei den Lustmordschilderungen der Expressionisten. Dennoch wird die
Puppe im Surrealismus zu einem der Künstlerphantasie ausgelieferten erleidenden
Objekt, das durch die Menschenähnlichkeit stets den realen Frauenkörper
mitmeint: Denn es sind vor allem weibliche Puppen, die von den Surrealisten
zum Material erotisch aufgeladener Werke gemacht werden: „Heißt das nun, […]
dass man immer von einem traditionellen Stereotyp ausgegangen ist, nämlich
dem Frauenraub des Malers und der Hingabe des Modells?“, fragt Gilles Néret:
[…] Die Künstler selbst sind gestern wie heute unverbesserliche Machos, die der Frau nicht das Recht der Initiative zugestehen, ebensowenig das Recht, ihren Willen zu bekunden, Entscheidungen zu fällen, zu handeln. Vielmehr ist die Frau, die zu allen Zeiten und zu aller Gefallen die beherrschende Rolle in den plastischen Künsten gespielt hat, nur ein Objekt des Begehrens gewesen, eine aufblasbare Puppe, mit der der Künstler machen konnte, was er wollte (Muthesius, Riemschneider u. Néret 1998, 10)..
Abbildung 1: Hans Bellmer, La poupée, 1935-36
Betrachtet man die Serie Hatstand, Tablel und Chair des britischen Pop-Künstlers
Allen Jones (* 1937) (vgl. Abbildung 2), die in einer Auflage von je sechs Exemplaren
produziert wurde,
welche sich geringfügig
unterscheiden, so ist
man geneigt, Néret zuzustimmen.
Jones‘ langbeinige,
großbusige und
mit Latexwäsche aus der
Fetischszene bekleideten
Frauen gaben aus feministischer
Sicht ständig
Anlass zu Kritik: „Es
ist wahrscheinlich keine
Kunst für Frauen“, vermutet
Georg Syamken
angesichts d Abbildung 1: Hans Bellmer, La poupée, 1935-36 er Plastiken: „Aber ist sie frauenfeindlich? Man muss die Frage bejahen, wenn man unterstellt,
hier sei die Frau nur als Sexualobjekt artikuliert“ (Syamken 1986, 138). Doch
erschöpft sich das Misogyne trotz der explizit sexualisierten Aufmachung der
Figuren mit hochhackigen Stiefeln, enggeschnürten Miedern oder unterarmlangen
Latexhandschuhen nicht darin, Frauen als Sexualobjekt anzusprechen. Was
für Entrüstung sorgte und immer noch sorgt, ist weniger die explizit erotische
Darstellung der Plastiken, ja noch nicht einmal deren ausdrücklich fetischistische
Aufmachung, sondern ihre Funktion als Stuhl, Tisch und Hutständer. Mögen
Werke, welche mittels eines Vorwands den voyeuristischen Blick des – heteronormativen
männlichen – Betrachters bedienen, heute durch unseren geschärften
Blick für Geschlechterdifferenz verdächtig wirken, so erscheinen Jones Frauen-
Möbel absolut inakzeptabel: Unbewegt und passiv haben sie jeden subjektiven
Gestaltungsspielraum eingebüßt, sind völlig Ding geworden. Dem verbreiteten
Schluss, die Frauenakte der Pop Art seien „im Grunde nichts anderes als leichtherzige,
witzige, in den Rang der Kunst erhobene Pornographie“ (Wilson 1975,
29 f.), widersetzen sich die Frauenmöbel von Jones dadurch ostentativ.
Als Pop-Künstlerin ordnet sich Jann Haworth (* 1942) zwangsläufig nicht
dem Diktum Nérets unter und auch ihre French Maid (vgl. Abbildung 3) will
sich nicht selbstverständlich an der Seite der hochgradig sexualisierten Puppen
von Jones einfinden. Die aus textilem Material nachgebildete Frau in der typischen
schwarz-weißen
Uniform eines
Zi m mer mädchens,
ruht je nach Ausstellungssituation
auf
einer Chaiselongue
oder einem anderen
weichgepolster ten
Sitzmöbel, die Beine
ausgestreckt und
locker übereinandergeschlagen.
Es ist
dieser laszive Ennui,
die rosa geschminkten
Lippen, die offenen
Haare und der kurze Rock, die darauf verweisen, dass es hier nicht um eine
haushälterische Tätigkeit geht, sondern dass die Arbeitskleidung als Attribut im
sexuell erregenden Rollenspiel gemeint ist. Die French Maid ist in der Kunst der
Pin-Ups ein Topos, der lediglich den Vorwand liefert, möglichst viel Haut zu entblößen
(Riemschneider 2002, 133f., 669f., 675f.). Das Zimmermädchen vertritt
– wie der blonde Surfer oder der Cowboy, den Haworth als Objekt vermeintlicher
weiblicher Wunschvorstellungen ebenfalls fabriziert, die sexuelle Komponente
eines Wunderlands voller Klischees, in dem Geschöpfe der Traumfabrik Hollywood
ebenso Platz finden wie die Klein-Mädchen-Träume riesiger Schmuckstücke
oder buntgemusterte Donuts (Lander 2012, 229, 253).
Abbildung 2: Allen Jones, Hatstand, Tablel und Chair, 1969
Abbildung 3: Jann Haworth, French Maid, 1966
Trotz ihrer ‚Pophaftigkeit‘ gründen Haworth‘ Pin-up-hafte French Maid und Jones Frauen-Plastiken letztlich auf zwei antiken Mythenmodellen: Jener des Bildhauers Pygmalion mit seiner von ihm erschaffenen Elfenbeinstatue Galatea und jener der „lebenden Statuen“ des Daidalos bzw. der Automatoi des Hephaistos. Letztere werden als geniale Schöpfer technischer Apparate geschildert, die menschliche Bewegungen, Laute und sogar denkendes Verhalten zeigen. Hinsichtlich der raffinierten Imitation des menschlichen Körpers fügen sich alle hochtechnisierten realistischen Puppen von der ‚atmenden‘ Reborn-Puppe bis hin zu den kommunizierenden Real Dolls in diese Traditionslinien ein. Was die hyperrealistische Baby- und die High-Tech-Sexpuppe verbindet, ist deren Zuschnitt auf ein individuelles Bedürfnis sowie deren unmittelbare Verfügbarkeit (vgl. Runge 2020). Die Unerträglichkeit des Unerfüllbaren – ein Kind, eine Partnerin – wird durch das Substitut gemindert, wenn nicht aufgelöst. Dass diese Kompensation tragisch enden kann, zeigt ein Beispiel aus der Kunstgeschichte, versuchte Oskar Kokoschka doch seine Obsession für Abbildung 3: Jann Haworth, French Maid, 1966 Alma Mahler mittels einer Nachbildung der verlorenen Geliebten zu stillen, die er bei der bekannten Puppenmacherin Hermine Moos in Auftrag gab: „Ist der Mund zum Öffnen?
Abbildung 4: Hermine Moos, Alma Mahler-Puppe, 1919
Und sind auch Zähne und Zunge darin? Ich wäre glücklich“. Die plüschige Alma- Mahler-Puppe (vgl. Abbildung 4) musste aufgrund ihrer dem Material angemessenen Anmutung enttäuschen, erwartete Kokoschka doch offensichtlich eine Art Frühform der lebensnahen Real Doll: „Ich bin ehrlich erschrocken über die Puppe, die, obwohl ich meinen Phantasien einen gewissen Abzug zugunsten der Realität zu machen bereit war, in zu vielen Dingen widerspricht, was ich von ihr verlangte und von ihnen erhoffte“, schrieb Kokoschka 1919 an die Puppenmacherin, „die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut“ (Weber u. Elsen-Schwedler 2002, 41; Söntgen 1999, 125ff.).
Abbildung 5: John de Andrea, Self Portrait with Sculpture, 1980
Künstler:innen, die lebensnahe Plastiken
des Menschen zu ihrem Thema gemacht
haben, messen sich ganz offensichtlich
am antiken Mythos: Das Self Portrait with Sculpture (vgl. Abbildung
5) von John De Andrea (* 1941) zeigt
den auf einem Arbeitshocker sitzenden
Künstler mit Pinseln und anderen
Arbeitsutensilien neben einer nackten
Frau auf einem Sockel – ein Pygmalion
des 20. Jahrhunderts. Das vom Künstler
geschaffene lebensechte Inkarnat
des Oberkörpers wächst aus dem marmornen
Weiß der Beine und Unterarme
seiner ‚modernen Galatea‘. Der Verweis
auf den antiken Mythos schützt den Künstler in gewisser Weise vor dem Vorwurf,
lediglich auf eine illusionistisch-täuschende Wirkung zu zielen, im Sinne
eines platten Trompe-l’oeil Effekts der perfekten Imitation der Oberfläche. So
wurde hyperrealistischen Bildhauern wie de Andrea bereits früh vorgeworfen,
ihre lebensnahen Abbilder seien letztlich kaum mehr als die allenfalls handwerklich
überzeugenden Schaustücke bei Madame Tussauds (Masheck 1975,
91; Levin 1975, 104 f.). Dass Künstler:innen sich auf Pygmalion berufen ist also
nachvollziehbar, dass sie den Aspekt der sexuellen Verfügbarkeit dieser Kunstgeschöpfe
thematisieren, erstaunt schon eher, da die Fallhöhe vom Kunstwerk
zum Latex-Pendant aus dem Erotik-Shop mit dem Grad der Ununterscheidbarkeit
wächst. Ist die Vorlage erkennbar ein vulgäres, massengefertigtes Gebrauchsobjekt,
dessen intime Verwendung ein Publikum in der Regel ausschließt, erfährt
das Kunstwerk eine zusätzliche Abwertung. Denn auch wenn seitens der Künstler:
innen die Verbindung zu Sexpuppen nicht gesucht wird, werden allzu realistische
Umsetzungen von der Kritik angeprangert: „Die Käufer entreißen den
prosperierenden Pygmalions die serienmäßig angefertigte Schöne Galatea und
und schleppen sie, wie Matrosen ihre aufblasbaren Weibchen, zu ästhetischer
Beruhigung nach Hause“ (Schneede 2012, 39). Die Pygmalionerzählung ist eben
nicht nur einer der berühmtesten Gründungsmythen der Kunst, sondern auch der
geistige Urgrund der Real Doll, ist sie doch wie die antike Elfenbeinstatue des
Bildhauers „ein künstlich erzeugtes Wesen, das für Sex erschaffen wurde“ (Mayor
2020, 143).
Stacey Leigh (*1971) und Louisa Clement (*1987) sind zwei Künstlerinnen,
deren Arbeiten sich auf völlig verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Intentionen
mit Sexpuppen
auseinandersetzen: Die
Fotografin Leigh untersucht
in ihren Tableaus
die graduelle Ähnlichkeit
von Puppe und
Vorbild, als „Parabeln
über die Macht mimetischer
Schöpfungen“,
um eine auf den Pygmalionmythos
zielende
Aussage der Robotikerin
Elly Rachel Truitt
umzuwidmen (Mayor
2020, 144), während
Abbildung 6: Louisa Clement, Representative, 2021
Louisa Clement ihren eigenen Körper zum Vorbild einer Serie von Real Dolls macht (Representative, 2021; vgl. Abbildung 6): Die unbelebten Substitute sollten durch motorengesteuerte Mimik und einen rudimentären aber noch dazulernenden Sprachcomputer lebendig wirken, zudem seien ihre Avatare „sexuell funktionsfähig“, betont Clemens. „Mehr sagt sie dazu nicht, aber man kann sich schon vorstellen, wie so eine Puppe funktioniert und wie sie sich dabei verhält, also eigentlich nicht verhält, wie sie einfach daliegt: unterwürfig, willenlos und stets verfügbar“ (Nietfeld 2021). Da die eigens programmierte Künstliche Intelligenz (KI) des Sprachcomputers auf der Persönlichkeit der Künstlerin basiert, macht die Künstlerin ihren Avatar zudem auf dieser im weitesten Sinne psychologischen Ebene durch den Nutzer verletzbar. Die Kunstäußerung Clements hat dadurch eine völlig andere Intention als beispielsweise das von John de Andrea auf der documenta 5 präsentierte kopulierende Paar (vgl. Abbildung 7).
Abbildung 7: John de Andrea, Arden Anderson and Nora Murphy, 1972
Zum einen trennt sie der zeittypische Diskurs, der sich heute anders als bei John de Andrea kaum mehr an der provozierenden Freizügigkeit entzündet, zum anderen ist das Werk des Hyperrealisten reine Repräsentation, erst recht da seine Puppen nicht denselben Platz wie die Zuschauer beanspruchten und so die vielzitierte Grenze zwischen Kunst und Leben ostentativ aufrecht erhielten: In einer durch eine niedrige Glaswand abgetrennten Ecke des Ausstellungsraumes räkelte sich de Andreas nacktes Pärchen auf einem Stück Teppich, was den Eindruck eines ‚Menschengeheges‘ erweckte. Clements Doppelgängerpuppen sind hingegen vor allem konzeptuell angelegt: Die Überlassung des eigenen Bildes zum beliebigen Gebrauch ist ein Skandalon, das selbstverständlich in Ausführung, aber auch als Gedankenspiel funktioniert: De Andreas sich selbst genügendes Paar kann nicht dergestalt wirken, fehlt hier doch die Leerstelle, die die reale oder imaginierte Akteur:in einnehmen könnte.
Dass Puppen nicht nur Begeisterung auslösen, belegen zahllose Foren, in denen
den lebensnahen Ersatzmenschen mit Schaudern begegnet wird. Hier ist
nicht jener Grusel gemeint, welcher das Puppenmotiv in Horrorfilmen erfolgreich
gemacht hat, sondern das Unbehagen gegenüber der „perfekten Scheinlebendigkeit“
lebensnaher Nachbildungen (Sauer 1983, 23). Ortega y Gasset
beschreibt diese „peculiar uneasiness aroused by dummies“: „Treat them as
living beings, and they will sniggeringly reveal their waxen secret. Take them
for dolls, and they seem to breathe in irritated protest. They will not be reduced
to mere objects“ (Levin 1975, 107). Zwar resultiert die Fallhöhe zwischen liebenswertem
Begleiter und tödlicher Bedrohung auch bei Horrorfilmpuppen
von Chucky bis Annabelle aus der bereits im Spielzeug angelegten Kindähnlichkeit,
viel stärker jedoch aus ihrem unnatürlich lebendigen Agieren. Doch
auch ohne zum Leben zu erwachen, können lebensnah gestaltete Puppen einen
verstörenden Eindruck hinterlassen: „Some people are repulsed by the dolls,
while others are empathetic towards them“, stellt die Fotografin Stacy Leigh
fest und erliegt selbst dieser Ambivalenz ihrer Modelle: „They had a strange
effect on me. I was empathetic to them because they looked so real, but I also
felt uncomfortable, like they were watching me“ (McGuire 2014, o. S.; Jauregui
2015, o. S.). Das Starren der Puppen findet sich durchgängig als Motiv der
Irritation, so beispielsweise in Margaret Atwoods Five Poems for Dolls: „This
is not a smile, / this glossy mouth, two stunted teeth; / the dolls gaze at us /
with the filmed eyes of killers“ (Atwood 1978, 28). Insbesondere bei lebensnah
gestalteten Puppen lässt einzig der starrende Blick zweifeln, es mit einem echten
Menschen zu tun zu haben, so wie schon vor zwei Jahrhunderten E. T. A.
Hoffmanns unwissentlich in den schönen Automaten Olimpia verliebter Protagonist
Nathanael: „Und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe
möchte ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen
Augen. Mir wurde ganz unheimlich“ (Hoffmann 1986, 27). Betrachtet man
Stacy Leighs Werke, in denen lebende Menschen mit Puppen interagieren, so
fällt dieser Aspekt unmittelbar auf. Trotz des hohen Realitätsgrades entlarvt
der tote Blick die Surrogate (vgl. Abbildung 8).
Das beschriebene
unangenehme
Gefühl gegenüber
Puppen – von Horrorfilmfans
durchaus
als delightful horror geschätzt –
kann sich bei angstgestörten
Personen
gar zur Automatonophobie
auswachsen
(Ballion 2012).
Die Betroffenen
fürchten sich vor
unbelebten Wesen,
die so wirken, als seien sie lebendig. Dabei spielt insbesondere der Grad der Menschenähnlichkeit
eine Rolle, der als Uncanny-Valley-Effekt beschrieben wird.
Dieser bereits 1970 vom japanischen Robotiker Masahiro Mori geprägte Begriff,
bezeichnet die Akzeptanzlücke menschenähnlicher, aber als künstlich erkannter
Ersatzmenschen. Die Akzeptanz eines androiden Roboters, einer Filmanimation,
eines Computerspiel-Avatars oder eben einer Puppe steigt zunächst mit zunehmender
Menschenähnlichkeit an, wenn sich aber die Simulation morphologisch
stark an das lebendige Vorbild annähert, kippt das Akzeptibilitätsurteil jedoch
plötzlich ins Negative: Die Kopie erscheint zu realistisch, um nicht echt sein zu
wollen. Aber sie erscheint nicht realistisch genug, um zu vertuschen, dass sie
nicht echt ist. Unser evolutionär auf ständigen Abgleich menschlicher Physiognomie,
Gestik und vor allem Mimik trainiertes Gehirn kann diesen Konflikt nicht
lösen und lehnt die Täuschung ab. Dieser paradoxe Effekt einer Ablehnung des
beinahe – aber eben nur beinahe – perfekten Abbilds erscheint in Diagrammen
als tief eingeschnittener Graph, eben als Uncanny Valley, als unheimliches Tal
(Hsu 2012; Asmussen 2022).
Dieses Phänomen hat Auswirkungen auf die Rezeption der hier betrachteten
Kunstwerke. Die mit Sexpuppen nachgestellten Szenen von Stacy Leigh bewegen
sich tief in diesem unheimlichen Tal, wenngleich die Künstlerin den Effekt zu variieren
scheint: Tatsächlich irritieren hochartifizielle Aufnahmen der Künstlerin, in
denen geschminkte Puppen mit künstlichen Schweißperlen, Tränen oder Speichelfäden
realistischer wirken sollen, stärker als jene, in denen die Kunstwesen durch
bewusste Störungen des Abbildhaften, etwa durch sichtbare Gussgrate der Silikonhülle
oder unnatürlich erscheinende Posituren, leicht als solche erkennbar sind
(vgl. Abbildungen 8 u. 9). Die Aspekte der Künstlichkeit werden von Stacy Leigh in
ihrer gesamten Bandbreite behandelt, wobei die Diskrepanz zwischen den Sexpuppenfotos
der Reihe Average Americans und den
ebenfalls in ihrem OEuvre
vorhandenen Aufnahmen
realer Menschen (Actual Humans), die ostentativ
keine Idealkörper zur
Schau stellen, offensichtlich
ist (Leigh 2022). Doch
selbst wenn die Puppen
menschlich und die lebenden
Modelle puppenhaft
wirken sollen: Objekt und
Subjekt bleiben zumindest
graduell stets geschieden.
Abbildung 8: Stacy Leigh, Actual Humans, 2015
Dass die hyperrealistischen Skulpturen eines John de Andrea trotz ihrer extremen Menschenähnlichkeit nicht auf Ablehnung stoßen, liegt zum einen daran, dass der Kunstbetrachter gewohnt ist, mit Irritationen umzugehen, vielmehr erwartet er diese in einer Ausstellung moderner oder zeitgenössischer Kunst geradezu. Dabei bleiben de Andreas Plastiken als Akte kunsthistorischen Traditionslinien eingeschrieben, erst recht, wenn er seine Figuren an Mythologie oder berühmte Kunstwerke anlehnt oder sie mittels grisailleartiger Farbgebung vom menschlichen Vorbild entfremdet (Lander 2016, 235ff.). Was bleibt, ist die Sensation des Trompe-l’oeil. Dieses Vergnügen an der Täuschung steht dem oben beschriebenen Uncanny-Valley-Effekt diametral entgegen, da die quasiperfekten Nachbilder stets als Artefakte erkennbar bleiben müssen. Während die RealDolls und Reborn-Puppen vorgaukeln, äußerlich und im Gebrauch menschlich zu sein und diese Illusion möglichst weitgehend aufrechterhalten wollen, kann das Trompe- l’oeil nur funktionieren, wenn die Illusion in einem Moment des Staunens aufgelöst wird.
Abbildung 9: Stacy Leigh, Average Americans, 2014
Was bedeuten diese Betrachtungen nun für die Werke von Allen Jones und Jann Haworth? Zunächst einmal erscheint die French Maid zu stoffpuppenhaft, um mit einer tatsächlichen Frau verwechselt zu werden, wenngleich manchmal behauptet wird „there are figures by Jann Haworth that look so real that one’s suspicions are immediately aroused“ (Melville 1971, 2). Gerade wenn man weiß, dass die Künstlerin die „most beautiful ideal woman“ schaffen wollte, erstaunt die Machart, die der mimetischen Perfektion einer hyperrealistischen De Andrea-Plastik oder gar einer Real Doll beinahe so diametral entgegensteht wie die plüschige Puppe Oskar Kokoschkas. Der Grad der Menschenähnlichkeit, den Leigh in Nuancen auslotet, ist bei Haworth im direkten Vergleich allenfalls summarisch. Zudem wirkt die diese Stoffpuppenhaftigkeit bedingende Technik in einer Zeit, in denen sich Künstlerinnen neue Räume erobern, geradezu altbacken. Dennoch hat sie einen Sinn: Zum einen vermeidet Haworth hier den Uncanny-Valley-Effekt, da ihre Puppe deutlich als menschenähnliche Puppe erkennbar bleibt. Scheinlebendigkeit existiert allenfalls auf den ersten flüchtigen Blick und ohne den Schauder des Zweifelnmüssens. Desweiteren versteht die Künstlerin die ‚typisch weibliche‘ Machart ihrer Objekte als eine bewusste Abgrenzung zu tradierten Repräsentationsformen männlicher Bildhauerkollegen
I was determined to be better than them, and that’s one of the reasons for the partly sarcastic choice of cloth, latex and sequins as media. It was a female language to which the male students didn’t have access,
so Jann Haworth:
Soft, Warm, Changeable, Flexible. This was the main turning point for ‚why‘ on fabric […]. It was quite quite repulsive to me to think of bronze as a representation. When Paolozzi [Eduardo Paolozzi, ihr Lehrer an der Slade School of Fine Arts, London, T.L.] saw my work for the first time […] he said: ‚Cast it in bronze‘. I told him that I had cast it in cloth and that was the point (Bigham et al. 2007, 36).
Die Puppenhaftigkeit der French Maid wird hier also auch zu einem Statement zu
Geschlechterdifferenz und Künstler:innenkonkurrenz.
Umso mehr erstaunt die Wahl des Motivs als einer passiv dasitzenden sexuell
aufgeladenen French Maid, der das Verfügbarsein und Bedienende qua Habitus
und Kostümierung eingeschrieben ist. Doch auch die Genese des Werks erzählt
vom genderpolitischen Bewusstsein der Künstlerin – obwohl dieser Begriff noch
nicht existierte: Ursprünglich sollte die French Maid ein Playboy Bunny darstellen,
gedacht als Geburtstagsgeschenk für den Playboy-Gründer Hugh Hefner. Haworth
erzählt von ihrem Versuch, die Bunny-Uniform für ihre Puppe zu bekommen:
When she was finished, she was bare and ready for her fitting, which was to take place at the now-open Playboy Club. I was to take her in and select the costume that I thought was the appropriate color and material. The resident dressmaker at the club was to make it. I was anticipating the velvet outfit, rather than the satin standard Bunny garb. When I arrived the dressmaker woman was not ready to see me. I was asked to wait in a corridor outside the main club area – not an area for public access but behind the scenes, taggy and cold. Bunnies came and went; they smoked, took breaks. Tuxedoed male minders patrolled, keeping the girls “at it,” rudely bossing them about if they paused when working or took too long over anything. There was a steady flow of employees, and pretty much without exception the men took note of the doll and offered a sneer / a grope / a remark that they considered tasty (and I found consistently slimy) […]. I was completely pissed off and had come to the conclusion that this kind of male attention was what was going to happen to this figure from now on. I was hugely angry and walked out […]. I really liked this figure and wondered how to give her a new identity. The Bunny was utterly out. I wanted something that was not crass. I was completely comfortable with her being sexually endowed, but where was that to go without her just being an object? […]. So French Maid to me was good stuff. French women didn’t reside in my mind as chic, but more pert, independent, self-assured, sexy. The France of my mind was racially mixed and assertive. It wasn’t Playboy (Haworth 2015, o. S.)..
French Maid ist also weniger die Annäherung an ein Stereotyp, sondern vielmehr die Rückeroberung einer erotischen Phantasie, die durch die Bildwelten der Männermagazine zum Klischee degradiert wurde. Gleichzeitig gibt sie ein deutliches Statement zum letztlich rassistischen Frauenbild des Playboy ab, dessen Centerfolds in der Mehrzahl jung, weiß und blond zu sein hatten. Ähnliches machte Haworth auch mit Ihrem lässig an der Wand lehnenden Cowboy (vgl. Abbildung 10) zum Thema: Trotz dessen Klischeehaftigkeit besitzt das Werk politischen Anspruch, da seine durchgehend weiße Farbe auf den vorherrschenden Rassismus verweist, welcher sich der Künstlerin Mitte der 1950er bei einem Rodeo in Texas offenbarte:
It’s a conflicted Adonis […] on the one hand a gorgeous seductive image, on the other an utterly stupid, prejudiced jerk (I was appaled […] to see the rest rooms and the water fountains in Texas were segregated: ‚White Ladies‘ one one and ‚Black Women‘ on the other). The whiteness of the Cowboy was partly about this“ (Bigham et al. 2007, 36).
Mit French Maid decouvriert Haworth die repressive Normierung der Frau unter körperlichen und ethnischen Aspekten, und dadurch, dass ihre Puppe bei aller beabsichtigten Mainstream-Sexiness offensichtlich eine weiblich konnotierte Näharbeit ist, verunmöglicht sie die Vereinnahmung durch den männlichen Herrschaftsblick. Aufgrund der physikalischen und haptischen Eigenschaften des textilen Materials disqualifiziert sich Haworth‘ Puppe als Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Zudem bricht Jann Haworth die Geschlechterstereotypen durch die Wahl des als weiblich konnotierten Mediums auf: Selbst wenn Haworth Donuts and Coffee Cups (vgl. Abbildung 11) nachbildet, thematisiert sie geschlechterdifferente Projektionsfläche, überzieht sie die Machosymbole amerikanischer Cops doch mit zartem blauen Blümchenmuster. Obwohl die Aufmachung der Jones-Plastiken einen Bezug zu sexuellen Praktiken knüpft, in welchen Lust aus Unterwerfung und Erniedrigung entsteht, wirken sie geradezu lustfeindlich: Mit ihrer kühlen Perfektion und dem beschriebenen unbehaglich starren, niemanden ins Auge fassenden Blick wehren sie jeden Anspruch des sexuellen Stimulans ab. Das Gesicht der Hutständer-Dame kündet von demonstrativem Desinteresse am Gegenüber, die als Stuhl dienende Frau hat die Augen niedergeschlagen und die Kniende in Table blickt zu Boden: Ihr Autismus erlaubt ihnen allenfalls die Selbstbetrachtung mittels eines Spiegels. Sie sind keine Wunschbilder, wie die Centerfold-Schönheiten der Männermagazine, deren Reiz im Versprechen ihrer prinzipiellen Erreichbarkeit liegt, keine All-American-Girls, deren offene Blicke den Betrachter zum Dialog oder mehr einladen. Die Plastiken von Jones sind eben nicht deutbar als „Anstöße in Richtung auf eine sportliche Seite sexueller Praxis […], was man weniger als Empfehlung als vielmehr als eine enttabuisierende Entkrampfung verstehen sollte“, da „die Sportlichkeit der Sexualität selbst […] so fiktiv wie die gynäkologischen Mirakel von Männerphantasien“ sei:
Abbildung 10: Jann Haworth, Cowboy, 1963/64
Der Spielraum der Phantasie hinsichtlich der Nutzung als Möbel ist groß. Er sichert die Lebensnähe des Objekts, fühlt man sich doch am wohlsten mit Dingen, in deren Umgang man geübt ist. Das heißt, die Übung im Umgang mit Tischen, Sitzgelegenheiten und Hängevorrichtungen lässt angesichts der figuralen Gestaltung an andere Gewohnheiten denken, über die man weniger offen spricht,
bemerkt Syamken in verbaler Duplizierung der Jones unterstellten Misogynie
(Syamken 1986, 138 f). Doch inwiefern sollte der „Spielraum der Phantasie
hinsichtlich der Nutzung als Möbel“ groß sein? Was anderes könnte der Benutzer
tun, als auf dem Chair zu sitzen, den Table als Tisch zu benutzen oder
ein Kleidungsstück an
den Hatstand zu hängen?
Schon Letzteres
scheint anmaßend, fordert
die Stehende von
Jones in ihrer emotionslosen,
hieratischen Pose
doch geradezu Respekt
ein: Denn die Plastik
ist nicht lebensgroß wie
die mimetischen Skulpturen
de Andreas, wie
fälschlicherweise häufig
zu lesen ist, sondern 190
cm groß, also weit von
der Durchschnittsgröße einer realen Frau entfernt. So erscheint die Größe des
Hatstands – trotz der hochhackigen Stiefel, welche die als Hutständer dienende
Frau trägt – jenseits eines als normal empfundenen menschlichen Maßes, was
den erwähnten Uncanny-Valley-Effekt verstärkt und eher beunruhigend wirkt.
Des Weiteren finden auch andere Körpermaße der Plastiken wie die schmale
Taille, die überlangen Beine oder die perfekte Symmetrie der großen Brüste
mit den steil aufragenden Brustwarzen der Stehenden kaum eine Entsprechung
in der Realität: Der Künstler zitiert hier Archetypen aus speziellen Fetischmagazinen
der 1940er und 1950er Jahre wie Bizarre oder Exotique, deren Schöpfer
mittels in Fetischkleidung wie Korsagen gezwängter fotografierter Modelle
oder gezeichneter langbeiniger Pin-Ups mit Wespentaille einen eher sanften Sadomasochismus bedienten. Diese Idealkörper in ihren verschiedenen Rollen
befriedigten Phantasien, welchen eine wirkliche Frau kaum entsprechen
konnte. Für seine Möbel-Frauen verpflichtete Jones einen auf Kunststoffe
spezialisierten Berufsbildhauer, der die Körper nach seinen Angaben zu
formen hatte, wobei die Körpermaße der Jones-Frauen nach den Maßstäben
menschlicher Anatomie letztlich unüblich verzerrt ausfielen. Mit ihren auf
größtmögliche sexuelle Stimulanz abzielenden, idealisierten Proportionen
sind die Figuren von Jones – am überzeugendsten die hochaufgerichtete Hutständer-
Frau – allgemeingültige und treffende Kommentare zur Tradition
körperästhetischer Wunschvorstellungen und zwar sowohl im Hinblick auf
künstlerische Plastik als auch auf den unter dem Druck dieses Ideals gestaltbaren
menschlichen Körper (Lander 2012, 234 f.).
Zum sexuellen Akt gar – auch zum fiktiven – taugen die Plastiken nicht,
obwohl zumindest bei Chair und Table die Haltung der Frauen gängige Sexstellungen
evoziert. Die betonte Passivität der Frauen und die lancierte Aktivität
des Mannes bieten im Versuchsaufbau von Jones keinerlei Vorteil: Es
sind gerade der große quadratische Ledersitz und die gläserne Tischplatte,
welche den Gebrauch reglementieren und somit die Figuren ihrer sexuellen
Funktion berauben und sie letztlich ‚unpenetrierbar‘ machen. Sie haben nichts
mit obsessiven Künstlerphantasien von der Art der Kokoschka-Puppe zu tun,
genauso wenig verbindet die Jones-Frauen mit den modernsten Menschenautomaten,
welche als Substitut der Frau zum männlichen Sexualpartner der
Zukunft avancieren sollen (Bethge 2007, 154 ff.; Fröhlich 2018). Obwohl in
ihrem ‚idealen‘ Aussehen und ihrer puppenhaften Wehrlosigkeit den Real-
Dolls verwandt, sind die Pop-Plastiken ungeeignet, um im Spiel mit Körpern
und Gliedern Phantasien zu erwecken und zu befriedigen. Ihr Körper ist nicht
von lebensnaher Elastizität, sondern wie bei einer Schaufensterpuppe bloß
harte Kunstharzhülle, und schon die kleinste Berührung muss den sexuellen
Reiz als rein optischen entlarven. Allen Jones stattet seine in höchstem
Maße artifiziellen Frauen mit sexuellen Reizen aus, um sie dem Interessierten
entziehen zu können. Das Versprechen der aufreizenden Körper wird in
keinem Moment eingelöst: Seine Frauen sprechen weniger von libertinärer
Enttabuisierung und sexueller Phantasie und schon gar nicht von auslebbarer
Obsession, sondern von der Entfremdung des modernen Menschen selbst im
Privatesten und Intimsten.
Dass es Jones trotz seiner hochgradig sexualisierten Bildsprache um von
Konformitätsprinzipien und Stereotypen beherrschte Geschlechterdefinitionen
geht, lässt sich auch an Werken wie Maid to Order III (vgl. Abbildung 12) ablesen,
welches beispielsweise die Transformation von Transpersonen thematisiert.
Die dargestellte Verwandlung
vom Mann –
repräsentiert durch einen
Anzug mit Hut, der surrealistisch
ohne Träger
aufrechtsteht – zur Frau,
welche auf High Heels im
hautengen, durch einen
Gürtel taillierten, knapp
knielangen Kleid, unter
dem sich die Jones-typischen
riesigen Brüste
mit den erigierten Brustwarzen
dominierend
abzeichnen vom Anzug
wegschreitet, zeigt eine
Metamorphose von bloßer
Kleidung zu bloßem
Körper und damit einen
männlichen als auch
weiblichen Stereotyp.
Abbildung 12: Allen Jones, Maid to Order III, 1971
The prime constant […] ist that masculine and feminine identities are never represented in an individualized form, but instead are always summoned forth in a generalized, symbolic guise, as a piece of clothing or as faceless anatomy. Such a depersonalized treatment of the human image, which was to lead in the 1970s to the misleading accusations of sexism levelled at Jones, was essential to the operation of his imagery on a more abstract and conceptual level, and it permeates his treatment of male and female alike (Livingstone 1995, 16).
Das transportierte Frauenbild entspringt deshalb nicht ausschließlich zeittypischer
Libertinage, vielmehr bringen sich die Kunstwerke kritisch in den Diskurs
um gesellschaftlich festgelegte Geschlechterrollen und deren Überwindung ein.Folgt man dieser Deutung, so lassen sich die die ‚Frauenmöbel‘ von Jones den
Emanzipationstendenzen der 1960er Jahre unterordnen. „Suppose my sculptures
did underline a human condition“, bemerkt Allen Jones: „When Goya painted a
blood bath, it did not follow that he condoned it“ (Webb 1982, 373).
Die Bedürfniserfüllung der zum beliebigen Gebrauch bestimmten Substitute
verweigern sich alle angeführten Kunstwerke qua ihrer Materialität,
aber auch durch die Kategorienverschiebung zum Kunstwerk. Selbst Louisa
Clements RealDoll behauptet ihren Status als ‚unpenetrierbares‘ Kunstobjekt,
hieße dies doch, den kunstmarkt- und medienkritischen Aspekt, der letztlich
die Puppe erst als Kunstwerk definiert, zu verneinen. Trotz der Sensation des
Tabubruchs bewegen sich alle Werke in einem am Diskurs interessierten intellektuellen
Umfeld, verfügbar sind sie als conversation pieces nicht als sexuelles
Stimulans. Das Narrativ der sexuellen Verfügbarkeit dient so als Vehikel gender-,
kunstmarkt- oder technologiekritischer Interpretationsangebote. Dies gilt
auch für Haworth und Jones: Statt die Jones-Frauen also als misogyne, pornographische
Männerphantasien abzutun und Haworth eine weibliche ‚Puppenstubenästhetik‘
vorzuwerfen, lassen sich beide im Kontext eines Diskurses um
gesellschaftlich festgelegte Geschlechterrollen interpretieren: Die verdinglichten
Frauenkörper der beiden Pop-Künstler:innen werden zu Zeichen, welche
den gesellschaftlich tolerierten Sexus als klischeehaft und schlussendlich als
repressiv entlarven. Der moderne Pygmalion erfüllt weiterhin seine Bedürfnisse,
aber diese sind politisch.
Asmussen, Michael (2022): Uncanny-Valley-Effekt (16. 02. 2022). Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien Uni Kiel: Das Lexikon der Filmbegriffe. Abgerufen am 14. 05. 2022 unter: https:// filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/u:uncannyvalleyeffekt-7740
Atwood, Margaret (1978). Five Poems for Dolls. Mississippi Review, vol. 7, no. 3, 28-31.
Ballion, Tatiana (2012). Physiological Reactions To Uncanny Stimuli: Substantiation Of Self-assessment And Individual Perception (zugl. Diss. Orlando 2012). STARS, University of Central Florida, Electronic Theses and Dissertations 2004-2019, Zugriff am 14. 05. 2022 unter: https://stars.library.ucf.edu/etd/2182/
Bethge, Philip (2007). Robotik. Liebhaber mit Platine, Der Spiegel. Das deutsche Nachrichtenmagazin, Nr. 50 / 10. Dezember 2007, 154 ff.
Bigham, Julia, McBean, William, Miller, Corinne, Nugent, Marguerite (2007). Pop Art Book. London: Black Dog Publishing.
Fröhlich, Sonja (2018). Sexroboter – Das Geschäft mit der künstlichen Liebe. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 02. 12. 2018, Zugriff am 14. 05. 2022 unter: https://www.rnd.de/panorama/sexroboter- das-geschaft-mit-der-kunstlichen-liebe-CK5X45PLMRAHARYJ7IGXSLILSE.html
Gauthier, Xavière (1980). Surrealismus und Sexualität. Inszenierung der Weiblichkeit. 2. Aufl. Wien / Berlin: Medusa.
Haworth, Jann (2015). Working Girl: Jann Haworth on Maid (1966). Walker Art Center Sightlines, 21. 08. 2015, Zugriff am 14. 05. 2022 unter: https://walkerart.org/magazine/jann-haworths-playboy-maid
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1986). Der Sandmann. Frankfurt a. M.: Insel (erstmals Berlin 1816).
Hsu, Jeremy (2012).« Why « Uncanny V »lley » Human Look-Alikes Put Us on Edge. Scientific American, 03. 04. 2012. Abgerufen am 14. 05. 2022 unter: https://www.scientificamerican.com/article/ why-uncanny-valley-human-look-alikes-put-us-on-edge/
Jauregui, Andres (2015). Sex Doll Portraits Evoke A Future Where Humans Love Robots, Artist Says. The Huffington Post, 20. 05. 2015 (updated 06. 12. 2017). Abgerufen am 14. 05. 2022 unter: https:// www.huffpost.com/entry/sex-doll-portraits-photos-stacy-leigh_n_7342880
Lampe, Angela (2001). Die unheimliche Frau: Weiblichkeit im Surrealismus (Ausst.kat. Bielefeld 2001). Heidelberg: Edition Braus.
Lander, Tobias (2012). Coca-Cola und Co. – Die Dingwelt der Pop Art und die Möglichkeiten der ikonologischen Interpretation (zugl. Diss. Freiburg 2009). Petersberg: Michael Imhof.
Lander, Tobias (2016) John de Andreas Schwarz-Weiß-Plastiken – Über das Paradoxon des Farbverzichts im Hyperrealismus. In: Bushart, Magdalena, Wedekind, Gregor (Hg.). Die Farbe Grau (Phoenix. Mainzer Kunstwissenschaftl. Bibliothek, Bd. 1) (235-250), Berlin/Boston: De Gruyter.
Leigh, Stacey (2022): Actual Humans. Zugriff am 14. 05. 2022 unter: http://www.stacytheartist.com/ new-gallery-5
Levin, Kim (1975) The Ersatz Object (Arts Magazine, Vol. 48, No. 5, Feb. 1974). In: Battcock, Gregory (Hg.): Super Realism. A Critical Anthology (96-110). New York: E. P. Dutton & Co.
Livingstone, Marco (1995). Jones the Printmaker. In: Ders., Richard Lloyd, Norman Rosenthal (Hg.): Allen Jones Prints (Ausst.kat. London 1995) (9-32). München und New York: Prestel.
Mahon, Alyce (2005). Surrealism and the Politics of Eros. 1938-1968. New York: Thames & Hudson 2005.
Masheck, Joseph (1975). Verist Sculpture: Hanson and De Andrea (Art in America, Nov.-Dez. 1972, Special Issue: Photo-Realism). In Gregory Battcock (Ed), Super Realism. A Critical Anthology (pp. 187-211). New York: E. P. Dutton & Co.
Mayor, Adrienne (2020). Götter und Maschinen. Wie die Antike das 21. Jahrhundert erfand. Darmstadt: WBG.
McGuire, Caroline (2014). The sex dolls that look REAL: Fashion photographer makes the fake women look startlingly life-like in glamour shoot. Daily Mail Online, 04. 12. 2014. Abgerufen am 14. 05. 2022 unter: https://www.dailymail.co.uk/femail/article-2860474/The-sex-dolls-look-REAL-Fashion- photographer-makes-fake-women-look-startlingly-life-like-glamour-shoot.html
Melville, Robert (1971). Jann Haworth. New York: Sidney Janis Gallery
Muthesius, Angelika, Riemschneider, Burkhard, Néret, Gilles (1998). Erotik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln: Taschen.
Nietfeld, Joana (2021). Wie fühlt es sich an, wenn andere mit dem eigenen Avatar Sex haben? Künstlerin Louisa Clement präsentiert ihr Double. Der Tagesspiegel, 16. 05. 2021, Zugriff am 14. 05. 2022 unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/kuenstlerin-louisa-clement-praesentiert-ihr-double-wiefuehlt- es-sich-an-wenn-andere-mit-dem-eigenen-avatar-sex-haben/27194494.html
Riemschneider, Burkhard (Hg.) (2002). 1000 Pin-Up Girls. Köln: Taschen.
Runge, Kathrin (2020). Ab wann wird der Umgang mit Reborn-Puppen grenzwertig? Interview mit Wolfgang Hantel-Quitmann. In: Frankfurter Allgemeine, 31. 10. 2020, Zugriff am 14. 05. 2022 unter: https://www.faz.net/-gun-a507i
Sauer, Lieselotte (1983). Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 335 / zugl. Diss., Bonn 1982). Bonn: Bouvier.
Schneede Uwe M. (2012). 1972 – Auftritt der amerikanischen Fotorealisten. Erste Verrisse, erste Überlegungen. In: Letze, Otto, Institut für Kulturaustausch (Hg.). Fotorealismus. 50 Jahre hyperrealistische Malerei (Ausst.kat. Tübingen / Madrid 2012/13) (38-43). Ostfildern: Hatje Cantz.
Söntgen, Beate (1999): Täuschungsmanöver. Kunstpuppe – Weiblichkeit – Malerei. In: Müller-Tamm, Pia, Sykora, Katharina (Hg.). Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne (= Ausst.kat. Düsseldorf 1999) (S. 125-139,). Köln: Oktagon.
Syamken, Georg (1986). Allen Jones: Stuhl. In: Werner Hofmann (Hg.). Eva und die Zukunft. Das Bild der Frau seit der französischen Revolution (Ausst.kat. Hamburg 1986) (138-139). München: Prestel.
Webb, Peter (1982). The Erotic Arts. 4. Aufl., London: Secker & Warburg.
Weber, Sylvia C. (Hg.), Elsen-Schwedler, Beate (2002). Frau im Bild / Women Portrayed. Inszenierte Weiblichkeit in der Sammlung Würth / Portrayals of Women in the Würth Collection (Ausst.kat. Schwäbisch-Hall 2002/03). Künzelsau: Swiridoff.
Wilson, Simon (1975). Pop Art, München / Zürich: Knaur.
Abbildungsverzeichnis
(Soweit nicht explizit ausgewiesen, stammen die Fotos aus dem Archiv des Autors und des Kunstgeschichtlichen Instituts der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.)
Abbildung 1: Hans Bellmer, La poupée, 1935-36 (mit Teilen von 1933-34 und Ergänzungen und Überarbeitungen von 1945 und 1970-71), bemaltes Holz, Pappmaché, Leim und Farbe, Haare, Schuhe, Socken, 61 x 170 x 51 cm, Centre Pompidou / Musée d’Art Moderne, Paris © VG Bild-Kunst, Bonn 2022.
Abbildung 2: Allen Jones, Hatstand, Tablel und Chair, 1969, Fiberglas, Leder, Naturhaar u.a., Ludwig Forum für internationale Kunst, Aachen © Allen Jones (Foto: Anne Gold, Aachen).
Abbildung 3: Jann Haworth, French Maid (in der Ausstellung International Pop, Walker Art Center, Minneapolis, 2015), 1966, div. Textilien u.a., 109,2 x 96,5 x 147,3 cm, Walker Art Center, Minneapolis © Jann Haworth (Foto: Gene Pittman / courtesy of the Artist).
Abbildung 4: Hermine Moos, für Oskar Kokoschka hergestellte Puppe (Alma Mahler), 1919 (1920 zerstört), div. Textilien u.a., lebensgroß; im Besitz der Universität für angewandte Kunst Wien, Oskar-Kokoschka-Zentrum.
Abbildung 5: John de Andrea, Self Portrait with Sculpture, 1980, Öl auf Polyvinyl, Mischtechnik, lebensgroß, Privatsammlung © John de Andrea.
Abbildung 6: Louisa Clement, Representative, 2021 (Ausstellung Counterpain, Cassina Projects, Mailand, 2021/22), Real Doll, Kleidung u.a., lebensgroß. Courtesy: Louisa Clement.
Abbildung 7: John de Andrea, Arden Anderson and Nora Murphy (documenta 5, Kassel, 1972), 1972, Öl auf Polyesterharz und Fiberglas u.a., 61 x 201 x 94 cm, Museu Coleção Berardo, Lissabon © John de Andrea (Foto: Brigitte Hellgoth © Documenta-Archiv).
Abbildung 8: Stacy Leigh, Actual Humans, 2015, Fotografie © Stacy Leigh, New York / courtesy of the artist.
Abbildung 9: Stacy Leigh, Average Americans, 2014, Fotografie © Stacy Leigh, New York / courtesy of the artist.
Abbildung 10: Jann Haworth, Cowboy, 1963/64, © Jann Haworth (Foto: Pallant House Gallery, Duncan McNeill / courtesy of the artist).
Abbildung 11: Jann Haworth, Donuts and Coffee Cups, 1963 © Jann Haworth / courtesy of the artist.
Abbildung 12: Allen Jones, Maid to Order III, 1971, Öl auf Leinwand, 182,9 x 139,7 cm, Waddington Galleries, London © Allen Jones.
Tobias Lander
Lehrbeauftragter am Kunstgeschichtlichen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau / Lehrer an der Badischen Malerfachschule Lahr. Studium an der Schule für Gestaltung Basel und der Universität Freiburg, 2009 Promotion. 2001 Preisträger der Dr. Peter Deubner-Stiftung für aktuelle kunsthistorische Forschung, 2010 Finalist des Terra Foundation for American Art International Essay Prize. Forschungsschwerpunkte: Moderne und zeitgenössische Kunst und Fotografie, Designgeschichte, kunstwissenschaftliche Hermeneutik.
Korrespondenz-Adresse / Correspondence address:
tobias.lander@kunstgeschichte.uni-freiburg.de