denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.5 Nr.1 (2022) | Rubrik: Fokus
Fabian Schmitz
Focus: Narrative, Botschaften und visuelle Ästhetik figürlicher
Puppen in Mode, Kunst, Fotografie und Film
Focus:
Narratives, messages and visual aesthetics of figurative
dolls/puppets in fashion, art, film and photography
Abstract:
ABSTRACT (English)
Der Filmemacher Vincent Dieutre kreiert in seinem Film Orlando ferito (2015)
eine Collage aus unterschiedlichen Bildern, Sequenzen und sich überlagernden
Erzählungen. Einer dieser Erzählstränge handelt vom geheimen Leben der sizilianischen
pupi hinter der Bühne ihres Marionettentheaters. Ihre Geschichte entwickelt
sich zum eigentlichen roten Faden des Films und führt verschiedene Ebenen (autobiographische,
essayistische, ästhetische) in einer Parabel zusammen. An der filmischen
Inszenierung des Schauspiels um den in einer tiefen Melancholie gefangenen Orlando
kristallisieren sich Dieutres ästhetische Verfahren in einer steten Verkehrung von Realität
und Fiktion, von Leben und Theater heraus. Die sizilianischen pupi tragen mit ihrem
allegorischen Potenzial dazu bei, indem sie multiple Identifikationen anbieten. So erkennt
sich nicht nur Dieutre in einer Marionette wieder, sondern auch seine Freunde und Gesprächspartner
verwirren sich in den Fäden der pupi, bis deren Blick zum Spiegel der
Zuschauer im Dunkel des Kinosaals wird.
Schlüsselwörter:Vincent Dieutre, Orlando ferito, Mimmo Cuticchio, opera dei pupi, Marionette, Marionettentheater, Georges Didi-Huberman, Pier Paolo Pasolini, Filmessay
Zitierhinweis: Schmitz F., Verwicklungen der sizilianischen opera dei pupi in Vincent Dieutres Film Orlando ferito, v. 5, n. 1, p. 18-25, 17 Okt. 2022. DOI: https://doi.org/10.25819/dedo/136
Copyright: Fabian Schmitz. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/9992
Veröffentlicht am: 17.10.2022
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Als der französische Filmemacher Vincent Dieutre (*1960) im Jahr 2009 zum
ersten Mal nach Sizilien geht, ist diese Reise für ihn zugleich eine Rückkehr
nach Italien, in das Land, in dem er in den 1980er und Anfang der 1990er
Jahren prägende Erfahrungen machte, die er am Beginn seines cineastischen Schaffens
in den Filmen Rome désolé (1995), Leçons de ténèbres (2000) und Bologna Centrale
(2002) verarbeitet. Nach der Ära Berlusconi ist dieses Italien für ihn kaum mehr
wiederzuerkennen. So ist der im vorliegenden Beitrag betrachtete Film Orlando ferito
als abschließender Teil von Dieutres Europa-Triologie mit Leçons de ténèbres
(2000) und Mon voyage d’hiver (2003) entstanden, in dem er sich thematisch der politischen
Resignation der intellektuellen Linken in Europa annimmt (vgl. Cuthbertson
2021). Trotz all seines intellektuellen Pessimismus’ sieht er dennoch hoffnungsvolle
Lichter auf der für ihn neu entdeckten Insel Sizilien aufflackern. Er nimmt diese Impulse
zum Anlass, die charakteristische autofiktionale Erzählform seiner bisherigen
Filme – eine Bildmontage mit der durch seine Stimme aus dem Off darüber gelegten
Erzählung – aufzubrechen. In einer Collage aus Bildern der Insel und ihrer Städte, Interviewsequenzen,
autofiktionaler Erzählung sowie der sizilianischen opera dei pupi,
dem traditionellen Marionettentheater der Insel, entwickelt Dieutre in Orlando ferito
(2015) einen vielstimmigen filmischen Essay. Dabei sind es die Puppen, die darin zu
einem zentralen Moment der filmischen Struktur werden. Ihre Fäden durchziehen
und verbinden alle Ebenen des Dokumentarischen und der fiktionalen Erzählung, sie
geben theatralische Handlungsmuster vor und sind zugleich selbst ein Beispiel der
Transformation ihrer eigenen Kunst in eine hoffnungsvolle Zukunft.
Folgend werde ich mich auf die Perspektive der pupi und auf die von ihnen
ausgehenden Fäden und damit einhergehenden Verwicklungen konzentrieren. Dabei
gehe ich zunächst auf die Puppe und die Kunstform des Marionettenspiels in der
opera dei pupi ein. Wie sieht Dieutres Anverwandlung dieser Spielform aus, welche
Reflexionen ihrer spielerischen wie seiner filmischen Kunst knüpft er daran? Im
nächsten Schritt beschäftige ich mich mit den aus Holz geschnitzten Marionetten.
An Fäden und Eisenstangen geführt, werden sie auf zweierlei Weise animiert und als
„Hybrid-Marionetten“ (Reimann 1982, 19) bezeichnet, so dass ihnen ein Abbildcharakter
genuin zu eigen ist. Diese Qualität nimmt Dieutre spielerisch auf und wendet
das Betrachten der Puppe zu einem Blick in den Spiegel um. Vielfache und wechselnde
Identifikationen bieten beide, Dieutre und die sizilianischen Marionetten, an, so
dass am Ende auch der Zuschauer des Films sich im Blick der Puppe erkennen kann.
Bei seinen visuellen Streifzügen über die Insel Sizilien und ihre Städte lässt
sich Vincent Dieutre von den Betrachtungen Georges Didi-Hubermans zu Pier
Paolo Pasolinis These der verschwindenden lucciole, der Glühwürmchen, leiten
(Didi-Huberman 2012; Pasolini 2011, 104ff.). Als kleine Lichter der Nacht
stehen sie für diejenigen Menschen, die sich nicht mit widrigen Umständen
zufriedengeben, sondern gegen sie aufbegehren und sie verändern wollen. In
diesem Sinne hat auch Dieutre der zeitgenössischen verblendeten Medien- und
Konsumgesellschaft zum Trotz nicht aufgegeben, an Italien als ein sozialpolitisches
Laboratorium zu glauben: „Comme Georges, je n’ai jamais désespéré de
l’Italie. Je ne peux pas, je ne veux pas. C’est le laboratoire.“11 – [Wie Georges,
habe ich nie die Hoffnung an Italien aufgegeben. Ich kann es nicht, ich will es
nicht. Es ist das Laboratorium] (Dieutre 201722, OF 2:59). In seinen sizilianischen
Suchbewegungen nach den im Verborgenen leuchtenden lucciole beginnt
er wieder zu staunen. Diese neue und ursprüngliche Verwunderung übersetzt
er visuell in seinen Film mit Elementen der sizilianischen opera dei pupi und
ihren Marionetten. Er strukturiert den Film nach ihrem Vorbild in Akte, Pround
Epilog sowie einem Zwischenspiel33 und spricht von seiner Intention, aus
der intellektuellen Reflexion zum Verschwinden der Glühwürmchen eine Oper,
ein Drama oder ein Märchen machen zu wollen (OF 3:56).
Mit dem Beginn des ersten Akts blicken die Zuschauer:innen auf eine farbig
bemalte Guckkastenbühne, auf der sich die ritterlichen Paladine um Orlando
versammelt haben, um Carlo Magno, Karl den Großen, zu grüßen (vgl.
Abbildung 1). Der Film dokumentiert hier eine typische Inszenierung aus dem
Stoffrepertoire der opera dei pupi mit ihren Protagonisten des Rolandlieds, den mit Rüstung ausgestatteten pupi armati. Die charakteristische Spielweise aus Fäden
und Gliedmaßenlenkung mit Eisenstangen wird in großen Gesten vorgeführt.
Abbildung 1: OF 6:05
Die später einsetzende Stimme von Eva Truffaut aus dem Off, die Zitate aus Didi- Hubermans Text liest, unterstreicht diese dokumentarische Ebene des Films, da der eigentliche Ton der pupi dafür in den Hintergrund tritt. Die gezeigte Szene der Guckkastenbühne ist aber nur ein Element unter weiteren Varianten, die den filmischen Diskurs ausmachen, wie beispielsweise der Sound oder die Stimme aus dem Off. Auf diese Weise zeichnet Dieutre mit dieser komplexen Überblendung filmisch eine Tradition und Kunstform populärkultureller Unterhaltung auf, die ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert hat (Kühn 2012; Pasqualino 1978). Zugleich ist dieses sizilianische Marionettenspiel für ihn eine lucciola – eines der Glühwürmchen, das angesichts der kulturellen Veränderungen der Fernsehund Spektakelkultur den Krisen seiner Kunst trotzt. Dafür steht insbesondere der puparo (Marionettenbauer) und opranto (Marionettenspieler) (vgl. Kühn, 2012, 17) Mimmo Cuticchio, der in Palermo mit seinem Marionettentheater Santa Rosalia diese Tradition am Leben erhält und weiterentwickelt. In einer vielschichtigen Szene inszeniert Dieutre ihn im Halbdunkel hinter der Marionette Karls des Großen, die an einem Ständer hängt, unter sich ein museales Objektschild, das die Marionette benennt. Dieutre lässt Cuticchio für die Marionette sprechen und unter anderem sagen: „Io sono una forza del passato“ – [Ich bin eine Kraft der Vergangenheit] (OF 12:59). Das spannungsvolle Arrangement verweist auf die Historisierung der Marionette und ihre Musealisierung als einer Kulturtechnik, die nunmehr in ihren Artefakten bewahrt wird und nicht mehr lebendig ist (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: OF 13:22
Die Marionette behauptet sich
aber im gespielten Sprechen und beschwört
ihre Herkunft aus den Wäldern
der Glühwürmchen und ihre
überlebende Kraft für die Gegenwart.
Den Ausdruck ihres Texts verdankt
sie wiederum der Sprechkunst von
Mimmo Cuticchio, der zwar nur im
Halbdunkel hinter ihr präsent ist, für
den aber das artikulierte Aufbegehren
gleichermaßen gilt. Sein theatrales
Sprechen ist beeinflusst von der
traditionellen Deklamationskunst des
contastorie, eines erzählenden und
ausdrucksstarken Sprechgesangs, für
den Cuticchio sich im Lauf seiner Karriere
verstärkt interessierte (Cuticchio
2010, 61ff.). Diese Inszenierung dokumentiert so zwar voneinander getrennt die
Spielkunst des opranti und die Puppe als Werkzeug seiner theatralen Illusion,
zeigt aber zugleich, dass sie durch enge Fäden miteinander verbunden sind.
Übertragen gilt dies in gleicher Weise für Dieutres dokumentarischen Ansatz,
da in dieser Szene die Musealisierung der Marionette auf der Ebene der kurz
zuvor begonnen fiktionalen Erzählung der pupi ebenso die Ohnmacht des Königs
und sein Exil bedeuten. So schieben sich in Orlando ferito die Ebenen
durchweg ineinander, die dokumentarischen Fäden ziehen sich durch die Fiktion,
die in ihrem kunstfertigen Spiel wiederum gezeigt wird.
For his part, Bellmer, that profound connoisseur and
passionate aficionado of doll-ness observed that a dolDie Marionette behauptet sich
aber im gespielten Sprechen und beschwört
ihre Herkunft aus den Wäldern
der Glühwürmchen und ihre
überlebende Kraft für die Gegenwart.
Den Ausdruck ihres Texts verdankt
sie wiederum der Sprechkunst von
Mimmo Cuticchio, der zwar nur im
Halbdunkel hinter ihr präsent ist, für
den aber das artikulierte Aufbegehren
gleichermaßen gilt. Sein theatrales
Sprechen ist beeinflusst von der
traditionellen Deklamationskunst des
contastorie, eines erzählenden und
ausdrucksstarken Sprechgesangs, für
den Cuticchio sich im Lauf seiner Karriere
verstärkt interessierte (Cuticchio
2010, 61ff.).
Die eigentlich filmische Erzählung der pupi findet aber nicht auf der zuvor gezeigten Bühne des Marionettentheaters statt. Für ihre Parabel auf das Verschwinden der Glühwürmchen bedient sich Dieutre eines trickreichen Kunstgriffs. Während die Kamera über die an den Wänden des Fundus hängenden Puppen fährt und insbesondere ihre Gesichter fokussiert, erfindet er ihnen in seiner Stimme aus dem Off ein geheimes eigenes Leben:
Dans la remise du teatrino, ils sont là à attendre chaque jour que le spectacle commence. Imaginez un instant qu’ils ont une vie secrète et que, tapis dans leur petit monde derrière le monde, ce soit un autre drame qu’ils jouent, celui des lucioles, celui d’une génération. Orlando ferito – Roland blessé. Voilà, ça va commencer. – [Sie sind im Schuppen des teatrino und warten jeden Tag darauf, dass das Spektakel beginnt. Stellt euch vor, dass sie ein geheimes Leben haben und verkrochen in ihrer kleinen Welt hinter der Welt, sei es ein anderes Drama, das sie spielen, dasjenige der Glühwürmchen, dasjenige einer Generation. Orlando ferito – Verwundeter Roland. Bitte sehr, es wird beginnen] (OF 7:15-7:42).
Abbildung 3: OF 6:54
Im Hintergrund der Bühne, dort im Fundus, wo die Marionetten aufgereiht hängen
und auf ihren Einsatz und Auftritt warten, verlebendigt die Imagination des
Regisseurs sie (vgl. Abbildung 3). Die Verkehrung von Bühne und Hinterzimmer
ist zugleich eine von Theater und Leben, von Tag und Nacht. Erst nach ihrem
Schauspiel beginnt für die Marionetten das eigentliche Drama ihres Lebens in
den vor den Zuschauer:innen verborgenen Hinterzimmern des Theaters. So unterlegt
Dieutre beispielsweise in seiner Stimme aus dem Off etwas später eine
gefilmte nächtliche Szene an einem Stand auf dem Ballarò-Markt in Palermo
mit folgendem Kommentar: „La nuit, mon rêve enveloppe toute chose. Vie ou
théâtre? Le drame de Orlando avance, inexorable“ – [Nachts umhüllt mein
Traum alle Dinge. Leben oder Theater? Das Drama von Orlando schreitet voran,
unabwendbar] (OF 28:10). Hier verkehrt Dieutre in die entgegengesetzte
Richtung und reichert die Realität der Nacht mit seiner Erzählung der pupi an. Es
zeigt sich hier wieder seine charakteristische filmische Poetik, die Erzählung und
Dokumentation wechselweise verschränkt. In Orlando ferito wird diese Form der
Verkehrung zum bestimmenden Strukturmoment, das sich auf mehreren Ebenen
wiederholt und in seiner Gegenläufigkeit die einzelnen Fäden aufnimmt und stets
an die Erzählung der pupi zurückbindet.
Die zuvor dokumentierte theatrale Illusion des Marionettenspiels endet also
nicht mit ihrem Abtritt von den Brettern, die die Welt bedeuten – die eigentliche
Illusion ihres Lebens beginnt erst dann und die Zuschauer werden aufgefordert,
daran teilzunehmen. Sie ist insofern die wahre Erzählung der pupi, die des Nachts
nach ihrer Aufführung unter der Herrschaft des ‚Reichs der Lügen‘ in Europa leiden.
Carlo Magno ist von seinem Hof, dem Theater, ins museale Exil verbannt
und sein Neffe Orlando von einer tiefen Melancholie befallen. Entgegen seinem
Stand als Ritter weiß er in seiner allumfassenden Ohnmacht nicht mehr, gegen das
‚Reich der Lügen‘ anzukämpfen. Dies bedroht auch die Existenz ihres Theaters,
wie es in einer ersten Szene (OF 8:05) die beiden Marionetten Professore Patrimonio
und Nicotino im Fundus besprechen. Als charakteristische Nebenfiguren
der Farce und Satire sind sie diejenigen, die die epische Erzählung der ritterlichen
Paladine um Orlando und Rinaldo von außen kommentierend begleiten. Als solche
behauptet Nicotino wiederum, dass er ein „progetto di vita“ (OF 9:26) habe,
das ihn von den anderen Marionetten unterscheidet, die eng aneinander wie Sardinen
im Fundus hängen: Als aus Holz geschnitzte Figur des Rauchers, muss er
eben am Fenster sitzen, um dort seiner Bestimmung, dem Rauchen, nachzukommen und kann so die
Welt außerhalb des
Theaters betrachten.
(vgl. Abbildung
4). Seine aus zweifelhaftem,
aber für
die hölzerne Puppe
essentiellem Grund
privilegierte Position
ist wiederum ein
paradoxes wie poetisches
Zeichen ihrer
Lebendigkeit und
bekräftigt das eigenständige
Leben der
Marionette abseits
der Bühne. Nicotino ist so eine Figur auf der Schwelle zweier Welten, die ihren
Blick sowohl in die Realität als auch auf das Spiel im Theater wirft, und gleicht
darin der Perspektive des Regisseurs.
Abbildung 4: OF 8:04
Das poetische Paradox des eigentlichen Lebens der pupi hinter der Bühne wird
auch visuell evident. Anders als beim Schauspiel auf der Guckkastenbühne, wo die
Körper und Bewegungen der opranti, der Marionettenspieler, hinter den verzierten
Wänden verschwinden, sind sie in den Szenen des wahren Puppenlebens präsent. Ob
in Jeans, oder mit einfarbigen Schürzen, die versuchen, ihre Präsenz zu kaschieren,
sind ihre Arme und Hände an den Stangen der Marionetten sichtbar (vgl. Abbildung 5).
Auch hier greift wieder die für Dieutre charakteristische Verkehrung der Situation.
Verschleiert die Illusion des Theaters den eigentlichen Urheber für die Bewegung
und das Spiel der Marionette, gehört der opranto als wesentlicher Bestandteil der
Puppe zu ihrem Leben. Einerseits dokumentiert Dieutre so die Kunstfertigkeit des sizilianischen
Marionettenspiels in seiner Ausführung, andererseits nimmt er darin einen
Topos der Marionettentheorie auf, wonach die Puppe mit ihrem Spieler in einem
gemeinsamen und doch eigenständigen Tanz verschmilzt (Di Bernardi 2019, 59ff.).
Diese Naturalisierung ihrer Bewegung steht in eigentümlicher Spannung zu ihrer
sichtbaren Führung. Dies ist aber gerade der poetische Moment in Dieutres Erzählung
vom Leben der pupi, der die Zuschauer:innen herausfordert, sich von der Puppe ins
Staunen versetzen zu
lassen. Dies kommt
der Rückeroberung
einer kindlichen Perspektive
gleich und
tatsächlich verknüpft
Dieutre mit den Marionetten
diesen Aspekt:
„J’ai choisi les
pupi […] parce qu’ils
sont l’enfance de
l’art.“ – [Ich habe die
pupi ausgewählt […],
weil sie die Kindheit
der Kunst sind] (OF
25:58). Er denkt dabei
aber nicht an das Kinderzimmer als privilegiertem Ort der Puppensammlung, es ist
vielmehr das Spiel des Als-ob, welches die Puppe als Gegenüber evoziert. In diesem
Spiel schult sich die menschliche Fähigkeit zur Fiktion und legt somit die Grundlage
zur Kunst. Es ist gerade dieses Potenzial, im Tun-als-ob das vielfältig Mögliche auszuloten,
das er für seine Suche nach den im Verborgenen leuchtenden lucciole, den
Glühwürmchen von Sizilien, ins Feld führen will: „Et si la tragédie de pupi devenait
féerie? Et si nous decidions que tout reste possible? Prenons-en acte ici, à Sicile.“ –
[Und wenn die Tragödie der pupi zu einem zauberhaften Schauspiel würde? Und
wenn wir beschlössen, dass alles möglich bleibt? Nehmen wir dies zur Kenntnis hier,
auf Sizilien] (OF 1:22:35). Die sizilianischen Marionetten der opera dei pupi entstammen
nicht nur der Kinderstube der populärkulturellen Freizeitunterhaltung des 19.
Jahrhunderts, sondern verkörpern für Dieutre in ihrem Spiel die Urform aller Kunst.
Wesentlicher Bestandteil davon ist das gelebte Epos der Paladine um Orlando. Sein
Cousin Rinaldo ruft ihn entgegen seiner tiefgreifenden Resignation dazu auf: „Noi, i paladini,
resteremo valorosi e sublimi nei secoli dei secoli! […] No, no Orlando! Questa
sera dobbiamo ricominciare l’epopea!“ – [Wir, die Paladine, wir bleiben mutig und erhaben
durch die Jahrhunderte! Nein, nein Orlando! Heute Abend müssen wir das Epos
wiederbeginnen!] (OF 16:05). Auch hier bedeutet das Gesagte der Puppe in seiner Doppelbödigkeit
einerseits den Aufruf zur heroischen Erzählung und verweist andererseits auf sich selbst als Figur und Puppe, die in Literatur und Marionettentheater bereits seit
Jahrhunderten den tapferen Ritter darstellt. Der Wiederbeginn des Epos bedeutet so keineswegs
eine Wiederholung des ewig Gleichen. Während die Ritterfiguren von Orlando
und seinen Paladinen als Charaktere sie selbst verbleiben, ist es die Form ihrer Erzählung,
die sich über die Jahrhunderte verändert. Von den französischen Chansons de geste, dem
Rolandslieds, über Ariosts Orlando furioso bis hin zu Dieutres Orlando ferito:
Il est si long, si plein de mystères, le voyage des marionnettes. Karl der Große, ça me fait sourire, Charlemagne. Orlando, Roland, venu des forêts d’Allemagne, passant par les chansons de geste, par le roman baroque, l’Ariost, l’opera seria, pour abouter ici à Sicile, pauvres et fragiles, maintenant encore derrière eux toute l’histoire, tout le sang, toutes les larmes, la folie, la révolte, tout est là devant nous, si nous saurions encore les voir, leur donner la parole. – [Sie ist so lang, so angefüllt von Geheimnissen, die Reise der Marionetten. Karl der Große, das lässt mich schmunzeln, Charlemagne. Orlando, Roland, aus den Wäldern Deutschlands gekommen, ziehen sie durch die chansons de geste, den barocken Roman, Ariost, die Opera seria, um hier in Sizilien zu landen, arm und zerbrechlich, jetzt schon hinter ihnen all die Geschichte, das ganze Blut, all die Tränen, die Verrücktheit, die Revolte, all das ist vor uns, wenn wir es noch verstehen, sie zu sehen, verstehen, ihnen eine Stimme zu geben] (OF 39:05).
Die Marionette über sie selbst hinaus in ihrer historischen Tiefe zu sehen, sie als
Träger einer durch Zeiten, Räume und Kulturen sich stetig wandelnden Erzählung
zu begreifen, dies ist zugleich das Projekt von Dieutres Orlando ferito. Dabei
gehen die kanonischen Texte wie Ariosts Orlando furioso mit ihren vielfältigen
Erzählsträngen und Reflexion der Zeiten in den Fundus eines populärkulturellen
Narrativs ein, aus dem sich wiederum die Tradition der opera dei pupi speist
(vgl. Buonanno 2014). Auf der dokumentarischen Ebene wird dieser geschichtliche
Blick für die Kunstform des sizilianischen Marionettentheaters geschärft.
Die Fiktion des geheimen Lebens der Marionetten hinter der Bühne hat wiederum
Anteil am steten Wandel ihrer Erzählung in der Gegenwart. Dieutre beruft
sich dabei auf: „Aby Warburg, qu’aime tellement Georges, soutenait l’idée que
l’histoire des formes serait d’abord celle des migrations. L’histoire de leur voyage
dans l’espace et dans le temps.“ – [Aby Warburg, den Georges so sehr mag,
verfocht die Idee, dass die Geschichte der Formen zuerst eine der Migration sei.
Die Geschichte ihrer Reise in Raum und Zeit] (OF 38:50). Dieses Zitat in seiner
Stimme aus dem Off legt Dieutre bezeichnender Weise über eine Filmsequenz,
in der er selbst an einem Tisch sitzt und eine Super 8-Kamera mit einer neuen
Filmkassette bestückt (vgl. Abbildung 6).
So geht von der
historischen Betrachtung
der pupi und ihrer
Erzählungen eine
Reflexion der Vielfältigkeit
ihrer Formen
aus, die bis zur
Selbstbetrachtung des
Regisseurs und der
vielgestaltigen Collage
seines Films geht,
von deren einzelnen
Elementen neben
kleinen Szenen in Super
8 auch wiederum die opera dei pupi enthalten ist. Aber auch sie fasst Dieutre
hier nicht als eine traditionelle Kunstform auf, die es in ihrer Ausformung
zu dokumentieren und damit festzuhalten gilt. Er schöpft vielmehr das kreative
Potenzial ihrer Charaktere und Erzählungen aus und schreibt ihr als eine neue
aktuelle Form das geheime Leben der Marionetten im Hinterzimmer des Theaters
zu. Mit dem puparo Mimmo Cuticchio an seiner Seite, hat er darin einen
Marionettenspieler als kongenialen Gefährten, der neben den traditionellen
Aufführungsformen der opera dei pupi ihre Zukunft in der Weiterentwicklung
ihrer Erzählungen sieht und selbst mit seinen Puppen neue Wege beschreitet
(Cuticchio 2010; Di Bernardi 2019, 121ff.). So ist der Aufbruch Orlandos zur île
du soleil sans pitié, zur Insel der mitleidlosen Sonne, um von der Stimme Karl
des Großen ein rettendes Orakel zu hören, nur eine veränderte Form der Odyssee
der ritterlichen Helden. Über ihren Gleichnischarakter und Dieutres Fahrt
nach Lampedusa, verbleibt diese ästhetische Reflexion aber nicht autoreflexiv
auf sich beschränkt, sondern öffnet sich der politischen Dimension ihres zentralen
Begriffs der Migration. Genau an dem Ort, wo sich für Dieutre Ohnmacht
und Versagen Europas im Angesicht der Migration über das Mittelmeer am
deutlichsten zeigen, verknüpfen sich die Fäden der Kunstformen von Marionette
und Film in ihren kreativen Anverwandlungen mit den Wanderungen der
Menschen, die sich in und durch sie erzählen.
Abbildung 6: OF 38:58
Nach den mannigfaltigen Verflechtungen der sizilianischen pupi in ihren und Dieutres Erzählungen soll ein letztes Augenmerk den wechselseitigen Blicken gelten, die in Orlando ferito von ihnen ausgehen und auf sie geworfen werden. Eine zentrale Sequenz dafür ist eine Szene, in der Mimmo Cuticchio allein mit seiner Marionette Orlando zu sehen ist. Sie ähnelt in ihrer Anlage der bereits angesprochen Szene mit der Puppe Karls des Großen (vgl. Abbildung 7). Erschöpft und resigniert liegt Orlando mit losen Fäden auf den Brettern seines Schiffes, das im Mittelmeer treibt. Insofern ist er einerseits eingebunden in die Erzählung seines Lebens hinter der Theaterbühne, aber die Szene hebt sich andererseits daraus hervor, da Cuticchio Orlando nicht spielt. Während er auf die Puppe blickt und ihr in affektiven Gesten über den Holzkörper streicht, liest, fragt und deklamiert er Grundlegendes zu ihrer Geschichte, ihrem Sein und Werden:
Abbildung 7: OF 1:11:56
Del stupido mondo antico e del feroce mondo futuro è rimasto solo una bellezza impura. Ma tu, Orlando mio, restavi una marionetta ostinata come un marmo antico. E la tua bellezza salvata dal mondo antico, tollerata dal mondo futuro, sfruttata dal mondo presente è diventata una tristezza mortale. Adesso gli uomini si voltano per guarda-ti, si mettendo per un attimo dei loro giochi idioti, si discordano della loro frivola assenza e si domandano: E mai possibile che Orlando già abbia indicata la strada? Che quel pupo impiumatato, dal sorriso immobile, statuetta di legno senza valore, ci abbandonico così alle porte del mondo, a nostro destino di morte? – [Von der dummen alten Welt und der grausamen zukünftigen Welt ist nur eine unreine Schönheit übrig geblieben. Aber du, mein Orlando, bist eine starre Marionette wie ein alter Marmor geblieben. Und deine Schönheit, die von der alten Welt bewahrt, von der zukünftigen Welt toleriert und von der gegenwärtigen Welt ausgenutzt wird, ist zu einer tödlichen Traurigkeit geworden. Jetzt drehen sich die Menschen um, um dich zu sehen, sie lassen für einen Moment von ihren dummen Spielen ab, sie legen ihre frivole Abwesenheit ab und wundern sich: Ist es möglich, dass Orlando bereits den Weg gewiesen hat? Könnte es sein, dass diese gefiederte Marionette mit dem unbeweglichen Lächeln, eine wertlose Holzstatuette, uns so an den Toren der Welt unserem Schicksal des Todes überlässt?] (OF 1:11:01).
Abbildung 8: OF 1:12:05
Mimmo Cuticchio wird hier abermals in seiner Sprechkunst des contastorie gezeigt. In seinem Blick auf die Figur Orlandos resümiert er die Aspekte ihrer Kunst. Die Schönheit seines Gesichts und seiner starren Holzglieder kommt der künstlerischen Ausstrahlung einer marmornen Statue gleich, sie überdauert die Jahrhunderte und zeugt zugleich von deren Kultur. In den zeitlich verschiedenen Verwendungsweisen der Marionette verknüpft Cuticchio die sie gefährdende Melancholie mit den gegenwärtigen Krisen ihrer Kunstform, aber auch mit einem Hoffnungsschimmer im Blick auf die Zukunft sowie mit der Erzählung ihres verborgenen Lebens in Orlando ferito. Als die Zuschauer: innen ihn hoffnungslos und dem Wahnsinn nahe ohne seine Rüstung auf dem Mittelmeer treibend sehen, baut Cuticchio auf die Kraft der Marionette, die Menschen zu berühren, sie aus ihrem abgestumpften Alltag herausholen zu können. Genau in diesem Moment richtet er seinen Blick von Orlando in die Kamera und erzeugt durch die an die Zuschauer:innen adressierten Fragen deren Staunen umso eindringlicher (vgl. Abbildung 8). Er fordert die Identifizierung des Publikums mit der Puppe und ihrem dargestellten Schicksal geradezu heraus. Eingefangen von der Illusion, hat das Publikum die Puppe zeitlich wie räumlich bis an die Grenzen des Seins begleitet und erwartet Orlandos wie die eigene Rückkehr. Interessant ist, wie auch hier durch die Verkehrung von fiktionsbehauptendem Text und illusionsbrechender Inszenierung in der direkten Ansprache der Zuschauer:innen ein poetischer Moment von hoher Intensität kreiert wird. Entgegen einer immersiven Beteiligung des Publikums durch das theatrale Spiel, vertraut Dieutre hier ganz auf die filmische Begegnung mit der Puppe als solcher, auf das staunende Erkennen im Blick des holzgeschnitzten Ebenbilds. Dieutre inszeniert hier ex negativo genau dieses Paradox der Marionette, die in ihrem unbelebten Körper und der starren Mimik erst durch das Spiel belebt wird und so das Staunen im Blick des Publikums erzeugt. Dabei kommt der Film ihr selbst sehr nahe, insofern seine starren Bilder auch erst in ihrer abfolgenden Bewegung ihn konstituieren. Dieutre führt in dieser Szene die dokumentarische Perspektive mit seiner Erzählung der opera dei pupi filmisch zusammen, um das Wesen und die Kunst der Marionette auf den Punkt zu bringen. Sie eröffnet darin ihr Potenzial, sich mit den sizilianischen pupi zu identifizieren, das als ein strukturell angelegtes Moment in Orlando ferito von Beginn an suggestiv nahegelegt wird. Michael Buonanno führt das identifikatorische Potenzial der sizilianischen pupi auf ihren allegorischen Charakter zurück, der beispielsweise über die Adaption unterschiedlicher Soziolekte oder Gruppensprachen im Spiel forciert wird (Buonanno 2014). Während die Kamera eine Häuserwand mit einem Hinweisschild auf ein Teatro dei pupi filmt, wird in einer Passage von Pasolini, die er an einen Freund schrieb und die von Eva Truffaut aus dem Off vorgelesen wird, ein grundlegend pessimistisches Menschenbild als zeitgenössisch entworfen (vgl. Abbildung 9):
Regarde autour de toi, quelle est-elle cette tragédie? La tragédie est ce qu’il n’existe plus d’êtres humains. On ne voit plus que des singuliers engins qui se lancent les uns contre les autres. – [Schaue um dich herum, was ist diese Tragödie? Die Tragödie ist, dass keine menschlichen Wesen mehr existieren. Man sieht nichts anderes mehr als vereinzelte Maschinen, die sich gegeneinander werfen] (OF 6:44).
Die beklagte Entmenschlichung zur Maschine perspektiviert noch einmal in anderer
Weise die Marionette, auf die mit dem Pfeil an der Hauswand zu ihrem
Theater bereits verwiesen wird. In einem anschließenden Schnitt auf im Fundus
hängende Paladine kündigt Dieutre in seiner Stimme aus dem Off dies an: „Et
cette tragédie, les marionnettes vont vous la raconter à leur manière.“ – [Und diese
Tragödie werden die Marionetten euch auf ihre Weise erzählen] (OF 6:53). Darin
nimmt er diese von Pasolini über Didi-Huberman weiterentwickelte Reflexion
in seinen Film auf. Er verknüpft sie nicht mit dem erzählerischen Stoffrepertoire
der opera dei pupi, sondern mit der besonderen Art die pupi zu bewegen. Mit aus
Holz geschnitzten Gesichtern und Gliedern, die über metallene Ösen verbunden
sind, bewegen die Marionetten sich wie Maschinen. Als Dieutre wenig später als
Erzähler aus dem Off die Geschichte der pupi begonnen hat und Nicotino sowie
den Professor Patrimonio als „singuliers engins un peu perdus“ – [vereinzelte
und etwas verlorene Maschinen] (OF 8:05) einführt, verwundert dies keineswegs.
Die Marionette übernimmt diesen Maschinencharakter, ohne daran Schaden
zu nehmen, da sie aufgrund ihrer spezifischen Bewegbarkeit genau an dieser
Schwelle zwischen Verlebendigung und Mechanik existiert. Wie Dieutre schon
zuvor mit der Odyssee der pupi die politische Dimension der Migration über das
Mittelmeer thematisch verknüpft, bindet er an diese Metapher der Marionette als
Maschine den weiteren Erzählfaden seines Films zur Homosexualität auf Sizilien.
Stimmt ihn in einer ersten Sequenz zu Beginn des Films das Gemenge des
ersten Pride-Marsches in Palermo, in dem er sich zeigt, hoffnungsfroh, in seiner Suche nach den überlebenden Glühwürmchen fündig zu werden, beleuchtet er
in der Metapher der Maschine die Schattenseiten einer sich in der machistischen
Gesellschaft Italiens notwendigerweise im Verborgenen auslebenden Subkultur.
Während er auf seinem Laptop sich wechselnde Bilder von nicht mehr identifizierbaren
Männer aus dem Internet ansieht, kommentiert er diese digitale Verfügbarkeit
homosexuellen Begehrens auf Sizilien: „Sur le réseau, je ne vois circuler
qu’un désir mort, une succession des visages arrachés, gommés, scratchés, pantin
du monde globalisé, de la haine de soi […].“ – [Im Netz sehe ich nur ein totes
Begehren zirkulieren, eine Abfolge von herausgerissenen, ausradierten, ausgestrichenen
Gesichtern, Hampelmänner der globalisierten Welt, des Selbsthasses
[…]] (OF 17:47). Die homosexuellen Männer auf Sizilien, die in der Parallelwelt
des Internets auf der Suche sind, ihr Begehren zu erfüllen, anonymisieren sich
und bieten nur Klischees des globalisierten Sexmarktes feil. Als solche ‚Hampelmänner‘
erfüllen sie in marionettenhaften Posen ein mediales und damit leeres
Begehren. In diesen digitalen Bildern, die jeder Individualität entbehren, werden
für Dieutre die Männer somit zu belanglosen Puppen. Sein Blick forciert in Orlando
ferito in dieser Weise auch die Annäherung von Mensch und Marionette,
deren Grenzen scheinbar ineinander übergehen.
Dies gilt nicht nur für seinen essayistischen Dokumentarfilm und die Erzählung
der opera dei pupi, sondern auch für Dieutre selbst, der stets sein autobiographisches
Ich in seine Filme einbringt. Die Erzählung um den verwundeten Orlando
strukturiert auch die Bewegungen des dokumentarischen Subjekts. Bewusst
führt Dieutre sie immer wieder eng, so dass aus der Marionette Orlando sein fiktionales
Alter ego wird, durch das sich die eigene Geschichte jeweils anders, wie
in der opera dei pupi theatral heroisch, märchenhaft oder auch hoffnungsvoll erzählen
lässt. Dies zeigt sich beispielsweise am Zwischenspiel im verwunschenen
Garten, wo er eine intime Begegnung mit einem Sizilianer erlebt. Hier wird die
besondere Nähe zwischen Dieutre und seinem – neben ihm selbst – zweiten Protagonisten
Orlando deutlich. Als Erzähler leitet Dieutre es über ihn ein: „Orlando
[…] trouvera sur sa route un jardin enchanté où sa blessure un instant cessera de
le tourmenter. Je laisse mon drame derrière moi, la ville s’estompe.“ – [Orlando
wird auf seinem Weg einen verwunschenen Garten vorfinden, wo seine Wunde
für einen Moment aufhören wird, ihn zu quälen. Ich lasse mein Drama hinter mir,
die Stadt verschwimmt] (OF 48:26). Unvermittelt bricht Dieutre in seiner Erzählung
ab, um einen autobiographischen Kommentar zu äußern. Dieser spiegelt sich
in der von der Kamera eingefangenen Fahrt mit dem Auto über die sizilianische
Landschaft in die ‚Auszeit‘ eines Landhauses mit Garten. Das zurückgelassene
Drama steht hier nicht nur für die ihn umhertreibende gesellschaftspolitische Resignation
und die Suche nach den überlebenden lucciole, sondern auch für die Erzählung
der pupi, die für diese Zeit ruht. Solche Momente zeigen, wie eng beide
Erzählungen von Dieutre wortwörtlich geführt werden und sich so wechselseitig
durchwirken. Dies wird auch daran deutlich, wie dieser märchenhafte Ausflug in
den verwunschenen Garten endet: „Reprends ta route, Orlando, le voyage n’est
pas fini.“ – [Nimm deinen Weg wieder auf, Orlando, die Reise ist noch nicht
vorbei] (OF 56:40). Mit der Marionette ruft auch Dieutre sich selbst wieder zur
Raison und erinnert ihn daran, seine Erkundungen und die Erzählung der pupi
wieder aufzunehmen. Er steht im filmischen Bild vom Bett des Landhauses im
Morgengrauen auf, kleidet sich an und verlässt den Ort. Durch die individuelle
Nähe und die Identifikation von sich selbst mit dem eigenen Protagonisten wird
die für Dieutre charakteristische Struktur seines autofiktionalen filmischen Erzählens
betont, die die Dokumentation des Selbst stets mit der Fiktion verwebt.
Der Blick der Marionette wirft Dieutre auf sich selbst zurück und fordert ihn
heraus, sich in ihren Bewegungen und Möglichkeiten zu entwerfen. Die individuelle
Identifikation mit Orlando ist aber nicht exklusiv. Der pupo ist an sich zwar
nur einer, als Figur umfasst er aber viele Orlandos und ist somit ein möglicher
Träger einer kollektiven Identifikation, wie es Dieutre selbst beschreibt: „Orlando
ferito c’est Luigi, Massimo, Gaspare, Pierandrea, c’est Georges Didi-Huberman,
c’est moi. C’est toutes nos émotions, tous nos désirs en tant qu’ils sont partagés,
exprimés, manifestés.“ – [Der verwundete Orlando, das ist Luigi, Massimo, Gaspare,
Pierandrea, das ist Georges Didi-Huberman, das bin ich. Das sind all unsere
Gefühle, all unsere Begehren insofern sie geteilt, ausgedrückt, in Erscheinung
treten] (OF 1:21:29). Im Blick der Marionette Orlando können sich all diejenigen
erkennen, die wie Dieutre und seine Mitstreiter in ihrer politischen Resignation
dennoch nicht aufgehört haben, auf die Wiederkehr der lucciole zu hoffen. Dabei
bietet sie als hölzerne und mit Fäden und Stangen gelenkte Puppe nicht nur die
Projektionsfläche fremder Ideen und Gefühle. Sie ist vielmehr der Nukleus eines
gemeinschaftlichen Empfindens, das darin wieder einen Weg der Artikulation
findet. In der Geschichte der Figur Orlandos gibt Dieutre diesem Gefühl eine
Ausdrucksform und bringt es auf die Bühne seines Films. Dieses Potenzial der
Marionetten der opera dei pupi schöpft Dieutre für seine affektive Poiesis in Orlando ferito insofern aus, als in ihnen sich ein individueller emotionaler Gehalt in
ihrer Kunst zu einem überpersönlich geteilten Empfinden weitet.
Es ist aber nicht allein der Held Orlando, an dem sich alle Hoffnungen kristallisieren. Ein abschließender Blick erkennt ebenso, dass es neben individuellen und kollektiven auch multiple Identifikationen gibt. Dieutre macht nicht nur sich in Orlando zum Protagonisten und Thema seines Films. In der Marionette des Nicotino, die als Außenseiter der Satire sowohl einen Sinn für das derb Grobschlächtige als auch die feinsinnige Ironie besitzt, entwickelt er eine doppelte Reflexion auf den Erzähler und das Erzählen selbst. Zum Raucher geschnitzt kann Nicotino nicht anders, als fern der anderen Marionetten am Fenster zu rauchen. Viel zu gefährlich ist dieses Spiel mit dem Feuer für das gesamte Theater, weshalb er eigentlich in der opera dei pupi im Vorspann dazu dient, das Publikum davor zu warnen, im Theater zu rauchen. Dieutre aber erfindet sich seine Marionette Nicotino auch vom Namen her neu (Aniballi 2013). Im Dialog mit ihm und dem Professore Patrimonio beginnt die Erzählung vom geheimen Leben der sizilianischen pupi. Nicotino aber, der am Fenster raucht, ist das eigentliche Bindeglied zur Welt außerhalb des Theaters. Am Fenster beobachtet er in den Tourist:innen das potentielle Publikum ihrer Aufführungen und – wie Patrimonio ihm spöttisch vorwirft – ja eigentlich nur die schönen Beine der Frauen. Im sich anschließenden Schnitt zur folgenden Szene sieht man Dieutre wie er auf dem Balkon raucht und seinen Blick über die Dächer Palermos schweifen lässt (vgl. Abbildung 10). Er kommentiert dies verbrüdernd aus dem Off: „Comme Nicotino je vais fumer sur le balcon.“ – [Wie Nicotino werde ich auf dem Balkon rauchen] (OF 10:09). Als ein ‚Nicotino‘ inszeniert er sich hier in einem charakteristischen Schwellen- und Übergangsraum. Die Kamera blickt aus dem dunklen Zimmer in die taghellen Fenster und den Türausschnitt, in dem Dieutre rauchend steht. Der starke Kontrast hinterfragt den Blick der Kamera in seiner Rahmung und die Perspektive Dieutres auf sich selbst. Er verknüpft aber zugleich auch die Intimität des dunklen Raums mit der Welt, der Gesellschaft und ihrer Politik. Und dennoch bleibt Dieutre gleichzeitig auch der Fremde, der Tourist, der nicht dazugehört, aber seine neue Umgebung mit staunenden Augen betrachtet. Diese tradierte Position und Rolle des Künstlers übernimmt die Marionette Nicotino, die aus ihrer privilegierten Position des Außenseiters heraus das Schicksal Orlandos von Anfang an betrachtet, es befeuert und mit Witz kommentiert. Als Dieutre eines Nachts in einer Szene aus einer Raucherbar heraus auf die Straße tritt, da spricht er Nicotino und insgeheim auch sich Mut und die notwendige Begründung ihres besonderen Blicks zu: „Mais ne quitte pas ton soupirail, veille Nicotino, fume et témoigne.“ – [Aber verlasse nicht dein Kellerfenster, wache Nicotino, rauche und bezeuge] (OF 40:45).
Abbildung 10: OF 10:10
Es ist, als lege
er Nicotino die Fäden in die Hände, die Erzählung der pupi zu einem guten Ende
zu bringen.
„Alors, je tire le petit fil tenu des pupi.“ – [Dann ziehe ich den kleinen Faden,
der von den pupi gehalten wird] (OF 7:05). Als Vincent Dieutre mit seiner opera
dei pupi und Orlando ferito beginnt, ist schon nicht mehr klar, wer nun am Faden
von wem hängt. Seine Anverwandlung der pupi und ihrer Geschichten zeugt von
einem großen Respekt gegenüber ihrer Spielkunst und Tradition, wobei er in ihnen
zugleich jene überlebenden Glühwürmchen sieht, die den Verhältnissen trotzen.
Er erkennt in ihnen dieses kreative Potenzial einer steten Weiterentwicklung
und Wanderung ihrer alten, aber offenen Formen. Als Marionetten sind sie liminale
Wesen, die zwischen Mensch und Puppe, zwischen Mechanik und Leben
stehen. Dies ermöglicht es Dieutre, die spezifischen Fragen seiner autofiktionalen Filmkunst von Leben und Theater, von Fiktion und Realität an ihnen auszuloten.
Sie werden zum eigentlichen Nukleus seiner Ästhetik, an dem Dieutre zur Urform
der Kunst zurückkehrt und bei ihrem Anblick das kindliche Staunen und
Spiel des Möglichen neu für sich erlernt. In ihrem Blick wiederum erkennt er sich
in seinen Gefühlen, Wünschen und politischen Überzeugungen. Als deren Träger
vermögen es die sizilianischen pupi sich selbst und damit auch dem Filmemacher
Vincent Dieutre eine je neue Form und Erzählung zu geben.
[1] Die den französischen und italienischen Zitaten nachgestellten deutschen Übersetzungen in eckigen Klammern stammen alle vom Verfasser (F. S.).
[2]Der Film Orlando ferito lief ab Ende 2013 bereits auf internationalen Festivals bevor er 2015 in die Kinos kam und 2017 auf DVD erschien. Folgend werde ich mit der Sigle OF und der Minutenangabe des Beginns der entsprechenden Szene auf den Film verweisen. Die Filmausschnitte werden mit freundlicher Genehmigung des Produzenten Stéphane Jourdain und der Produktionsfirma La Huit abgedruckt.
[3]Die Akte lauten: „Acte 1 / le triomphe du Château des Mensonges / la catastrophe“ – [Akt 1 / der Triumph des Lügenschlosses / die Katastrophe] (OF 4:46); „Acte 2 / le Château des Mensonges brûle / la révolte“ – [Akt 2 / Das Lügenschloss brennt / die Revolte] (OF 31:15); „Intermède du jardin enchanté“ – [Zwischenspiel des verwunschenen Gartens] (OF 48:51); „Acte 3 / l’île du soleil sans pitié / la folie“ – [Akt 3 / die Insel der mitleidlosen Sonne / der Wahnsinn] (OF 1:00:42) „Epilogue / le retour d’Orlando / féerie et métamorphose“ – [Epilog / Orlandos Rückkehr / Märchen und Metamorphose] (OF 1:24:24).
Anniballi, Alessandro (2013). Intervista a Vincent Dieutre. Quinlan. Rivista di critica cinematografica. Zugriff am 3.06.2022 unter: http://quinlan.it/2013/11/21/intervista-a-vincent-dieutre/.
Buonanno, Michael (2014). Sicilian Epic and the Marionette Theater. Jefferson/NC: McFarland
Cuthbertson, Tom (2021). Europe wounded? Politics of hope and resistance in Vincent Dieutre’s Orlando Ferito. In Gábor Gergely, Susan Hayward (Hg.), The Routledge Companion to European Cinema (S. 58-66), London: Routledge 2021.
Cuticchio, Mimmo (2010). La nuova vita di un mestiere antico. In viaggio con l’Opera dei Pupi e il Cunto. Neapel: Liguori.
Di Bernardi, Vito (2019). Ossatura. Mimmo Citicchio e Virgilio Sieni: marionette e danza in Nudità. Rom: Bolzoni.
Didi-Huberman, Georges (2012). Überleben der Glühwürmchen. Paderborn: Fink.
Kühn, Mareike (2012). Opera dei pupi. Sizilianisches Marionettentheater im Wandel. Berlin: Frank & Timme.
Pasolini, Pier Paolo (2011). Freibeuterschriften: Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin: Wagenbach.
Reimann, Horst (1982). Siziliens kleines Volkstheater. Opera dei pupi. Puppenspielkundliche Quellen und Forschungen 7. Bochum: Deutsches Institut für Puppenspiel.
Filmverzeichnis
Dieutre, Vincent (DVD 2017). Orlando ferito. Paris: La Huit.
Fabian Schmitz
Studium der Deutschen und Romanischen Philologie sowie Philosophie in Göttingen, Neuchâtel und Lissabon (2004-2010); wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz am Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ (2013-2016), am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ (2016-2017), danach wissenschaftliche Hilfskraft am dortigen Zukunftskolleg; Promotion an der Universität Konstanz (2022) mit der Arbeit: „Die Finten des Autors. Reflexion und Praxis von Autorschaft bei Marcel Proust“; Publikationen u. a. zu Marcel Proust, der Briefkultur des 18. wie 19. Jh. und der europäischen Aufklärung.
Korrespondenz-Adresse / Correspondence address:
fabian.schmitz@uni-konstanz.de