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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus


Puppenhüllen. Die aufblasbare Puppe in einem Film von Hirokazu Kore-eda und in Installationen von Clemens Krauss

Jana Scholz



Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios



Abstract:
Diese kulturwissenschaftliche Analyse widmet sich der Materialität von Puppen, welche maßgeblich durch das Verhältnis von Oberfläche und Plastizität bestimmt ist. Der Text fokussiert dabei die aufblasbare Puppe und die kulturellen Zuschreibungen, die sich an ihre spezifische Materialität knüpfen. Als Beispiele dienen Hirokazu Kore-edas Film Air Doll von 2009 sowie Clemens Krauss‘ Mixed Media-Installationen Large Self-Portrait aus demselben Jahr und Self-portrait as a Child von 2017. Die ausgewählten Werke fragen mit ihren jeweils eigenen Figurationen der Aufblaspuppe nach der Materialität von Personalität.

Schlagworte: Hirokazu Kore-eda; Clemens Krauss; Aufblaspuppe; Materialität; Anthropomorphe Körper

Abstract: As an analysis of the doll’s materiality, this paper examines the relation between outer shell and volume as essential characteristics of the doll. This relation is especially interesting regarding the inflatable doll. The Film Air Doll (2009) by Hirokazu Kore-eda and Clemens Krauss’ Mixed-media-installations Large Self-Portrait (2009) and Self-portrait as a child (2017) serve to analyze the material composition of the inflatable doll while exploring the underlying cultural concepts. With the following result: in these examples, the inflatable doll serves to question the materiality of personality.

Keywords: Hirokazu Kore-eda; Clemens Krauss; inflatable doll; materiality; anthropomorphic bodies

Zitationsvorschlag: Scholz, J. Puppenhüllen. Die Aufblasbare Puppe in Einem Film Von Hirokazu Kore-Eda Und in Installationen Von Clemens Krauss. de:do 2018, 1, 73-83. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212

Copyright: Jana Scholz. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212

Veröffentlicht am: 17.05.2018

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Oberfläche und Plastizität

Mehr als andere Dinge unseres kulturellen Alltags wecken Puppen unsere Aufmerksamkeit. Unser Interesse richtet sich meist auf ihre äußere Erscheinung, doch manchmal gerade auch auf ihr Innenleben. Im Spiel entfernen Kinder der Barbiepuppe den Kopf oder die Gliedmaßen (vgl. Fooken 2012, 146), um zu entdecken, was sich unter Barbies versiegelter Körperoberfläche befindet. Die anatomischen Puppen des 18. Jahrhunderts erlaubten tiefe Einblicke besonders in den weiblichen Torso. Und Künstlerinnen und Künstler wie Cindy Sherman oder Hans Bellmer irritieren uns mit Puppen, denen die Körperwände fehlen. Dieses Interesse für das Innenleben der Puppe ist mit der Suche nach dem Ort von Personalität verknüpft, so behauptet dieser Text: An Puppen wird die Frage nach der Materialität des Ich verhandelt. Besonders frappant wird dieser Aspekt bei der aufblasbaren Puppe, deren materielle Erscheinung durch die Möglichkeit der Transformation gekennzeichnet ist: Ein kleiner Riss in der Körperhülle, und ihre Gestalt ändert sich grundlegend. Diese spezifische materielle Kondition der Aufblaspuppe eröffnet besondere Möglichkeiten, sie als Subjekt zu inszenieren und zu interpretieren.
Im Folgenden werden diese Thesen anhand von zeitgenössischen Beispielen erörtert, welche die Materialität der aufblasbaren Puppe mit der Frage nach dem Ort des Ich nachdrücklich verbinden und insofern Auskunft geben über den besonderen Stellenwert von Puppen innerhalb materieller Kulturen der Gegenwart. Das sind Hirokazu Kore-edas Film Air Doll (2009) und Clemens Krauss‘ Installationen Large Self-Portrait aus demselben Jahr sowie Self-portrait as a Child (2017).
Zwei auf den ersten Blick konträre Merkmale charakterisieren Puppen. Zum einen sind sie maßgeblich durch ihre Oberfläche charakterisiert. Die Ähnlichkeit des Puppenkörpers mit dem menschlichen beruht nach Gertrud Lehnert auf bestimmten, rein visuell wahrnehmbaren Oberflächenphänomenen (vgl. Lehnert 1998, 88). Puppen imitieren den Menschen also in seinen Oberflächen, und sie tun dies auf der Oberfläche des Puppenkörpers. Zum anderen sind Puppen im Gegensatz zum vergleichsweise flächigen Bildnis durch eine größere räumliche Tiefe gekennzeichnet. Die gestaltete Oberfläche auf der einen und die räumliche Ausdehnung auf der anderen Seite sind wesentlich für die anthropomorphe Erscheinung des Puppenkörpers verantwortlich.
Damit stellen Puppen aber immer die elementare Frage nach dem Verhältnis von Hülle und dem darunter Verborgenen, von Innen und Außen. Dies gilt insbesondere für die aufblasbare Puppe, die der vorliegende Text untersuchen wird. Denn ihr Körper ist in seinem Volumen veränderlich. Er changiert zwischen Flächigkeit und Plastizität, kann mehr konkav oder mehr konvex sein, eher reliefartig oder rundplastisch wirken. Die Aufblaspuppe oszilliert zwischen den beiden gedachten Polen der Zwei- und Dreidimensionalität. Für dieses Spannungsverhältnis ist auch die Herstellung der Puppe von Bedeutung.
Je nach Produktionsverfahren sind Puppen entweder massiv, d.h. sie wurden vollständig ausgegossen. Solche ‚Vollkörperpuppen‘ bestehen meist aus Kunststoffen wie Silikon, Vinyl oder Polyurethan oder aus Naturstoffen wie Wachs und Holz. Oder aber die Puppen sind hohl, wie beispielsweise Porzellanpuppen und auch die hier behandelte aufblasbare Puppe. War früher Gummi als Oberflächenmaterial von Aufblaspuppen beliebt, werden heute meist schweißbare thermoplastische Polymere verwendet, wie etwa Polyvinylchlorid (PVC). In jedem Fall unterscheidet sich bei diesem Puppentyp das Oberflächenmaterial von seiner ‚Füllung‘: Luft.

Volumen durch Luft

Luft bezeichnet im Allgemeinen jeden gasförmigen Körper, im engeren Sinn ist damit das Gasgemisch aus Stickstoff und Sauerstoff gemeint, das die Erdatmosphäre bildet (vgl. Diers 2010, 170). Luft ist also zunächst eine chemische und eine physikalische Größe. Wie andere Stoffe auch, hat sie einen „inneren Drang, nämlich den, sich über die Welt zu zerstreuen“ (Soentgen 2014, 227). Die sogenannte Dissipation ist eine spezifische Eigenaktivität der Stoffe, ihre Neigung sich zu verwandeln (vgl. ebd.). Dieses „Sichverteilen“ kann bei Dingen rückgängig gemacht werden. Bei chemischen Stoffen ist das nicht möglich, denn ihre Dissipation ist die Feinverteilung (vgl. ebd.).
Der Flüchtigkeit dieses sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehenden Stoffs entspricht seine kulturelle Codierung: In der westlichen Tradition ist Luft eng mit Täuschung und Schein assoziiert, was auch viele Redewendungen aufzeigen. An der aufblasbaren Puppe erhält diese kulturelle Zuschreibung Prägnanz. Denn einerseits ist Luft für ihren Körper konstitutiv. Sie erzeugt seine Plastizität und trägt damit zur Menschenähnlichkeit der Puppe bei. Andererseits ist das Charakteristikum der Plastizität im Falle der aufblasbaren Puppen sehr fragil. Richtet sich nämlich das menschliche Erkenntnisinteresse auf das Innere des Puppenkörpers, droht eine doppelte Enttäuschung. Erstens ist die Luft als Spender des Körpervolumens den Sinnen nicht an sich zugänglich. Sie ist weder sicht-, hör- noch greifbar, und im natürlichen Zustand geschmack- und geruchlos. Die Luft ist lediglich an der Weichplastikhülle der Puppe als formgebend diskriminierbar. Das an der Puppenhülle sichtbare Volumen ‚entpuppt‘ sich damit als trügerischer Schein, denn im Innern befindet sich nichts, was für die menschlichen Sinnesorgane ohne Hilfsmittel wahrnehmbar wäre. Zweitens bedeutet der Blick unter die Oberfläche der aufblasbaren Puppenhülle immer den Verlust des anthropomorphisierenden Volumens. Um in ihr Inneres zu blicken, muss die Hülle in irgendeiner Weise angegriffen werden, also etwa aufgeschnitten oder auf andere Weise zerteilt werden. Doch dabei schwindet zwangsläufig das Volumen. Die unsichtbare Luft tritt nach außen und die Körperkonturen verlieren sich. Somit ist der aufblasbaren Puppe ein Paradox eingeschrieben: Die Luft verleiht ihr die anthropomorphe Erscheinung, ist selbst jedoch nicht unmittelbar wahrnehmbar. Zugleich ist die Aufblaspuppe aufgrund der Neigung zur Feinverteilung ihrer Füllung ganz entscheidend durch Unbeständigkeit (Inkonsistenz) diskriminiert. An diese stoffliche Qualität macht sich die kulturelle Zuschreibung einer Täuschung durch die Puppe fest: Das nicht fixier- und wahrnehmbare Innere enthüllt, dass die aufblasbare Puppe nicht ist, sondern nur scheint (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: TV Man Union

Abbildung 1: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:48:57

Fragile Puppenhaut

Konstitutiv für die aufblasbare Puppe ist also einerseits die Luft, andererseits die feste Hülle. Dieses spannungsvolle Verhältnis inszeniert auch der japanische Film Air Doll von Hirokazu Kore-eda aus dem Jahr 2009. Darin behandelt ein Mann namens Hideo seine weiblich gestaltete, aufblasbare Puppe tagtäglich wie eine lebendige Person und nennt sie Nozomi.1 Er isst mit ihr, berichtet ihr von seinem Arbeitsalltag und schläft mit ihr. Nozomis Körper ist dabei unbeweglich und ausdruckslos, zu hören ist lediglich das Quietschen des Kunststoffs, wenn er sie umarmt und ihr sagt, dass sie schön sei (TC: 00:03:12). Deutlich sichtbar sind stets die Nähte an Armen und Beinen, an denen die Plastikfolie zusammengeschweißt ist.
Eines Tages aber, als Hideo das Haus verlässt, wird die Puppe lebendig. Nozomi beginnt zu atmen und sich zu regen. Der artifizielle Körper wird zur nackten Frau aus Fleisch und Blut (TC: 00:04:23-00:07:10). Nach ihrer Metamorphose kleidet sich Nozomi an und schlendert durch Tokyo. Bei ihren Ausflügen durch die Großstadt nimmt sie schließlich sogar eine Arbeit in einer Videothek auf. Ihr Menschsein wird perfekt, als sie sich in ihren Kollegen Junichi verliebt.
Nozomis Haut ist aber ebenso fragil wie die menschliche. Bei der Arbeit verletzt sich die lebendig gewordene Puppe am Unterarm (TC: 00:48:40). Sie fällt zu Boden, wo sie versehrt liegen bleibt. Mit der herausströmenden Luft droht sie auch ihren Lebensatem zu verlieren, sie stöhnt ängstlich. Nozomis Haut sieht plötzlich wieder synthetisch aus, die Naht an Armen und Beinen tritt deutlich hervor. Sie schämt sich für diese körperliche Transformation. „Don‘t look!“ (TC: 00:49:00), ruft sie Junichi zu. Der aber kann nicht mitansehen, wie sie flacher und flacher wird, ihre Hülle zunehmend die Konturen verliert und die Demarkation zwischen Körper und Umwelt schwindet. Junichi eilt ihr zu Hilfe, verschließt mit Klebefilm den Riss im Kunststoff und bläst über ein Ventil am Bauchnabel behutsam Luft in die leere Puppenhülle.
Diese eindrucksvolle Schlüsselszene soll im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen. Zuvor ist anzumerken, dass der Film auch auf die große Beliebtheit erotischer Puppen im heutigen Japan verweist. Nach den USA ist Japan das Land mit den meisten heterosexuellen Männern im Besitz einer Sexpuppe (vgl. Smith 2013, 204). Gleichzeitig greift der Film auf den großen Stellenwert zurück, den Puppen in der traditionellen japanischen Kultur besitzen (vgl. ebd., 204f.), etwa im Puppentheater Bunraku. Der vorliegende Beitrag wird jedoch weniger die fernöstlichen Puppentraditionen fokussieren, sondern ausgehend von der stofflichen Konsistenz der aufblasbaren Puppe fragen, welche kulturellen Phantasmen sich an diesen materiellen Eigenschaften potentiell im Blick eines westlich geprägten Publikums entfalten.

Opaker Puppenkörper

Nozomis Haut besteht augenscheinlich aus PVC. Zunächst verspricht dieser Kunststoff Haltbarkeit. Anders als die Menschenhaut transformiert sich PVC nur äußerst langsam und zeichnet sich durch seine Beständigkeit gegen äußere Einflüsse wie Sonnenlicht, Wasser, Luft und sogar einige Säuren aus. Doch Kore-eda zeigt auch dieses Material als vergänglich. Durch einen kleinen Schnitt in die dünne Plastikfolie wird die opake, glatte und gleichmäßige Körperhülle durchlässig, faltig und uneben. Dieser Moment im Film macht die Ambivalenz des aufblasbaren Puppenkörpers deutlich. Der kennt nämlich zwei sich gegenüberstehende Modi: Solange die Luft ihre Hülle füllt, entspricht die Aufblaspuppe einem kulturellen Ideal, dem opaken Körper. Indem der Puppenkörper gewissermaßen als Oberflächenspannung inszeniert wird, verweist er also einerseits auf das Paradigma des opaken Körpers. Andererseits wird eben diese abgeschlossene, glatte, ganze Oberfläche wiederum in ihrer Fragilität gezeigt, wenn Nozomis Kunststoff-Haut verletzt wird. Dieser geöffnete Körper ist ein grotesker Körper. Im Folgenden werden knapp beide Körpermodelle erläutert (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Filmstill aus Air Doll

Abbildung 2: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:49:38

Das Paradigma des opaken Körpers inszeniert den menschlichen Körper fast immer als säuberlich abgegrenzten, undurchlässigen und ganzen Organismus. Linda Hentschel spricht von der „Illusion einer versiegelten, abgeschlossenen Körperoberfläche“ (Hentschel 2001, 27). Nach Claudia Benthien und Christoph Wulf entstand das „Leitbild des abgeschlossenen, monadischen Körpers mit klar definierten Grenzen, die dessen Innen und Außen scharf trennen, mit einer überschaubaren und geordneten Zahl von Körperteilen und Organen“ (Benthien u. Wulf 2001, 16) in der Renaissance. Laut Benthien vollzog sich damals ein „Mentalitätswandel von einem porösen, offenen und zugleich grotesk mit der Welt verwobenen Leib zum individuierten, monadischen bürgerlichen Körper, in welchem sich das Subjekt als ‚wohnend‘ begreift.“ (Benthien 2001, 49)
Den Philosophen Jean Baudrillard erinnert „der moderne Körper“ dementsprechend „eher an etwas Aufblasbares“ (Baudrillard 2005, 164). Öffnungen charakterisiert Baudrillard als einen Mangel. Jeder Körper oder jeder Körperteil müsse so geschlossen, glatt und makellos wie möglich sein (vgl. ebd., 163). Als Beispiel dient Baudrillard die transparente Strumpfhose, welche die permeable Haut zumindest optisch versiegelt. Demnach werden die Durchlässigkeit der menschlichen Haut, ihre Funktionen der Absorption und Exkretion in der Populärkultur zugunsten einer ‚verglasten‘ Nacktheit aufgegeben (vgl. ebd., 164). Die Eigenschaften dieser ‚verglasten‘ Körperhülle sind Frische, Weichheit, Transparenz, Glätte. Für Baudrillard sind das Eigenschaften der Abschließung – „ein Null- Wert“ (ebd., 164).

Dieses Verglasen der Nacktheit gleicht der Besessenheit, mit der Gegenstände mit Schutzhüllen aus Wachs, Plastik etc. versehen werden, oder auch dem Abbürsten, dem Säubern, das sie in einen Zustand der Reinheit, der makellosen Abstraktion zurückversetzen soll – und damit auch ihre Sekretion (Patina, Rost, Staub) und ihren Verfall verhindern soll, um sie in einer Art von abstrakter Unsterblichkeit zu bewahren (ebd., 164).

Baudrillards Ausführungen zeigen, dass der Puppenkörper gerade in seiner synthetischen Materialität in herausragender Weise geeignet ist, das Leitbild des abgeschlossenen Körpers vorzuführen. Exemplarisch steht hierfür die Barbiepuppe. Wie Andrea zur Nieden feststellt, ist diese doppelt abgeschlossen, im Sinne von ‚zu‘ und ‚beendet‘ (vgl. zur Nieden 2001, 102). Sie ist ‚vollkommen‘ – vollkommen versiegelt. Auch Barbie besteht aus verschiedenen Thermoplasten. Es steht zu vermuten, dass sich an diese historisch vergleichsweise jungen Materialien kulturelle Assoziationen von Opazität, Ganzheit und Unversehrtheit knüpfen, die sich in entsprechenden Körperentwürfen realisieren.2

Grotesker Puppenkörper

Das Gegenbild zum opaken Körper ist der groteske Körper: der unabgeschlossene, teilbare und unebene Körper, dessen Ästhetik der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin grundlegend beschrieben hat. Das groteske Motiv ignoriert laut Bachtin „die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-)Fläche des Körpers und fixiert nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das, was über die Grenzen des Körpers hinaus –, und das, was in sein Inneres führt“ (Bachtin 2006, 359, H.i.O.). Daher zeige das groteske Motiv nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere des Körpers. Das Groteske öffnet gewissermaßen die „Grenze zwischen Körper und Welt“ (ebd., H.i.O.) und interessiert sich gerade für ihre Durchlässigkeit.
Der vollkommene, weil vollkommen versiegelte Puppenkörper erfährt also in der beschriebenen Schlüsselszene des Films einen Bruch. Durch die PVCFolie dissipiert Luft, die Grenze zwischen Körper und Welt verliert sich. Der opake, anthropomorphe Körper wird zum grotesken, formlosen Puppenkörper. Doch Nozomis grotesker Körper kann durch Wiederaufblasen zurück in den Modus der Opazität wechseln. Puppen oszillieren stets zwischen beiden Körperbildern. Ihre Opazität, die das Innere verschließt, ist von der Groteske, die die Grenze zwischen Innen und Außen aufbricht, immer bedroht. Dies gilt umso mehr für die Aufblaspuppe, die ihr anthropomorphes Volumen durch einen so wenig fixier- und wahrnehmbaren Stoff, wie Luft es ist, erhält. Doch auch der Opazität und Dauerhaftigkeit versprechende Kunststoff kann sich als fragil entpuppen (vgl. Abbildung 3).
Groteske und Opazität sind also direkt an die Materialität des aufblasbaren Puppenkörpers geknüpft. Füllung und Hülle dieses Körpers sind beide inkonsistent. Weder ist die Luft fixierbar, noch ist die Plastikfolie vollkommen beständig. So zeigt Nozomi beispielhaft die ambivalenten Körperbilder auf, die sich an die Puppe und ihre materiellen Qualitäten knüpft: Sie verspricht einerseits den opaken, makellosen, ‚verglasten‘ Idealkörper und offenbart sich andererseits als grotesker, angreifbarer, permeabler Körper.

Abbildung 3: Filmstill aus Air Doll

Abbildung 3: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:49:34

Die Puppe als Abfall

Thermoplaste wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum alltäglichen Material. Sie erfüllen in der modernen Welt vielfältigste Funktionen, etwa im Bauwesen, in der Verpackungs-, Möbel- oder Textilindustrie, um nur einige Einsatzbereiche zu nennen. Auch Puppen bestehen seither meist aus Thermoplasten, während bis zur Erfindung des Zelluloids Ende des 19. Jahrhunderts Naturstoffe wie Stoff, Porzellan, Pappmaché, Wachs, Holz oder Gummi verwendet wurden. Besonders seit den 1960er Jahren fanden schmelzbare Thermoplaste auch Eingang in die Kunstwelt, vor allem in der Pop Art, etwa bei Niki de Saint Phalle, Allan Jones oder Claes Oldenburg (vgl. auch Mextorf 2010, 163).
An ihre stofflichen Qualitäten binden sich ambivalente kulturelle Zuschreibungen: Aufgrund ihrer Stabilität, Persistenz und Inertie können sie, insbesondere im künstlerischen Kontext, potentiell als verewigende Substanzen zum Einsatz kommen. Doch ihre weite Verbreitung als funktionale, vielseitige Alltagsmaterialien, verleiht ihnen im Kontext einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft immer auch Konnotationen als Abfall. So wird mit vielen Kunststoff-Artefakten sogar schon dann Müll assoziiert, wenn sie sich noch in einem Gebrauchszusammenhang befinden. Ihre Omnipräsenz scheint im Kontrast zu Fantasien von Exklusivität, Originalität und Luxus zu stehen. Außerdem ist es gerade ihre Beständigkeit gegen Umwelteinflüsse, die sie als Abfälle problematisch werden lassen. Die Zersetzungszeit einiger Kunststoffe kann unter bestimmten Bedingungen mehrere Jahrhunderte betragen (vgl. Bertling 2017). Nur schwer abbaubar, müssen sie deponiert werden. Gegenwärtige Möglichkeiten des Recycling sind mit vielen ökologischen Nachteilen verbunden.
Daher werden Thermoplaste zur Last, sobald sie in die Ordnung des Mülls übergehen. Dieser Übergang kann mit dem Versagen dieser vielversprechenden Materialien zu tun haben, wie sich am Beispiel der Aufblaspuppe Nozomi gezeigt hat. Denn als sich die thermoplastische Puppenhülle als permeabel erweist, ist das Versprechen der Haltbarkeit dieses Materials infrage gestellt. Die Kategorie Abfall ist jedoch transitorisch; Artefakte können in die Kategorie Müll übergehen, aber bspw. durch ihre Musealisierung diese Ordnung wieder verlassen (vgl. Weber 2014, 158; Thompson 1981, insb. 151ff.). Während Dietmar Rübel Abfälle bestimmt als diejenigen Stoffe und Objekte, die verbraucht, zerstört oder als überflüssig erachtet aus ihrem Gebrauchskontext ausgeschieden sind (vgl. Rübel 2010, 13), betont Heike Weber den Zusammenhang zwischen dem Raum und der Kategorisierung als Müll. Demnach werden Reste durch ihre Ablagerung an bestimmten Orten erst zu Müll (vgl. Weber 2014, 159). Wenn also Nozomis nunmehr groteske synthetische Körperhülle am Boden liegt, bringt der Film auch das Thema „Abfall als kulturelle Ordnungskategorie“ (vgl. Weber 2014, 158) ins Spiel. Auf dem Fußboden liegend, scheint diese leere Plastikhülle nach einer Kategorisierung zu fragen. Kann sie als Rest, als Abfall bewertet werden oder ist sie nicht doch vielmehr als Person einzuordnen?

Luftpuppe

Kore-edas Air Doll ist nämlich keine gewöhnliche aufblasbare Puppe. Denn für Nozomi bedeutet die Dissipation der Luft den Tod. Ihr Vermögen zu sterben heißt aber im Umkehrschluss, dass sie lebt. Im Film transformiert sich Nozomi von der leblosen Puppe zur lebendigen Person3 – zum fühlenden, denkenden, handelnden und selbstbewussten Ich. Entsprechend hat Kore-eda seinen Film nicht ‚Rubber Doll‘ oder ‚Blow-up Doll‘ genannt, was wörtlich Gummipuppe bzw. aufblasbare Puppe heißt. Der japanische Filmtitel lautet Kūki Ningyō, wobei ningyō ins Deutsche mit ‚Puppe‘ und kūki mit ‚Luft‘ zu übersetzen ist. Der Titel weist also explizit auf das Innenleben der Puppe hin, nicht auf ihre materielle Oberfläche oder ihre funktionale Bestimmung. Mit dieser Gewichtung spricht der Film auch Vorstellungen an, die den Körper als Behältnis für die darin eingeschlossene Person imaginieren. Dementsprechend könnte die Luft im Film als Sinnbild für die Personalität der Puppe verstanden werden. Doch die Öffnung des Puppenkörpers zeigt, dass in seinem Innern keine Person ausfindig gemacht werden kann (vgl. hierzu auch Bellanger 2001, 59). An dieser Stelle erkennt Junichi die ‚Täuschung‘ – er hatte es mit einer Aufblaspuppe zu tun. Doch diese Erkenntnis wird nicht zum Problem für seine Beziehung zu ihr. Denn eben im Moment der Verletzung ihrer Körperhülle zeigt Nozomi Reaktionen, die sie als Person ausweisen und nicht als unbelebtes Artefakt. Sie stöhnt ängstlich, blickt hilflos umher, schämt sich. Die Körperoberfläche ist Schauplatz dieser Reaktionen. Benthien unterstreicht, dass das Wort Scham den gleichen indogermanischen Wortstamm besitzt wie die Wörter Haut und Haus. Alle drei Wörter gehen auf den Stamm ‚kam‘ / ‚kem‘ zurück, der verdecken, verbergen, verschleiern bedeutet (vgl. Benthien 2001, 116; 130). Nozomi schämt sich für die synthetische Materialität ihres ‚Körperhauses‘, doch genau diese Scham weist sie wieder als Person aus. Somit konstituiert sich Nozomis Personalität gerade am Übergang vom opaken zum grotesken Körper.
Junichi reagiert denn auch nicht auf die Tatsache, dass Nozomis Körper aus Plastik und Luft zusammengesetzt ist und ihn getäuscht hat, sondern auf ihre Scham, Angst und Hilflosigkeit – jene Reaktionen, die an ihrer Körperoberfläche ablesbar sind und sie als Person kennzeichnen. Seine Hilfe erfolgt ironischerweise mit einem durchsichtigen Klebeband. Die Folie solcher Klebebänder besteht wiederum aus Kunststoffen, meist aus Polyvinylchlorid oder Polypropylen. Damit gerät dieses Material wieder als Garant für Opazität auf den Plan, obwohl es sich kurz zuvor noch als unbeständig, als permeabel erwiesen hatte.
Und ebenso wie sich Nozomi in diesem Moment als Person zeigt, wird auch die Luft nun den Sinnen zugänglich: Die durch den Riss hinaustretende Luft verursacht ein lautes Rauschen, und Nozomis Haar, ihre Kleidung und die Dekoration in der Videothek bewegen sich im Luftstrom. Im Moment der Zustandsänderung wird die Luft wahrnehmbar, aber wiederum nur an den Festkörpern. Wie die heraustretende Luft sich an der Materie zeigt, so ist die Personalität der Puppe nicht als Essenz fixierbar. Personalität und Materialität sind nicht zu trennen. Damit wird aber die Körperhülle aufgewertet, während die Person sich wie die Luft als nur mittelbar wahrnehmbares und ephemeres Konzept erweist. Der Film scheint darauf hinzuweisen, dass diese aufblasbare Puppe trotz ihrer synthetischen Herkunft nicht einfach in die Ordnung der Dinge und damit potentiell des Abfalls übergehen kann. Trotz der Angreifbarkeit ihrer Materialität trägt sie personale Züge, die über die Qualitäten hinausgehen, die Artefakten für gewöhnlich zugeschrieben werden.

Leere Puppenhüllen

Den Moment des Zustandswechsels vom voluminösem zum flächigem anthropomorphem Körper visualisieren auch Clemens Krauss‘ Mixed Media-Installationen Large Self-Portrait (2009) und Self-Portrait as a Child (2017). Während das erste Selbstporträt den erwachsenen Künstler darstellt, präsentiert die acht Jahre später entstandene Installation einen jugendlichen Körper (vgl. Abbildung 4).

Abbildung 4: Selbstportrait als Kind

Abbildung 4: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. I. Foto: B. Borchardt.

Beide Installationen arbeiten mit Silikon und dem Haar des Künstlers. Beide zeigen eine nackte Körperhülle, die in sich zusammengesunken auf der Erde liegt. Die Haut klebt, nur einige größere Falten werfend, flach am Boden. Lediglich die Hände wirken voluminös. Minuziös ahmt diese leere Silikonhülle den menschlichen Körper nach: von kleinsten Fältchen, Poren, Rötungen, durchscheinenden Adern über Leberflecken, Härchen und Brustwarzen bis zu Fingernägeln, Bauchnabel und Wimpern. Umso mehr irritiert, dass dieser Körper wirkt, als sei er aufgerissen worden. Die entstandenen Hautlappen lassen an die Schweißnähte der aufblasbaren Puppe Nozomi denken. Sie müssten nur wieder zusammengefügt und der Körper mit Luft befüllt werden, um zur perfekten Illusion eines lebendigen Menschen zu werden.
Die Installationen simulieren den menschlichen Körper jedoch so detailliert, dass das fehlende Volumen besonders irritiert. Krauss kontrastiert die mimetisch gestaltete Körperoberfläche mit der Leerstelle des unter dieser Oberfläche befindlichen Innern. Die hyperrealistischen Installationen sind insofern ebenfalls als ‚Air Dolls‘ zu verstehen, denen die Luft ‚ausgegangen‘ ist: Weil die Füllung der Körperhülle spurlos entschwunden zu sein scheint, referieren die Installationen auf die Dissipation von Luft. Zugleich sind mit den beiden Arbeiten wiederum Konzepte von Opazität und Groteske aufgegriffen. Das synthetische Material ist einerseits ein versiegeltes, abgeschlossenes und beständiges, andererseits widersprechen diese ‚aufgerissenen‘ Körperhüllen Vorstellungen von Ganzheit und Unversehrtheit.

Vergänglichkeit

Materialität wird in den Installationen auf einer weiteren Ebene zum Thema. Denn der Künstler konfrontiert das synthetische Silikon mit dem organischen Haar. Trotz der grundlegenden Differenz zwischen synthetisch und organisch haben Silikon und Haar etwas gemeinsam, und zwar ihre relative Dauerhaftigkeit: Haare zersetzen sich vergleichsweise langsam, sie bewahren ihre Form nach dem Tod weitaus länger als etwa die Haut. Silikon gehört zu den synthetischen Polymeren, wie etwa auch Polyethylen, einem gängigen Kunststoff für Verpackungen. Ähnlich wie PVC ist Silikon ein verbreiteter Kunststoff, der vor allem im Bauwesen, in Kosmetik und Medizin oder in der Automobil- und Elektroindustrie Verwendung findet. Auch Künstlerinnen und Künstler nutzen dieses Material immer häufiger. Wie anderen Kunststoffen auch, ist dem Material Silikon jedoch nicht mehr anzusehen, wie es hergestellt wurde. An diese Eigenschaft bindet sich – gerade im Kontext der Bildenden Kunst – laut Monika Wagner die Idee einer alterslosen Materials und einer von Arbeit befreiten Schöpfung (vgl. Wagner 2001, 190). Tatsächlich ist Silikon alterungs- und witterungskonsistent, ebenso wie PVC ist es schwer abbaubar. Die Dauerhaftigkeit, die mit solchen allgegenwärtigen wie alltäglichen Materialien assoziiert wird, steht in den Selbstporträts der Endlichkeit des Organismus‘ gegenüber. Der organische, vergängliche menschliche Körper scheint sich in eine synthetische, dauerhafte anthropomorphe Körperhülle transformiert zu haben.
Das Genre des Selbstporträts thematisiert häufig die Vergänglichkeit des Künstlers. Es kann als künstlerischer Versuch der Überwindung seiner Endlichkeit gelten, denn das Bildnis ist in der Lage, den vergehenden Künstlerkörper zu überdauern. Claudia Benthien erwähnt den kulturgeschichtlichen Topos, dass die Haut derjenige Anteil der Person sei, welcher nach dem Tod verbleibt, wiederbelebbar ist und den Menschen identifizierbar macht (vgl. Benthien 2001, 112). Mit der fotorealistischen Übersetzung seines eigenen Körpers in Silikon setzt Krauss diese Fantasie einer den Tod überdauernden Personalität gewissermaßen in Realität um. Gleichzeitig betonen viele Selbstbildnisse die Beziehung zu den Betrachtenden, wenn der Blick des Künstlers sie direkt adressiert. Doch in Krauss‘ Installationen sind die Augen, die gemeinhin als Tor zur Seele gelten, geschlossen. Das weist das Artefakt wiederum als seelenlosen, unbelebten und damit wertlosen Überrest aus. Wo ist also dieses Selbst, welches die beiden Porträts darstellen sollen?

Abbildung 5: Selbstportrait als Kind II

Abbildung 5: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. II. Foto: B. Borchardt.

Metamorphosen

Es scheint, als sei das ‚Selbst‘ dieser Porträts entschwunden und hätte ‚nur‘ eine materielle Hülle zurückgelassen (vgl. Abbildung 5). Damit sprechen die Installationen die an das Wort ‚Puppe‘ geknüpfte Dimension der Metamorphose an. Insa Fooken weist auf die zoologische Konnotation des Wortes hin, der das Entwicklungsstadium der Verpuppung bei der Metamorphose von Insekten beschreibt (vgl. Fooken 2012, 45f.). Hier besteht ein semantischer Bezug zu dem altgriechischen Wort nýmphē, das sowohl Larve als auch Braut meint.
In hellenischer Zeit opferten Mädchen im heiratsfähigen Alter einer der drei Göttinnen Artemis, Hera oder Aphrodite ihre Lieblingspuppe (vgl. ebd., 46). Diese Übergangsphase zwischen Kindheit und erwachsener Frau wurde mit der Verpuppung von Insekten assoziiert, woraus sich die Doppelbedeutung des Wortes herleitet (vgl. ebd.).
Krauss‘ Arbeiten sprechen beide Konnotationen an. Sie referieren einerseits auf das ‚Abstreifen‘ von Lebensphasen im Sinne einer psychologischen Persönlichkeitsentwicklung, wobei Krauss aber den umgekehrten Weg geht: Zuerst fertigte er sein Selbstporträt als Erwachsener, Jahre später folgte sein Selbstporträt als Kind. Dass Krauss die Richtung dieser Transformation verkehrt, könnte als Kritik an einem evolutionistischen Modell der Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden, welches verschiedene Lebensphasen hierarchisiert und etwa die Kindheit dem Erwachsenenalter unterordnet.
Andererseits sind die Arbeiten als Analogon zur Metamorphose von Insekten lesbar, die Fooken und Mikota beschreiben: „Die Entwicklung geht von der Larve über die Entlarvung weiter zur Verpuppung und nachfolgenden Entpuppung, um dann als Schmetterling oder Motte seelisch aufgeladen davon zu flattern und daran selber zu vergehen“ (Fooken u. Mikota 2014, 218). Versteht man Krauss‘ Selbstporträts als Verpuppungen, wäre seine Person ‚verflogen‘. Hierzu passt, dass die Haut wie aufgerissen wird: Viele Insektenarten schneiden nach ihrer Metamorphose den Kokon mit ihren Mundwerkzeugen auf. Zurück bleibt die geöffnete Puppe. Wird die Puppe im Allgemeinen als funktionslos gewordene, womöglich sogar abjekte Hinterlassenschaft bewertet, provozieren die leeren Körperhüllen am Boden des Galerieraums neue Bewertungskategorien. Krauss scheint vorzuschlagen, dass die Puppe mehr ist als bloßer Rest einer Metamorphose, deren Bedeutung sich mit dem Erreichen der nächsten Seinsstufe verliert, denn schließlich bekommen wir nicht das Produkt dieser Transformation zu sehen. Stattdessen sind nur die ‚Abfälle‘ dieses Prozesses zugänglich.

Abbildung 6: Selbstportrait als Kind III

Abbildung 6: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. VII. Foto: B. Borchardt.

Artefakte mit Spuren

Werden Krauss‘ Körperhüllen symbolisch verstanden als Metamorphose, stellt sich also die Frage nach der Bedeutung der übrig gebliebenen Puppe. In der Abfallkunst, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer etablierten Spielart des Kunstbetriebs entwickelt hat, setzen sich Künstlerinnen und Künstler mit Wertzuschreibungen auseinander, indem sie Abfall als Material der Kunst nutzen (vgl. Weber 2014, 158f.; Wagner 2001, 57ff; Rübel 2010). Dabei brechen sie oft Tabus und überschreiten die Grenze zu Chaos, Ekel oder Schmutz (vgl. Weber 2014, 158). Begreift man Krauss‘ Selbstporträts eben auch durch ihre räumliche Lage am Boden als Abfall, als Reste einer Transformation, provozieren sie neue Wertzuschreibungen (vgl. Abbildung 6). Denn obwohl sie am Galerieboden liegen wie ein nicht mehr benötigter Rest, sprechen sie die Frage nach den Spuren von Personalität an. Sowohl die detailgetreue physiognomische Ähnlichkeit der Darstellung mit dem Künstler wie auch das Haupt- und Körperhaar authentifizieren die Selbstporträts als solche. Sie verbürgen, dass es sich um Abbilder ebendieser Person handelt. Aber mehr noch, als organisches Material seines Körpers, als Bruchstücke einer realen Welt, stellen die Haare „die Verbindung zu Erlebtem und Gewußtem außerhalb der Kunst her“ (Wagner 2001, 62). Diese symbolischen Puppen einer Metamorphose tragen schließlich nicht nur Krauss‘ Züge. Als Silikonabgüsse des Künstlerkörpers, in welche in Feinarbeit sein eigenes Körperhaar eingearbeitet wurde, tragen sie seine organischen Spuren. Sie bezeugen die Transformation des individuellen Organismus‘ im Laufe des Lebens, die Spuren einer beständigen Metamorphose, die normalerweise den Blicken der Öffentlichkeit verborgen sind. Diese mit dem Künstler tatsächlich wie symbolisch verbundenen Skulpturen offenbaren die Spuren seiner physo-psychischen Biografie: Gerade in den feinen Details aus Leberflecken, Rötungen, vergrößerten Poren dokumentieren die Installationen das individuell Erlebte.
So rufen Krauss‘ Selbstporträts, wie schon der Film Air Doll, auf den ersten Blick eine Vorstellung von der Haut auf, die die im Innern verortete Person ‚ausdrückt‘ – eine Idee, die sich mit der Entstehung bürgerlicher Werte seit dem 18. Jahrhundert herausbildete (vgl. zum Verhältnis von Körper und Person beispielsweise Dreysse 2017; Bork Petersen 2013; Barta 1987). Doch bei näherer Betrachtung entpuppen sich Krauss‘ Hüllen nicht einfach als ‚Körperhaus‘ für die Person im Innern, die nunmehr entschwunden ist. Er spricht mit den Arbeiten an, dass die Haut nicht nur etwas schützt, das sie beinhaltet. Sie ist mit all ihren minutiösen Phänomenen selbst das Intime und Schützenswerte. Sie verbirgt nicht etwas Privates vor den Augen der Öffentlichkeit, sondern sie ist das Private. In dieser Vorstellung ist die Haut von der Person gar nicht zu trennen: Sie repräsentiert nicht die Person, sondern sie ist die Person (vgl. zu den Konzepten von Haut und Person auch Benthien 2001).
Wie im Film Air Doll fragen die Installationen also nach dem Wert der materiellen Körperhülle, die für gewöhnlich dem im Innern verorteten ‚Wesen‘ eines Menschen als bloße Repräsentation untergeordnet wird. Dafür bedienen beide Beispiele symbolisch den Stoff Luft, der zunächst als Metapher für die Person als nur vermittelt wahrnehmbare, ephemere Substanz gedacht ist. Die beiden Beispiele scheinen die Körperhülle als wahrnehmbaren Festkörper aufzuwerten, indem sie die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Person (wie die Luft) sich nur an Körpern zeigen kann – und damit womöglich von diesen Körpern gar nicht zu trennen ist.

Unordnungen: Puppe und Person

Mit der anthropomorphen Silikonmasse auf dem Boden einer Galerie und der hilflosen PVC-Puppe am Boden einer Videothek geraten die Kategorien zwischen Ding und Person in Unordnung. Beide untersuchten Beispiele zeigen neben der Haltbarkeit synthetischer Materialien auch ihre problematische Dimension als Abfall auf. Sie verknüpfen diese Zuschreibung mit der kulturellen Abwertung der vergänglichen Körperhülle gegenüber der darin eingeschlossenen Person. Indem Kore-eda und Krauss jedoch den veränderlichen Körper in eine dauerhaftere synthetische Form bringen und diesen konträr zum Menschen gedachten Materialien personale Züge verleihen, fragen sie nach den Hierarchien zwischen organischem Körper und synthetischem Ding, zwischen Subjekt und Objekt, womit auch posthumanistische Konzepte auf den Plan gerufen werden (vgl. hierzu Braidotti 2013). So ist zu fragen, inwieweit das Erscheinen des Puppenkörpers, und insbesondere der Puppenhaut, die alten Grenzziehungen zwischen dem anthropozentrischen Subjekt und den ihm gegenübergestellten Objekten angreift. Sowohl Film als auch Installationen verknüpfen die Frage der Personalität mit einer spezifischen Stofflichkeit: Zum einen mit dem gewissermaßen transzendenten Stoff Luft, zum anderen mit den Dauerhaftigkeit versprechenden, und dabei doch mit Abfall konnotierten Kunststoffen. Der Film Air Doll und Krauss‘ Selbstporträts scheinen vorzuschlagen, dass Personalität an den Körpergrenzen stattfindet, und gleichzeitig nicht außerhalb von der Materie gedacht werden kann. Die drei Puppenfigurationen fragen nach der Materialität von Personalität. Und auch Puppen ganz generell werfen immer die Frage auf, wie es trotz ihrer synthetischen Herkunft zum Eindruck von Personalität kommen kann.


[1] ‚Nozomi‘ bedeutet übersetzt ‚Sehnsucht‘ oder ‚Hoffnung‘ und referiert damit auf den Menschheitstraum der Belebung anthropomorpher Artefakte, den schon der antike Mythos von Pygmalion zum Thema hatte.

[2] Umso interessanter ist Insa Fookens Hinweis, dass der Barbiepuppe im kindlichen Spiel häufig Beine oder Kopf entfernt werden. Fooken spricht bei dieser gängigen Praxis von „Folterspielen“ (vgl. Fooken 2012, 146).

[3] ‚Personalität‘ geht auf den Begriff der Person (vom lat. persona für ‚Maske‘) zurück, womit der Terminus etymologisch im Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Authentizität steht. Eine Person ist nach Hügli u. Lübcke dadurch bestimmt, dass sie außer dem Bewusstsein und dem Selbstbewusstsein einen Körper besitzt, eine erkennende und handelnde Beziehung zu ihrer Umwelt sowie eine individuelle Geschichte hat, durch die das betreffende Individuum sich zu einer eigenen Persönlichkeit entwickelt mit bestimmten Anlagen, Haltungen, Charakterzügen und Meinungen über sich und die Welt (vgl. Hügli u. Lübcke 2013, 681). Im vorliegenden Text ziehe ich den Begriff der Personalität dem Begriff der Subjektivität vor, in welchem die klassischen anthropozentrischen Kategorien von Subjekt und Objekt nachklingen. Diese scheinen in Zeiten von Posthumanismus und Post-Anthropozentrismus nicht mehr hinreichend um das Netzwerk von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu untersuchen (s. hierzu bspw. Latour 2008).


Literaturverzeichnis

Primärliteratur / Werke

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Krauss, Clemens (2009). Large Self-portrait. Mixed-Media-Installation, Maße variabel.

Krauss, Clemens (2017). Selbstportrait als Kind | Self-portrait as a Child. Mixed-Media-Installation, Maße variabel.

Forschungsliteratur

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Über die Autorin / About the Author

Jana Scholz

Studium der Europäischen Literaturen in Marburg und Barcelona; M.A. in Vergleichender Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam; seit 2014 Öffentlichkeitsarbeit für die Universität Potsdam; freie Journalistin; derzeit Promotionsstudium an der Universität Potsdam über die Puppe als Objekt materieller und visueller Kulturen.

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