denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus
Jana Scholz
Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios
Abstract:
Diese kulturwissenschaftliche Analyse widmet sich der Materialität von
Puppen, welche maßgeblich durch das Verhältnis von Oberfläche und Plastizität
bestimmt ist. Der Text fokussiert dabei die aufblasbare Puppe und die
kulturellen Zuschreibungen, die sich an ihre spezifische Materialität knüpfen. Als
Beispiele dienen Hirokazu Kore-edas Film Air Doll von 2009 sowie Clemens Krauss‘
Mixed Media-Installationen Large Self-Portrait aus demselben Jahr und Self-portrait as
a Child von 2017. Die ausgewählten Werke fragen mit ihren jeweils eigenen Figurationen
der Aufblaspuppe nach der Materialität von Personalität.
Schlagworte: Hirokazu Kore-eda; Clemens Krauss; Aufblaspuppe; Materialität; Anthropomorphe Körper
Abstract: As an analysis of the doll’s materiality, this paper examines the relation between outer shell and volume as essential characteristics of the doll. This relation is especially interesting regarding the inflatable doll. The Film Air Doll (2009) by Hirokazu Kore-eda and Clemens Krauss’ Mixed-media-installations Large Self-Portrait (2009) and Self-portrait as a child (2017) serve to analyze the material composition of the inflatable doll while exploring the underlying cultural concepts. With the following result: in these examples, the inflatable doll serves to question the materiality of personality.
Keywords: Hirokazu Kore-eda; Clemens Krauss; inflatable doll; materiality; anthropomorphic bodies
Zitationsvorschlag: Scholz, J. Puppenhüllen. Die Aufblasbare Puppe in Einem Film Von Hirokazu Kore-Eda Und in Installationen Von Clemens Krauss. de:do 2018, 1, 73-83. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Copyright: Jana Scholz. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Veröffentlicht am: 17.05.2018
Um auf Zusatzmaterial zuzugreifen, besuchen Sie bitte die Artikelseite.
Mehr als andere Dinge unseres kulturellen Alltags wecken Puppen unsere
Aufmerksamkeit. Unser Interesse richtet sich meist auf ihre äußere
Erscheinung, doch manchmal gerade auch auf ihr Innenleben. Im
Spiel entfernen Kinder der Barbiepuppe den Kopf oder die Gliedmaßen (vgl. Fooken
2012, 146), um zu entdecken, was sich unter Barbies versiegelter Körperoberfläche
befindet. Die anatomischen Puppen des 18. Jahrhunderts erlaubten tiefe
Einblicke besonders in den weiblichen Torso. Und Künstlerinnen und Künstler
wie Cindy Sherman oder Hans Bellmer irritieren uns mit Puppen, denen die
Körperwände fehlen. Dieses Interesse für das Innenleben der Puppe ist mit der Suche
nach dem Ort von Personalität verknüpft, so behauptet dieser Text: An Puppen
wird die Frage nach der Materialität des Ich verhandelt. Besonders frappant
wird dieser Aspekt bei der aufblasbaren Puppe, deren materielle Erscheinung
durch die Möglichkeit der Transformation gekennzeichnet ist: Ein kleiner Riss
in der Körperhülle, und ihre Gestalt ändert sich grundlegend. Diese spezifische
materielle Kondition der Aufblaspuppe eröffnet besondere Möglichkeiten, sie als
Subjekt zu inszenieren und zu interpretieren.
Im Folgenden werden diese Thesen anhand von zeitgenössischen Beispielen
erörtert, welche die Materialität der aufblasbaren Puppe mit der Frage nach dem
Ort des Ich nachdrücklich verbinden und insofern Auskunft geben über den
besonderen Stellenwert von Puppen innerhalb materieller Kulturen der Gegenwart.
Das sind Hirokazu Kore-edas Film Air Doll (2009) und Clemens Krauss‘ Installationen
Large Self-Portrait aus demselben Jahr sowie Self-portrait as a Child
(2017).
Zwei auf den ersten Blick konträre Merkmale charakterisieren Puppen. Zum einen
sind sie maßgeblich durch ihre Oberfläche charakterisiert. Die Ähnlichkeit
des Puppenkörpers mit dem menschlichen beruht nach Gertrud Lehnert auf
bestimmten, rein visuell wahrnehmbaren Oberflächenphänomenen (vgl. Lehnert
1998, 88). Puppen imitieren den Menschen also in seinen Oberflächen, und sie
tun dies auf der Oberfläche des Puppenkörpers. Zum anderen sind Puppen im
Gegensatz zum vergleichsweise flächigen Bildnis durch eine größere räumliche
Tiefe gekennzeichnet. Die gestaltete Oberfläche auf der einen und die räumliche
Ausdehnung auf der anderen Seite sind wesentlich für die anthropomorphe
Erscheinung des Puppenkörpers verantwortlich.
Damit stellen Puppen aber immer die elementare Frage nach dem Verhältnis von
Hülle und dem darunter Verborgenen, von Innen und Außen. Dies gilt insbesondere
für die aufblasbare Puppe, die der vorliegende Text untersuchen wird. Denn ihr
Körper ist in seinem Volumen veränderlich. Er changiert zwischen Flächigkeit
und Plastizität, kann mehr konkav oder mehr konvex sein, eher reliefartig oder
rundplastisch wirken. Die Aufblaspuppe oszilliert zwischen den beiden gedachten
Polen der Zwei- und Dreidimensionalität. Für dieses Spannungsverhältnis ist
auch die Herstellung der Puppe von Bedeutung.
Je nach Produktionsverfahren sind Puppen entweder massiv, d.h. sie wurden
vollständig ausgegossen. Solche ‚Vollkörperpuppen‘ bestehen meist aus Kunststoffen
wie Silikon, Vinyl oder Polyurethan oder aus Naturstoffen wie Wachs
und Holz. Oder aber die Puppen sind hohl, wie beispielsweise Porzellanpuppen
und auch die hier behandelte aufblasbare Puppe. War früher Gummi als Oberflächenmaterial
von Aufblaspuppen beliebt, werden heute meist schweißbare
thermoplastische Polymere verwendet, wie etwa Polyvinylchlorid (PVC). In jedem
Fall unterscheidet sich bei diesem Puppentyp das Oberflächenmaterial von seiner
‚Füllung‘: Luft.
Luft bezeichnet im Allgemeinen jeden gasförmigen Körper, im engeren Sinn
ist damit das Gasgemisch aus Stickstoff und Sauerstoff gemeint, das die Erdatmosphäre
bildet (vgl. Diers 2010, 170). Luft ist also zunächst eine chemische
und eine physikalische Größe. Wie andere Stoffe auch, hat sie einen „inneren
Drang, nämlich den, sich über die Welt zu zerstreuen“ (Soentgen 2014, 227). Die
sogenannte Dissipation ist eine spezifische Eigenaktivität der Stoffe, ihre
Neigung sich zu verwandeln (vgl. ebd.). Dieses „Sichverteilen“ kann bei Dingen
rückgängig gemacht werden. Bei chemischen Stoffen ist das nicht möglich, denn
ihre Dissipation ist die Feinverteilung (vgl. ebd.).
Der Flüchtigkeit dieses sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehenden Stoffs
entspricht seine kulturelle Codierung: In der westlichen Tradition ist Luft eng
mit Täuschung und Schein assoziiert, was auch viele Redewendungen aufzeigen.
An der aufblasbaren Puppe erhält diese kulturelle Zuschreibung Prägnanz.
Denn einerseits ist Luft für ihren Körper konstitutiv. Sie erzeugt seine Plastizität
und trägt damit zur Menschenähnlichkeit der Puppe bei. Andererseits ist das
Charakteristikum der Plastizität im Falle der aufblasbaren Puppen sehr fragil.
Richtet sich nämlich das menschliche Erkenntnisinteresse auf das Innere des Puppenkörpers, droht eine doppelte Enttäuschung. Erstens ist die Luft als Spender
des Körpervolumens den Sinnen nicht an sich zugänglich. Sie ist weder sicht-,
hör- noch greifbar, und im natürlichen Zustand geschmack- und geruchlos. Die
Luft ist lediglich an der Weichplastikhülle der Puppe als formgebend diskriminierbar.
Das an der Puppenhülle sichtbare Volumen ‚entpuppt‘ sich damit als
trügerischer Schein, denn im Innern befindet sich nichts, was für die menschlichen
Sinnesorgane ohne Hilfsmittel wahrnehmbar wäre. Zweitens bedeutet der Blick
unter die Oberfläche der aufblasbaren Puppenhülle immer den Verlust des
anthropomorphisierenden Volumens. Um in ihr Inneres zu blicken, muss die Hülle
in irgendeiner Weise angegriffen werden, also etwa aufgeschnitten oder auf
andere Weise zerteilt werden. Doch dabei schwindet zwangsläufig das Volumen.
Die unsichtbare Luft tritt nach außen und die Körperkonturen verlieren sich. Somit
ist der aufblasbaren Puppe ein Paradox
eingeschrieben: Die Luft verleiht ihr die
anthropomorphe Erscheinung, ist selbst
jedoch nicht unmittelbar wahrnehmbar.
Zugleich ist die Aufblaspuppe aufgrund
der Neigung zur Feinverteilung ihrer
Füllung ganz entscheidend durch Unbeständigkeit
(Inkonsistenz) diskriminiert.
An diese stoffliche Qualität macht sich
die kulturelle Zuschreibung einer
Täuschung durch die Puppe fest: Das
nicht fixier- und wahrnehmbare Innere
enthüllt, dass die aufblasbare Puppe nicht
ist, sondern nur scheint (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:48:57
Konstitutiv für die aufblasbare Puppe ist also einerseits die Luft, andererseits
die feste Hülle. Dieses spannungsvolle Verhältnis inszeniert auch der japanische
Film Air Doll von Hirokazu Kore-eda aus dem Jahr 2009. Darin behandelt ein
Mann namens Hideo seine weiblich gestaltete, aufblasbare Puppe tagtäglich wie eine lebendige Person und nennt sie Nozomi.1 Er isst mit ihr, berichtet ihr von
seinem Arbeitsalltag und schläft mit ihr. Nozomis Körper ist dabei unbeweglich
und ausdruckslos, zu hören ist lediglich das Quietschen des Kunststoffs, wenn er
sie umarmt und ihr sagt, dass sie schön sei (TC: 00:03:12). Deutlich sichtbar sind
stets die Nähte an Armen und Beinen, an denen die Plastikfolie zusammengeschweißt
ist.
Eines Tages aber, als Hideo das Haus verlässt, wird die Puppe lebendig. Nozomi
beginnt zu atmen und sich zu regen. Der artifizielle Körper wird zur nackten
Frau aus Fleisch und Blut (TC: 00:04:23-00:07:10). Nach ihrer Metamorphose
kleidet sich Nozomi an und schlendert durch Tokyo. Bei ihren Ausflügen durch
die Großstadt nimmt sie schließlich sogar eine Arbeit in einer Videothek auf. Ihr
Menschsein wird perfekt, als sie sich in ihren Kollegen Junichi verliebt.
Nozomis Haut ist aber ebenso fragil wie die menschliche. Bei der Arbeit verletzt
sich die lebendig gewordene Puppe am Unterarm (TC: 00:48:40). Sie fällt zu Boden,
wo sie versehrt liegen bleibt. Mit der herausströmenden Luft droht sie auch
ihren Lebensatem zu verlieren, sie stöhnt ängstlich. Nozomis Haut sieht plötzlich
wieder synthetisch aus, die Naht an Armen und Beinen tritt deutlich hervor. Sie
schämt sich für diese körperliche Transformation. „Don‘t look!“ (TC: 00:49:00),
ruft sie Junichi zu. Der aber kann nicht mitansehen, wie sie flacher und flacher
wird, ihre Hülle zunehmend die Konturen verliert und die Demarkation zwischen
Körper und Umwelt schwindet. Junichi eilt ihr zu Hilfe, verschließt mit Klebefilm
den Riss im Kunststoff und bläst über ein Ventil am Bauchnabel behutsam Luft
in die leere Puppenhülle.
Diese eindrucksvolle Schlüsselszene soll im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung
stehen. Zuvor ist anzumerken, dass der Film auch auf die große Beliebtheit
erotischer Puppen im heutigen Japan verweist. Nach den USA ist Japan das Land
mit den meisten heterosexuellen Männern im Besitz einer Sexpuppe (vgl. Smith
2013, 204). Gleichzeitig greift der Film auf den großen Stellenwert zurück, den
Puppen in der traditionellen japanischen Kultur besitzen (vgl. ebd., 204f.), etwa
im Puppentheater Bunraku. Der vorliegende Beitrag wird jedoch weniger die
fernöstlichen Puppentraditionen fokussieren, sondern ausgehend von der stofflichen
Konsistenz der aufblasbaren Puppe fragen, welche kulturellen Phantasmen sich an diesen materiellen Eigenschaften potentiell im Blick eines westlich geprägten
Publikums entfalten.
Nozomis Haut besteht augenscheinlich aus PVC. Zunächst verspricht dieser Kunststoff Haltbarkeit. Anders als die Menschenhaut transformiert sich PVC nur äußerst langsam und zeichnet sich durch seine Beständigkeit gegen äußere Einflüsse wie Sonnenlicht, Wasser, Luft und sogar einige Säuren aus. Doch Kore-eda zeigt auch dieses Material als vergänglich. Durch einen kleinen Schnitt in die dünne Plastikfolie wird die opake, glatte und gleichmäßige Körperhülle durchlässig, faltig und uneben. Dieser Moment im Film macht die Ambivalenz des aufblasbaren Puppenkörpers deutlich. Der kennt nämlich zwei sich gegenüberstehende Modi: Solange die Luft ihre Hülle füllt, entspricht die Aufblaspuppe einem kulturellen Ideal, dem opaken Körper. Indem der Puppenkörper gewissermaßen als Oberflächenspannung inszeniert wird, verweist er also einerseits auf das Paradigma des opaken Körpers. Andererseits wird eben diese abgeschlossene, glatte, ganze Oberfläche wiederum in ihrer Fragilität gezeigt, wenn Nozomis Kunststoff-Haut verletzt wird. Dieser geöffnete Körper ist ein grotesker Körper. Im Folgenden werden knapp beide Körpermodelle erläutert (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:49:38
Das Paradigma des opaken Körpers inszeniert den menschlichen Körper fast
immer als säuberlich abgegrenzten, undurchlässigen und ganzen Organismus.
Linda Hentschel spricht von der „Illusion einer versiegelten, abgeschlossenen
Körperoberfläche“ (Hentschel 2001, 27). Nach Claudia Benthien und Christoph
Wulf entstand das „Leitbild des abgeschlossenen, monadischen Körpers mit
klar definierten Grenzen, die dessen Innen und Außen scharf trennen, mit einer überschaubaren und geordneten Zahl von Körperteilen und Organen“ (Benthien
u. Wulf 2001, 16) in der Renaissance. Laut Benthien vollzog sich damals ein
„Mentalitätswandel von einem porösen, offenen und zugleich grotesk mit der
Welt verwobenen Leib zum individuierten, monadischen bürgerlichen Körper, in
welchem sich das Subjekt als ‚wohnend‘ begreift.“ (Benthien 2001, 49)
Den Philosophen Jean Baudrillard erinnert „der moderne Körper“ dementsprechend
„eher an etwas Aufblasbares“ (Baudrillard 2005, 164). Öffnungen charakterisiert
Baudrillard als einen Mangel. Jeder Körper oder jeder Körperteil müsse so
geschlossen, glatt und makellos wie möglich sein (vgl. ebd., 163). Als Beispiel
dient Baudrillard die transparente Strumpfhose, welche die permeable Haut
zumindest optisch versiegelt. Demnach werden die Durchlässigkeit der menschlichen
Haut, ihre Funktionen der Absorption und Exkretion in der Populärkultur
zugunsten einer ‚verglasten‘ Nacktheit aufgegeben (vgl. ebd., 164). Die Eigenschaften
dieser ‚verglasten‘ Körperhülle sind Frische, Weichheit, Transparenz,
Glätte. Für Baudrillard sind das Eigenschaften der Abschließung – „ein Null-
Wert“ (ebd., 164).
Dieses Verglasen der Nacktheit gleicht der Besessenheit, mit der Gegenstände mit Schutzhüllen aus Wachs, Plastik etc. versehen werden, oder auch dem Abbürsten, dem Säubern, das sie in einen Zustand der Reinheit, der makellosen Abstraktion zurückversetzen soll – und damit auch ihre Sekretion (Patina, Rost, Staub) und ihren Verfall verhindern soll, um sie in einer Art von abstrakter Unsterblichkeit zu bewahren (ebd., 164).
Baudrillards Ausführungen zeigen, dass der Puppenkörper gerade in seiner synthetischen Materialität in herausragender Weise geeignet ist, das Leitbild des abgeschlossenen Körpers vorzuführen. Exemplarisch steht hierfür die Barbiepuppe. Wie Andrea zur Nieden feststellt, ist diese doppelt abgeschlossen, im Sinne von ‚zu‘ und ‚beendet‘ (vgl. zur Nieden 2001, 102). Sie ist ‚vollkommen‘ – vollkommen versiegelt. Auch Barbie besteht aus verschiedenen Thermoplasten. Es steht zu vermuten, dass sich an diese historisch vergleichsweise jungen Materialien kulturelle Assoziationen von Opazität, Ganzheit und Unversehrtheit knüpfen, die sich in entsprechenden Körperentwürfen realisieren.2
Das Gegenbild zum opaken Körper ist der groteske Körper: der unabgeschlossene,
teilbare und unebene Körper, dessen Ästhetik der Literaturwissenschaftler
Michail Bachtin grundlegend beschrieben hat. Das groteske Motiv ignoriert
laut Bachtin „die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober-)Fläche
des Körpers und fixiert nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das,
was über die Grenzen des Körpers hinaus –, und das, was in sein Inneres
führt“ (Bachtin 2006, 359, H.i.O.). Daher zeige das groteske Motiv nicht
nur das Äußere, sondern auch das Innere des Körpers. Das Groteske öffnet
gewissermaßen die „Grenze zwischen Körper und Welt“ (ebd., H.i.O.) und
interessiert sich gerade für ihre Durchlässigkeit.
Der vollkommene, weil vollkommen
versiegelte Puppenkörper erfährt also
in der beschriebenen Schlüsselszene
des Films einen Bruch. Durch die PVCFolie
dissipiert Luft, die Grenze zwischen
Körper und Welt verliert sich. Der opake,
anthropomorphe Körper wird zum
grotesken, formlosen Puppenkörper.
Doch Nozomis grotesker Körper kann
durch Wiederaufblasen zurück in den
Modus der Opazität wechseln. Puppen
oszillieren stets zwischen beiden
Körperbildern. Ihre Opazität, die das
Innere verschließt, ist von der Groteske,
die die Grenze zwischen Innen und Außen
aufbricht, immer bedroht. Dies gilt umso mehr für die Aufblaspuppe, die ihr
anthropomorphes Volumen durch einen so wenig fixier- und wahrnehmbaren
Stoff, wie Luft es ist, erhält. Doch auch der Opazität und Dauerhaftigkeit
versprechende Kunststoff kann sich als fragil entpuppen (vgl. Abbildung 3).
Groteske und Opazität sind also direkt an die Materialität des aufblasbaren
Puppenkörpers geknüpft. Füllung und Hülle dieses Körpers sind beide inkonsistent.
Weder ist die Luft fixierbar, noch ist die Plastikfolie vollkommen beständig. So
zeigt Nozomi beispielhaft die ambivalenten Körperbilder auf, die sich an die
Puppe und ihre materiellen Qualitäten knüpft: Sie verspricht einerseits den opaken, makellosen, ‚verglasten‘ Idealkörper und offenbart sich andererseits als
grotesker, angreifbarer, permeabler Körper.
Abbildung 3: © 2009 trigon-film.org – TV Man Union. Filmstill aus Air Doll. TC: 0:49:34
Thermoplaste wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum alltäglichen Material.
Sie erfüllen in der modernen Welt vielfältigste Funktionen, etwa im Bauwesen,
in der Verpackungs-, Möbel- oder Textilindustrie, um nur einige Einsatzbereiche
zu nennen. Auch Puppen bestehen seither meist aus Thermoplasten, während bis
zur Erfindung des Zelluloids Ende des 19. Jahrhunderts Naturstoffe wie Stoff,
Porzellan, Pappmaché, Wachs, Holz oder Gummi verwendet wurden. Besonders
seit den 1960er Jahren fanden schmelzbare Thermoplaste auch Eingang in die
Kunstwelt, vor allem in der Pop Art, etwa bei Niki de Saint Phalle, Allan Jones
oder Claes Oldenburg (vgl. auch Mextorf 2010, 163).
An ihre stofflichen Qualitäten binden sich ambivalente kulturelle Zuschreibungen:
Aufgrund ihrer Stabilität, Persistenz und Inertie können sie, insbesondere im
künstlerischen Kontext, potentiell als verewigende Substanzen zum Einsatz
kommen. Doch ihre weite Verbreitung als funktionale, vielseitige Alltagsmaterialien,
verleiht ihnen im Kontext einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft
immer auch Konnotationen als Abfall. So wird mit vielen Kunststoff-Artefakten
sogar schon dann Müll assoziiert, wenn sie sich noch in einem Gebrauchszusammenhang
befinden. Ihre Omnipräsenz scheint im Kontrast zu Fantasien von
Exklusivität, Originalität und Luxus zu stehen. Außerdem ist es gerade ihre
Beständigkeit gegen Umwelteinflüsse, die sie als Abfälle problematisch werden
lassen. Die Zersetzungszeit einiger Kunststoffe kann unter bestimmten
Bedingungen mehrere Jahrhunderte betragen (vgl. Bertling 2017). Nur schwer abbaubar,
müssen sie deponiert werden. Gegenwärtige Möglichkeiten des Recycling
sind mit vielen ökologischen Nachteilen verbunden.
Daher werden Thermoplaste zur Last, sobald sie in die Ordnung des Mülls
übergehen. Dieser Übergang kann mit dem Versagen dieser vielversprechenden
Materialien zu tun haben, wie sich am Beispiel der Aufblaspuppe Nozomi
gezeigt hat. Denn als sich die thermoplastische Puppenhülle als permeabel
erweist, ist das Versprechen der Haltbarkeit dieses Materials infrage gestellt. Die
Kategorie Abfall ist jedoch transitorisch; Artefakte können in die Kategorie Müll
übergehen, aber bspw. durch ihre Musealisierung diese Ordnung wieder verlassen
(vgl. Weber 2014, 158; Thompson 1981, insb. 151ff.). Während Dietmar Rübel Abfälle bestimmt als diejenigen Stoffe und Objekte, die verbraucht, zerstört oder
als überflüssig erachtet aus ihrem Gebrauchskontext ausgeschieden sind (vgl. Rübel
2010, 13), betont Heike Weber den Zusammenhang zwischen dem Raum und
der Kategorisierung als Müll. Demnach werden Reste durch ihre Ablagerung
an bestimmten Orten erst zu Müll (vgl. Weber 2014, 159). Wenn also Nozomis
nunmehr groteske synthetische Körperhülle am Boden liegt, bringt der Film auch
das Thema „Abfall als kulturelle Ordnungskategorie“ (vgl. Weber 2014, 158)
ins Spiel. Auf dem Fußboden liegend, scheint diese leere Plastikhülle nach einer
Kategorisierung zu fragen. Kann sie als Rest, als Abfall bewertet werden oder ist
sie nicht doch vielmehr als Person einzuordnen?
Kore-edas Air Doll ist nämlich keine gewöhnliche aufblasbare Puppe. Denn für
Nozomi bedeutet die Dissipation der Luft den Tod. Ihr Vermögen zu sterben heißt
aber im Umkehrschluss, dass sie lebt. Im Film transformiert sich Nozomi von der
leblosen Puppe zur lebendigen Person3 – zum fühlenden, denkenden, handelnden
und selbstbewussten Ich. Entsprechend hat Kore-eda seinen Film nicht ‚Rubber
Doll‘ oder ‚Blow-up Doll‘ genannt, was wörtlich Gummipuppe bzw. aufblasbare
Puppe heißt. Der japanische Filmtitel lautet Kūki Ningyō, wobei ningyō ins
Deutsche mit ‚Puppe‘ und kūki mit ‚Luft‘ zu übersetzen ist. Der Titel weist also
explizit auf das Innenleben der Puppe hin, nicht auf ihre materielle Oberfläche
oder ihre funktionale Bestimmung. Mit dieser Gewichtung spricht der Film auch
Vorstellungen an, die den Körper als Behältnis für die darin eingeschlossene Person
imaginieren. Dementsprechend könnte die Luft im Film als Sinnbild für die
Personalität der Puppe verstanden werden. Doch die Öffnung des Puppenkörpers
zeigt, dass in seinem Innern keine Person ausfindig gemacht werden kann (vgl.
hierzu auch Bellanger 2001, 59). An dieser Stelle erkennt Junichi die ‚Täuschung‘ – er hatte es mit einer Aufblaspuppe zu tun. Doch diese Erkenntnis wird nicht zum
Problem für seine Beziehung zu ihr. Denn eben im Moment der Verletzung ihrer
Körperhülle zeigt Nozomi Reaktionen, die sie als Person ausweisen und nicht
als unbelebtes Artefakt. Sie stöhnt ängstlich, blickt hilflos umher, schämt sich.
Die Körperoberfläche ist Schauplatz dieser Reaktionen. Benthien unterstreicht,
dass das Wort Scham den gleichen indogermanischen Wortstamm besitzt wie
die Wörter Haut und Haus. Alle drei Wörter gehen auf den Stamm ‚kam‘ / ‚kem‘
zurück, der verdecken, verbergen, verschleiern bedeutet (vgl. Benthien 2001, 116;
130). Nozomi schämt sich für die synthetische Materialität ihres ‚Körperhauses‘,
doch genau diese Scham weist sie wieder als Person aus. Somit konstituiert sich
Nozomis Personalität gerade am Übergang vom opaken zum grotesken Körper.
Junichi reagiert denn auch nicht auf die Tatsache, dass Nozomis Körper aus Plastik
und Luft zusammengesetzt ist und ihn getäuscht hat, sondern auf ihre Scham,
Angst und Hilflosigkeit – jene Reaktionen, die an ihrer Körperoberfläche ablesbar
sind und sie als Person kennzeichnen. Seine Hilfe erfolgt ironischerweise mit
einem durchsichtigen Klebeband. Die Folie solcher Klebebänder besteht wiederum
aus Kunststoffen, meist aus Polyvinylchlorid oder Polypropylen. Damit gerät dieses
Material wieder als Garant für Opazität auf den Plan, obwohl es sich kurz zuvor
noch als unbeständig, als permeabel erwiesen hatte.
Und ebenso wie sich Nozomi in diesem Moment als Person zeigt, wird auch
die Luft nun den Sinnen zugänglich: Die durch den Riss hinaustretende Luft
verursacht ein lautes Rauschen, und Nozomis Haar, ihre Kleidung und die
Dekoration in der Videothek bewegen sich im Luftstrom. Im Moment der
Zustandsänderung wird die Luft wahrnehmbar, aber wiederum nur an den
Festkörpern. Wie die heraustretende Luft sich an der Materie zeigt, so ist die
Personalität der Puppe nicht als Essenz fixierbar. Personalität und Materialität
sind nicht zu trennen. Damit wird aber die Körperhülle aufgewertet, während
die Person sich wie die Luft als nur mittelbar wahrnehmbares und ephemeres
Konzept erweist. Der Film scheint darauf hinzuweisen, dass diese aufblasbare
Puppe trotz ihrer synthetischen Herkunft nicht einfach in die Ordnung der Dinge
und damit potentiell des Abfalls übergehen kann. Trotz der Angreifbarkeit ihrer
Materialität trägt sie personale Züge, die über die Qualitäten hinausgehen, die
Artefakten für gewöhnlich zugeschrieben werden.
Den Moment des Zustandswechsels vom voluminösem zum flächigem anthropomorphem Körper visualisieren auch Clemens Krauss‘ Mixed Media-Installationen Large Self-Portrait (2009) und Self-Portrait as a Child (2017). Während das erste Selbstporträt den erwachsenen Künstler darstellt, präsentiert die acht Jahre später entstandene Installation einen jugendlichen Körper (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. I. Foto: B. Borchardt.
Beide Installationen arbeiten mit Silikon
und dem Haar des Künstlers. Beide zeigen
eine nackte Körperhülle, die in sich
zusammengesunken auf der Erde liegt.
Die Haut klebt, nur einige größere Falten
werfend, flach am Boden. Lediglich die
Hände wirken voluminös. Minuziös
ahmt diese leere Silikonhülle den
menschlichen Körper nach: von kleinsten
Fältchen, Poren, Rötungen, durchscheinenden
Adern über Leberflecken, Härchen
und Brustwarzen bis zu Fingernägeln,
Bauchnabel und Wimpern. Umso mehr
irritiert, dass dieser Körper wirkt, als sei
er aufgerissen worden. Die entstandenen
Hautlappen lassen an die Schweißnähte
der aufblasbaren Puppe Nozomi denken.
Sie müssten nur wieder zusammengefügt und der Körper mit Luft befüllt werden,
um zur perfekten Illusion eines lebendigen Menschen zu werden.
Die Installationen simulieren den menschlichen Körper jedoch so detailliert,
dass das fehlende Volumen besonders irritiert. Krauss kontrastiert die mimetisch
gestaltete Körperoberfläche mit der Leerstelle des unter dieser Oberfläche
befindlichen Innern. Die hyperrealistischen Installationen sind insofern ebenfalls
als ‚Air Dolls‘ zu verstehen, denen die Luft ‚ausgegangen‘ ist: Weil die Füllung der
Körperhülle spurlos entschwunden zu sein scheint, referieren die Installationen
auf die Dissipation von Luft. Zugleich sind mit den beiden Arbeiten wiederum
Konzepte von Opazität und Groteske aufgegriffen. Das synthetische Material
ist einerseits ein versiegeltes, abgeschlossenes und beständiges, andererseits widersprechen diese ‚aufgerissenen‘ Körperhüllen Vorstellungen von Ganzheit
und Unversehrtheit.
Materialität wird in den Installationen auf einer weiteren Ebene zum Thema.
Denn der Künstler konfrontiert das synthetische Silikon mit dem organischen
Haar. Trotz der grundlegenden Differenz zwischen synthetisch und organisch
haben Silikon und Haar etwas gemeinsam, und zwar ihre relative Dauerhaftigkeit:
Haare zersetzen sich vergleichsweise langsam, sie bewahren ihre Form nach
dem Tod weitaus länger als etwa die Haut. Silikon gehört zu den synthetischen
Polymeren, wie etwa auch Polyethylen, einem gängigen Kunststoff für Verpackungen.
Ähnlich wie PVC ist Silikon ein verbreiteter Kunststoff, der vor allem
im Bauwesen, in Kosmetik und Medizin oder in der Automobil- und Elektroindustrie
Verwendung findet. Auch Künstlerinnen und Künstler nutzen dieses
Material immer häufiger. Wie anderen Kunststoffen auch, ist dem Material
Silikon jedoch nicht mehr anzusehen, wie es hergestellt wurde. An diese Eigenschaft
bindet sich – gerade im Kontext der Bildenden Kunst – laut Monika Wagner
die Idee einer alterslosen Materials und einer von Arbeit befreiten Schöpfung
(vgl. Wagner 2001, 190). Tatsächlich ist Silikon alterungs- und witterungskonsistent,
ebenso wie PVC ist es schwer abbaubar. Die Dauerhaftigkeit, die mit
solchen allgegenwärtigen wie alltäglichen Materialien assoziiert wird, steht in
den Selbstporträts der Endlichkeit des Organismus‘ gegenüber. Der organische,
vergängliche menschliche Körper scheint sich in eine synthetische, dauerhafte
anthropomorphe Körperhülle transformiert zu haben.
Das Genre des Selbstporträts thematisiert häufig die Vergänglichkeit des Künstlers.
Es kann als künstlerischer Versuch der Überwindung seiner Endlichkeit gelten,
denn das Bildnis ist in der Lage, den vergehenden Künstlerkörper zu überdauern.
Claudia Benthien erwähnt den kulturgeschichtlichen Topos, dass die Haut
derjenige Anteil der Person sei, welcher nach dem Tod verbleibt, wiederbelebbar
ist und den Menschen identifizierbar macht (vgl. Benthien 2001, 112). Mit der
fotorealistischen Übersetzung seines eigenen Körpers in Silikon setzt Krauss
diese Fantasie einer den Tod überdauernden Personalität gewissermaßen in
Realität um. Gleichzeitig betonen viele Selbstbildnisse die Beziehung zu den
Betrachtenden, wenn der Blick des Künstlers sie direkt adressiert. Doch in Krauss‘ Installationen sind die Augen, die gemeinhin als Tor zur Seele gelten,
geschlossen. Das weist das Artefakt wiederum als seelenlosen, unbelebten und
damit wertlosen Überrest aus. Wo ist also dieses Selbst, welches die beiden
Porträts darstellen sollen?
Abbildung 5: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. II. Foto: B. Borchardt.
Es scheint, als sei das ‚Selbst‘ dieser Porträts entschwunden und hätte ‚nur‘
eine materielle Hülle zurückgelassen (vgl. Abbildung 5). Damit sprechen die
Installationen die an das Wort ‚Puppe‘ geknüpfte Dimension der Metamorphose
an. Insa Fooken weist auf die zoologische Konnotation des Wortes hin,
der das Entwicklungsstadium der Verpuppung bei der Metamorphose von Insekten
beschreibt (vgl. Fooken 2012, 45f.). Hier besteht ein semantischer Bezug
zu dem altgriechischen Wort nýmphē, das sowohl Larve als auch Braut meint.
In hellenischer Zeit opferten Mädchen im heiratsfähigen Alter einer der drei
Göttinnen Artemis, Hera oder Aphrodite ihre Lieblingspuppe (vgl. ebd., 46). Diese
Übergangsphase zwischen Kindheit und erwachsener Frau wurde mit der Verpuppung
von Insekten assoziiert, woraus sich die Doppelbedeutung des Wortes
herleitet (vgl. ebd.).
Krauss‘ Arbeiten sprechen beide Konnotationen an. Sie referieren einerseits auf
das ‚Abstreifen‘ von Lebensphasen im Sinne einer psychologischen Persönlichkeitsentwicklung,
wobei Krauss aber den umgekehrten Weg geht: Zuerst fertigte
er sein Selbstporträt als Erwachsener, Jahre später folgte sein Selbstporträt als
Kind. Dass Krauss die Richtung dieser Transformation verkehrt, könnte als
Kritik an einem evolutionistischen Modell der Persönlichkeitsentwicklung verstanden
werden, welches verschiedene Lebensphasen hierarchisiert und etwa die
Kindheit dem Erwachsenenalter unterordnet.
Andererseits sind die Arbeiten als Analogon zur Metamorphose von Insekten
lesbar, die Fooken und Mikota beschreiben: „Die Entwicklung geht von der Larve
über die Entlarvung weiter zur Verpuppung und nachfolgenden Entpuppung,
um dann als Schmetterling oder Motte seelisch aufgeladen davon zu flattern
und daran selber zu vergehen“ (Fooken u. Mikota
2014, 218). Versteht man Krauss‘ Selbstporträts als
Verpuppungen, wäre seine Person ‚verflogen‘. Hierzu
passt, dass die Haut wie aufgerissen wird: Viele
Insektenarten schneiden nach ihrer Metamorphose
den Kokon mit ihren Mundwerkzeugen auf. Zurück
bleibt die geöffnete Puppe. Wird die Puppe
im Allgemeinen als funktionslos gewordene, womöglich
sogar abjekte Hinterlassenschaft bewertet,
provozieren die leeren Körperhüllen am Boden des
Galerieraums neue Bewertungskategorien. Krauss
scheint vorzuschlagen, dass die Puppe mehr ist
als bloßer Rest einer Metamorphose, deren Bedeutung
sich mit dem Erreichen der nächsten
Seinsstufe verliert, denn schließlich bekommen
wir nicht das Produkt dieser Transformation zu
sehen. Stattdessen sind nur die ‚Abfälle‘ dieses
Prozesses zugänglich.
Abbildung 6: Clemens Krauss: Selbstportrait als Kind, 2017. Silikon, Eigenhaar, verschiedene Materialien. Nr. VII. Foto: B. Borchardt.
Werden Krauss‘ Körperhüllen symbolisch verstanden als Metamorphose,
stellt sich also die Frage nach der Bedeutung der übrig gebliebenen Puppe. In
der Abfallkunst, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer etablierten
Spielart des Kunstbetriebs entwickelt hat, setzen sich Künstlerinnen und
Künstler mit Wertzuschreibungen auseinander, indem sie Abfall als Material
der Kunst nutzen (vgl. Weber 2014, 158f.; Wagner 2001, 57ff; Rübel 2010).
Dabei brechen sie oft Tabus und überschreiten die Grenze zu Chaos, Ekel
oder Schmutz (vgl. Weber 2014, 158). Begreift man Krauss‘ Selbstporträts
eben auch durch ihre räumliche Lage am Boden als Abfall, als Reste einer
Transformation, provozieren sie neue Wertzuschreibungen (vgl. Abbildung 6).
Denn obwohl sie am Galerieboden liegen wie ein nicht mehr benötigter Rest,
sprechen sie die Frage nach den Spuren von Personalität an. Sowohl die detailgetreue
physiognomische Ähnlichkeit der Darstellung mit dem Künstler wie
auch das Haupt- und Körperhaar authentifizieren die Selbstporträts als solche.
Sie verbürgen, dass es sich um Abbilder ebendieser Person handelt. Aber mehr
noch, als organisches Material seines Körpers, als Bruchstücke einer realen Welt,
stellen die Haare „die Verbindung zu Erlebtem und Gewußtem außerhalb der
Kunst her“ (Wagner 2001, 62). Diese symbolischen Puppen einer Metamorphose
tragen schließlich nicht nur Krauss‘ Züge. Als Silikonabgüsse des Künstlerkörpers,
in welche in Feinarbeit sein eigenes Körperhaar eingearbeitet wurde,
tragen sie seine organischen Spuren. Sie bezeugen die Transformation des
individuellen Organismus‘ im Laufe des Lebens, die Spuren einer beständigen
Metamorphose, die normalerweise den Blicken der Öffentlichkeit verborgen
sind. Diese mit dem Künstler tatsächlich wie symbolisch verbundenen Skulpturen
offenbaren die Spuren seiner physo-psychischen Biografie: Gerade in den
feinen Details aus Leberflecken, Rötungen, vergrößerten Poren dokumentieren
die Installationen das individuell Erlebte.
So rufen Krauss‘ Selbstporträts, wie schon der Film Air Doll, auf den ersten Blick
eine Vorstellung von der Haut auf, die die im Innern verortete Person ‚ausdrückt‘
– eine Idee, die sich mit der Entstehung bürgerlicher Werte seit dem 18. Jahrhundert
herausbildete (vgl. zum Verhältnis von Körper und Person beispielsweise Dreysse
2017; Bork Petersen 2013; Barta 1987). Doch bei näherer Betrachtung entpuppen
sich Krauss‘ Hüllen nicht einfach als ‚Körperhaus‘ für die Person im Innern, die
nunmehr entschwunden ist. Er spricht mit den Arbeiten an, dass die Haut nicht nur etwas schützt, das sie beinhaltet. Sie ist mit all ihren minutiösen Phänomenen
selbst das Intime und Schützenswerte. Sie verbirgt nicht etwas Privates vor den
Augen der Öffentlichkeit, sondern sie ist das Private. In dieser Vorstellung ist
die Haut von der Person gar nicht zu trennen: Sie repräsentiert nicht die Person,
sondern sie ist die Person (vgl. zu den Konzepten von Haut und Person auch
Benthien 2001).
Wie im Film Air Doll fragen die Installationen also nach dem Wert der materiellen
Körperhülle, die für gewöhnlich dem im Innern verorteten ‚Wesen‘ eines
Menschen als bloße Repräsentation untergeordnet wird. Dafür bedienen beide
Beispiele symbolisch den Stoff Luft, der zunächst als Metapher für die Person
als nur vermittelt wahrnehmbare, ephemere Substanz gedacht ist. Die beiden
Beispiele scheinen die Körperhülle als wahrnehmbaren Festkörper aufzuwerten,
indem sie die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Person (wie die Luft) sich
nur an Körpern zeigen kann – und damit womöglich von diesen Körpern gar
nicht zu trennen ist.
Mit der anthropomorphen Silikonmasse auf dem Boden einer Galerie und der hilflosen PVC-Puppe am Boden einer Videothek geraten die Kategorien zwischen Ding und Person in Unordnung. Beide untersuchten Beispiele zeigen neben der Haltbarkeit synthetischer Materialien auch ihre problematische Dimension als Abfall auf. Sie verknüpfen diese Zuschreibung mit der kulturellen Abwertung der vergänglichen Körperhülle gegenüber der darin eingeschlossenen Person. Indem Kore-eda und Krauss jedoch den veränderlichen Körper in eine dauerhaftere synthetische Form bringen und diesen konträr zum Menschen gedachten Materialien personale Züge verleihen, fragen sie nach den Hierarchien zwischen organischem Körper und synthetischem Ding, zwischen Subjekt und Objekt, womit auch posthumanistische Konzepte auf den Plan gerufen werden (vgl. hierzu Braidotti 2013). So ist zu fragen, inwieweit das Erscheinen des Puppenkörpers, und insbesondere der Puppenhaut, die alten Grenzziehungen zwischen dem anthropozentrischen Subjekt und den ihm gegenübergestellten Objekten angreift. Sowohl Film als auch Installationen verknüpfen die Frage der Personalität mit einer spezifischen Stofflichkeit: Zum einen mit dem gewissermaßen transzendenten Stoff Luft, zum anderen mit den Dauerhaftigkeit versprechenden, und dabei doch mit Abfall konnotierten Kunststoffen. Der Film Air Doll und Krauss‘ Selbstporträts scheinen vorzuschlagen, dass Personalität an den Körpergrenzen stattfindet, und gleichzeitig nicht außerhalb von der Materie gedacht werden kann. Die drei Puppenfigurationen fragen nach der Materialität von Personalität. Und auch Puppen ganz generell werfen immer die Frage auf, wie es trotz ihrer synthetischen Herkunft zum Eindruck von Personalität kommen kann.
[1] ‚Nozomi‘ bedeutet übersetzt ‚Sehnsucht‘ oder ‚Hoffnung‘ und referiert damit auf den Menschheitstraum der Belebung anthropomorpher Artefakte, den schon der antike Mythos von Pygmalion zum Thema hatte.
[2] Umso interessanter ist Insa Fookens Hinweis, dass der Barbiepuppe im kindlichen Spiel häufig Beine oder Kopf entfernt werden. Fooken spricht bei dieser gängigen Praxis von „Folterspielen“ (vgl. Fooken 2012, 146).
[3] ‚Personalität‘ geht auf den Begriff der Person (vom lat. persona für ‚Maske‘) zurück, womit der Terminus etymologisch im Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Authentizität steht. Eine Person ist nach Hügli u. Lübcke dadurch bestimmt, dass sie außer dem Bewusstsein und dem Selbstbewusstsein einen Körper besitzt, eine erkennende und handelnde Beziehung zu ihrer Umwelt sowie eine individuelle Geschichte hat, durch die das betreffende Individuum sich zu einer eigenen Persönlichkeit entwickelt mit bestimmten Anlagen, Haltungen, Charakterzügen und Meinungen über sich und die Welt (vgl. Hügli u. Lübcke 2013, 681). Im vorliegenden Text ziehe ich den Begriff der Personalität dem Begriff der Subjektivität vor, in welchem die klassischen anthropozentrischen Kategorien von Subjekt und Objekt nachklingen. Diese scheinen in Zeiten von Posthumanismus und Post-Anthropozentrismus nicht mehr hinreichend um das Netzwerk von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu untersuchen (s. hierzu bspw. Latour 2008).
Kore-eda, Hirokazu (2009/2010). Air Doll. DVD. Ennetbaden: trigon-film.
Krauss, Clemens (2009). Large Self-portrait. Mixed-Media-Installation, Maße variabel.
Krauss, Clemens (2017). Selbstportrait als Kind | Self-portrait as a Child. Mixed-Media-Installation, Maße variabel.
ForschungsliteraturBarta, Ilsebill (1987). Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts. In llsebill Barta u.a. (Hg.): Frauen – Bilder – Männer – Mythen. Kunsthistorische Beiträge (S. 84-106). Berlin: Dietrich Reimer.
Baudrillard, Jean (2005). Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes und Seitz.
Bellanger, Silke (2001). Begegnungen mit den Cyborgs. Zur Lebenssituation der Cyborgs in der Moderne und danach. In Karin Gieselbrecht, Michaela Hafner (Hg.), Data | Body | Sex | Machine. Technoscience und Sciencefiction aus feministischer Sicht (S. 45-72). Wien: Turia + Kant.
Benthien, Claudia (2001). Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Benthien, Claudia, Wulf, Christoph (2001). Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile. In Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie (S. 9-27). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Bertling, Jürgen (2017). Zersetzung von Kunststoffen. Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT. Zugriff am 25.8.2017 unter: www.initiative-mikroplastik.de/index. php/themen/zersetzungskinetik
Bork Petersen, Franziska (2013). Do you really feel the outside matches the inside? In Jens Eder, Joseph Imorde, Maike Sarah Reinerth (Hg.), Medialität und Menschenbild (S. 85-99). Berlin, Boston: Walter de Gruyter.
Braidotti, Rosi (2013). The Posthuman. Cambridge, Malden: Polity Press.
Calabrese, Omar (2006). Die Geschichte des Selbstporträts. München: Hirmer.
Diers, Michael. Luft. In Monika Wagner (Hg.), Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn (S. 170-174). München: C.H. Beck.
Dreysse, Miriam (2017). Maskeraden. Zum Verhältnis von Hülle und Verhülltem in den darstellenden Künsten. In Inga Klein, Nadine Mai, Rostislav Tumanov (Hg.), Hüllen und Enthüllungen. (Un-) Sichtbarkeit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive (S. 127-140). Berlin: Reimer Verlag.
Fooken, Insa (2012). Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut (unter Mitarbeit von Robin Lohmann). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Fooken, Insa, Mikota, Jana (2014). Der Golem, das Gespenst, die Motte und das Spiel mit der Puppe. In Wolf-Andreas Liebert, Stefan Neuhaus, Dietrich Paulus, Uta Schaffers (Hg.), Künstliche Menschen. Transgressionen zwischen Körper, Kultur und Technik (S. 207-220). Würzburg: Königshausen & Neumann.
Hentschel, Linda (2001). Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg: Jonas Verlag.
Hügli, Anton, Lübcke, Poul (2013). Person. In Anton Hügli, Poul Lübcke (Hg.), Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart (S. 681- 683). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Latour, Bruno (2008). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Wissenschaft.
Lehnert, Gertrud (1998). ‚Es kommt der Moment, in dem sie selbst ihre Puppe ist‘ – Von modischen Körpern, Frauen und Puppen. In ebd. (Hg.), Mode, Weiblichkeit und Modernität (S. 86-106). Dortmund: Ed. Ebersbach.
Marta Herford gGmbH (Hg.) (2017). Die innere Haut – Kunst und Scham. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 4.3.2017 bis 4.6.2017 im Marta Herford Museum.
Mextorf, Lars (2010). Kunststoff. In Monika Wagner (Hg.), Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn (S. 161-165). München: C.H. Beck.
Michail Bachtin (2006). Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Rübel, Dietmar (2010). Abfall. In Monika Wagner (Hg.), Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn (S. 13-17). München: C.H. Beck.
Shelton, Catherine (2008). Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm. Bielefeld: transcript.
Smith, Marquard (2013). The erotic doll: a modern fetish. New Haven, London: Yale University Press.
Soentgen, Jens (2014). Materialität. In Stefanie Samida, Manfred K. Eggert, Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen (S. 226-229). Stuttgart: J.B. Metzler.
Thompson, Michael (1981). Die Theorie des Abfalls: über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Stuttgart: Klett-Cotta.
Wagner, Monika (2001). Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: C.H. Beck.
Weber, Heike (2014). Abfall. In Stefanie Samida, Manfred K. Eggert, Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen (S. 157-161). Stuttgart: J.B. Metzler.
Zur Nieden, Andrea (2001). ‚Schönheit ist irrelevant‘? Die Sexualisierung von Cyborgs in Star Trek. In Karin Gieselbrecht, Michaela Hafner (Hg.), Data | Body | Sex | Machine. Technoscience und Sciencefiction aus feministischer Sicht (S. 96-123). Wien: Turia + Kant.
Studium der Europäischen Literaturen in Marburg und Barcelona; M.A. in Vergleichender Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam; seit 2014 Öffentlichkeitsarbeit für die Universität Potsdam; freie Journalistin; derzeit Promotionsstudium an der Universität Potsdam über die Puppe als Objekt materieller und visueller Kulturen.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address:
janschol@uni-potsdam.de