denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus
Juliane Noack Napoles
Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios
Abstract:
In dem vorliegenden Artikel wird als existentielles Bedrohungsszenarium, in das zwei
anthropomorphe Figuren geraten, die Identitätskrise anhand der beiden Bilderbücher
Das Kleine Ich bin ich von Mira Lobe und Susi Weigel (1972) und Pezzettino von Leo
Lionni (1975) untersucht. Die zentrale erkenntnisleitende Frage ist die nach der ästhetischen
Gestaltung der beiden Hauptfiguren Das kleine Ich bin ich und Pezzettino hinsichtlich
identitätsrelevanter Überlegungen.
Schlagworte: Identität; Modell der Identitätskrise; ästhetische Gestaltung
Abstract:
In this article the identity crisis of two anthropomorphic figures is investigated as an
existential threat scenario by analyzing the two picture books Das Kleine Ich bin ich
of Mira Lobe and Susi Weigel (1972) and Pezzettino of Leo Lionni (1975). The central
epistemic question focusses the aesthetic design of the two main characters Das Kleine
Ich bin ich and Pezzettino regarding identity relevant considerations.
Keywords: identity, model of identity crisis, aesthetic design
Zitationsvorschlag: Noack Napoles, J. Anthropomorphe Figuren in Der Identitätskrise Und Deren ästhetische Gestaltung Am Beispiel Der Bilderbücher Das Kleine Ich Bin Ich (Mira Lobe/Susi Weigel) Und Pezzettino (Leo Lionni). de:do 2018, 1, 102-110. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Copyright: Juliane Noack Napoles. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212
Veröffentlicht am: 17.05.2018
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Ausgangspunkt dieses Artikels ist folgende Feststellung Insa Fookens (2012a): „Als beseelte Objekte passen sich Puppen und Kuscheltiere in der Regel den aktuellen Bedürfnissen des Kindes an und begleiten es auf dem Weg seiner persönlichen Weiterentwicklung“ (115). Ein wichtiger Schritt in und gleichsam eine Entwicklungsaufgabe der kindlichen Entwicklung ist die Identitätsbildung bzw. Identitätsentwicklung (Noack Napoles 2014). In diesem Sinne spricht Fooken (2012b) an anderer Stelle davon, dass Puppen in besonderer Weise das Nachdenken über Menschliches fördern und sieht sie „als Schlüssel zu Identität und Menschwerdung“. Dabei können Puppen oder Kuscheltiere als Übergangsobjekte das Kind begleiten, indem es beispielsweise Verunsicherungen in diesem Fall hinsichtlich seines Selbstverständnisses mit seinem kleinen Begleiter bespricht und/oder durchspielt. Wie eine solche Identitätskrise sich vollends darstellt und vor allem, wie sie sich lösen lässt, erfährt das Kind in diesem unmittelbaren Kontakt nicht. Noch wird es, vor allem bei der Identitätsbildung, wenn es also erstmals mit identitären Fragen konfrontiert ist, die über bloße Identifikationsprozesse hinausgehen, in der Lage sein, diesbezügliche Fragen und Sorgen zu artikulieren und zu kommunizieren. An dieser Stelle kommt das Bilderbuch ins Spiel, da hier eine Identitätskrise (stellvertretend) miterlebt und beobachtet werden kann. Jedoch muss dafür die, eine Identitätskrise erlebende, Hauptfigur so beschaffen sein, dass sie gewissermaßen zur Identifikation mit ihr einlädt. Figuren, die beispielsweise stereotype Geschlechterrollenmerkmale oder eine bestimmte Nähe zu ihnen aufweisen, schließen so die Kinder aus, die sich diesen nicht zugehörig fühlen. Aus dieser Perspektive sind anthropomorphe Figuren möglicherweise besser als Puppen für die Identitätsthematik geeignet, ohne dass damit die Frage nach der ästhetischen Gestaltung anthropomorpher Figuren hinreichend beantwortet wäre. Die zentrale erkenntnisleitende Frage, der sich daraus resultierend hier gewidmet wird, ist die nach der ästhetischen Gestaltung der anthropomorphen Figuren Das kleine Ich bin ich und Pezzettino hinsichtlich identitätsrelevanter Überlegungen. Dazu wird zunächst in die Thematik Identitätskrise und deren Darstellung im Bilderbuch eingeführt, gefolgtvonder Skizzierung eines heuristischen identitätstheoretischen Rahmens, in dem vor allem der Prozesscharakter der Identitätskrise herausgearbeitet wird. Entlang dessen folgt die Analyse der Geschichten der beiden anthropomorphen Figuren Das kleine Ich bin ich und Pezzettino und darauf basierend eine vergleichende Auseinandersetzung mit deren jeweiligen ästhetischen Gestaltung.
Nicht zu wissen, wer man ist, stellt ein, im wahrsten Sinne des Wortes, existentielles
Bedrohungsszenarium dar, was seit jeher in der Literatur thematisiert
wird Aus dieser eher philosophisch-literarischen – als Identität und deren Krise
bezeichneten – Thematik wird mit dem Beginn der Moderne ein beinahe alltäglicher
Topos. Dies zeigt sich einerseits an dem quantitativen Anstieg der Verwendung
des Begriffs Identität, aber auch qualitativ, nämlich daran, dass die meisten
Menschen in unseren Breitengraden, den Begriff kennen, benutzen und ihnen
der damit bezeichnete Phänomenbereich, vor allem als Identitätskrise, vertraut ist.
Vor inzwischen zwanzig Jahren konstatiert Zygmunt Bauman (1997) in diesem
Sinne: „Identität kann nur als Problem existieren, sie war von Geburt an ein
‚Problem’, wurde als Problem geboren. […] Man denkt an Identität, wenn man
nicht sicher ist, wohin man gehört“ (134). Ein Problem, das in der heutigen
Gesellschaft, wie diverse Gegenwartsdiagnosen beleuchten, in einem solchen
Ausmaß virulent und symptomatisch ist, dass es mittlerweile auch pädagogisch
vereinnahmt als Zielvorstellung eben solcher Handlungen proklamiert wird.
Obwohl nicht hinreichend klar ist, was unter Identität, vor allem als pädagogische
Zielvorstellung verstanden werden soll, hat sie Eingang in diverse pädagogische
Dokumente von den bundesweiten elementarpädagogischen Bildungsplänen
(Noack Napoles 2017) bis zu den Lehrplänen des Faches Erziehungswissenschaft
der gymnasialen Oberstufe gefunden.
Während in der gymnasialen Oberstufe dieses Thema anhand von Texten von
Autoren wie Erik H. Erikson, Klaus Hurrelmann oder George H. Mead erschlossen
und vor allem auf einer metakommunikativen Ebene bearbeitet wird, geht es im
elementarpädagogischen Bereich eher basal um die Auseinandersetzung mit dem
Phänomen der Identität, d. h. mit der Frage, wer bin ich. Dazu werden unter anderem
Bilderbuchbetrachtungen empfohlen, in denen diese Frage thematisiert wird.
Neben solchen, in denen Kinder in identitätskritische Situationen geraten und
lösen, gibt es Bücher, in denen anthropomorphe Figuren mit der Frage nach ihrer
Identität konfrontiert werden. Ambivalente nicht eindeutig zuordenbare Figuren
bieten sich für diese Thematik an, vor allem, wenn sie bildnerisch dargestellt
werden. Die damit einhergehende komplexe Bild-Text-Verknüpfung definiert
ihrerseits das Bilderbuch als ein ästhetisches Gesamtwerk: „Demnach sind
Bilderbücher ein komplexes Ganzes, eine Einheit, innerhalb derer Bilder und Texte ihre je spezifischen und doch verbindenden textlichen und nichttextlichen
Codes und Zeichen besitzen“ (Thiele 2003, 37). Hierin zeigt sich die Abkehr von
der Idee, dass die Bilder als bloße Zulieferer für den fertigen Text fungieren, womit
die Frage danach, welchen erzählerischen Anteil Bilder besitzen können, d.h. die
nach ihrer visuellen Narrativität, in den Fokus rückt (ebd.).
Zwei Bilderbücher, in denen jeweils eine anthropomorphe Figur mit ihrem Nichtwissen
um sich selbst konfrontiert wird, sind Das Kleine Ich bin ich von Mira
Lobe und Susi Weigel (1972) und Pezzettino von Leo Lionni (1975). Bei dem
Kleinen Ich bin Ich handelt es sich um eine tierähnliche Figur, die Charakteristika
unterschiedlicher Tiere aufweist, ohne jedoch eines von ihnen zu sein. Diese nicht
näher bestimmte Figur gerät, ausgelöst durch die Frage eines Laubfrosches, wer
sie denn sei, in eine Existenzkrise. Daraufhin macht sie sich auf den Weg sie
zu lösen und fragt diverse Tiere, ob sie eine der ihren sei. Als Antwort stellen
die Tiere zwar immer die Gemeinsamkeiten zu dem Wesen heraus, aber nur um
anschließend festzustellen, dass es doch ganz anders sei. Pezzettino, ein rotes
Quadrat, versucht ebenfalls herauszufinden, wohin er eigentlich gehört und wer
er ist. Entgegen dem Kleinen Ich bin ich meint er jedoch ein Teil von Etwas zu
sein und macht sich auf die Suche nach diesem Ganzen, um hinterher herauszufinden,
dass er selbst ein Ganzes ist. Augenfälligste Gemeinsamkeiten der
beiden Werke sind erstens, die nahezu gleiche Erscheinungszeit. Zweitens die
Thematik, dass sich beide Figuren in einer Identitätskrise befinden und dass sie
drittens am Ende der Geschichte freudig ausrufen: „Ich bin ich“. Die Gemeinsamkeiten
die Thematik beider Bücher betreffend befinden sich auf der textlichen
Ebene, wohingegen die Unterschiede vor allem aus der unterschiedlichen
ästhetischen Gestaltung beider Figuren resultieren. Und weil sich das Bilderbuch als
„ein Medium des Erzählens in dem breiten Netzwerk von Text- und Bild-
Verknüpfungen markieren läßt“ (Thiele 2003, 47), müssen zu dessen Erschließung
„sowohl literarische Erzählstrukturen als auch narrative Strukturen des Bildes“
(ebd.) erfasst werden. Im Rahmen dieses Artikels wird der erzählerische Anteil des
Bildes fokussiert und zwar des Bildes der sich in der Identitätskrise befindlichen
Figuren. Methodisch dient dabei das jeweilige Titelbild als monoszenisches
Einzelbild, d. h. es wird als autonom und aus der Bildreihung sowie als vom mitlaufenden
Text befreit begriffen, auch wenn das „Szenische“ am monoszenischen
Bild immer einen Bezugstext hat. Diesem Vorgehen liegt die von Thiele (ebd.)
formulierte These zugrunde, dass sich im Bilderbuch zur Untersuchung narrativer
Elemente solche Bilder anbieten, „die als Titelbild oder Frontispiz eine
eigene gestaltete Bildform aufweisen und dadurch eine gewisse Autonomie
gegenüber dem folgenden Buchinhalt erlangen“ (Thiele, 57).
Identität wird im hiesigen Kontext verstanden als die als evidente Gewissheit
erfahrbare personale Ganzheit eines Menschen sowohl in synchroner (Kohärenz)
als auch diachroner (Kontinuität) Perspektive in den Dimensionen seines
Gegebenseins, seines Mitseins und seines Selbstseins als Resultat deren Zusammenspiels
in Auseinandersetzung mit der Dimension des Andersseins (Noack
Napoles 2017).
Das Gegebensein umfasst die Dimensionen des menschlichen Daseins, die ihm
vorgegeben, wenngleich gestaltbar sind, sodann zunehmend die eigene verantwortete,
geduldete oder erlittene Geschichte, letztlich Entscheidungen, Nichtentscheidungen
und versäumte Entscheidungen, Begegnungen und Trennungen und
vieles mehr“ (Schneider 2009, 236). Wie der Mensch als Person schließlich mit
dem Gegebensein umgeht, ob er es hinnimmt oder ihm eine neue Gestalt verleiht,
entscheidet sich im Selbstsein, zum Beispiel indem erlittene Geschichte bewältigt,
Entscheidungen revidiert und Trennungen überwunden werden. Im Selbstsein
entscheidet sich zudem, „wer ich für mich und für andere sein will, welche
Gestalt ich meinem Leben geben will“ (ebd., 236f.). Dafür wiederum muss sich
die Person zu ihrem Gegebensein in Freiheit verhalten (können). Die Person ist
jedoch nicht nur auf ihr Gegebensein bezogen, sondern genauso eingebunden in
die Seinsform des Mitseins, in dem sich das Selbstsein aus der Erfahrung von
Anderen, von Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat gestaltet (Schneider 2009,
Noack Napoles 2017). Das Anderssein ist im eigentlichen Sinne keine Seinsweise,
„sondern ein Werden, weder unhintergehbar noch faktisch, wenngleich
möglich“ (Schneider 2009, 238). Der mit dem Anderssein verbundene personale
Imperativ, den Gefährdungen des Gegebenseins, des Selbstseins und des Mitseins
zu widerstehen, verweist auf die Verantwortung als dessen ethischer Bestimmung
und zeichnet den hier vorgestellten Identitätsbegriff zudem als einen
pädagogischen aus.
Die Krise der Identität, als Prozess des Andersseins, ist diesem Verständnis nach
dadurch charakterisiert, dass die als evidente Gewissheit erfahrbare Ganzheit zur
Disposition steht beziehungsweise gefährdet ist. Dieser kritische Prozess des Anderswerdens beginnt modellhaft bei einem Zustand der Ganzheit und lässt sich
wie folgt konzeptualisieren (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: Prozessmodell der Identitätskrise (vgl. Noack 2007, Noack Napoles 2017)
Findet dieser Prozess erstmalig statt – als Urprozess gedacht – , handelt es sich bei der Ganzheit um das Ergebnis der zweiten Entwicklungsstufe des Ichs, das man, wie die Stufe selbst als Identifikation bezeichnen kann. Es ist das einzigartige identitäre Produkt, das die Summe all der aufeinanderfolgenden Identifikationen der frühen Jahre umfasst, aber dennoch mehr ist als diese Summe. Treffen bestimmte innere Bedingungen und/oder äußere Umstände aufeinander, kann es zu einem Befremden auf Seiten des Individuums kommen, was Erikson (1988) als Identitätsbewusstheit, d.h. eine, bis ins schmerzliche steigerbare Bewusstheit von sich selbst bezeichnet, „die über Diskrepanzen zwischen der eigenen Selbstachtung, dem erhöhten Selbst-Bildnis als einer autonomen Person und der Erscheinung, die man in den Augen anderer annimmt, nachgrübelt“ (ebd., 178). In einer solchen Situation macht das Ich das Selbst zum Gegenstand seiner Gedanken, also sich selbst, was dazu führt, dass das Identitätsgefühl bewusst wird. Dem kann die eigentliche Identitätsdiffusion/-konfusion – im hiesigen Prozessmodell der Identitätskrise als Entfremdung bezeichnet – folgen. Darunter wird mit Erikson (1999) eine vorübergehende oder dauerhafte Unfähigkeit des Ichs zur Bildung einer Identität verstanden. Die Betroffenen versuchen insbesondere herauszufinden, „wie sie in den Augen der Anderen erscheinen, verglichen mit ihrem eigenen Gefühl, das sie von sich haben“ (ebd., 255f.). Damit kann ein Zustand der Totalität (Erikson 1974) verbunden sein. Totalität meint wie Ganzheit Vollständigkeit, unterscheidet sich jedoch von dieser darin, dass Totalität eine Gestalt darstellt, bei der die Betonung auf den starren Umrisslinien liegt: bei an sich willkürlich gewählten Grenzen darf nichts, was hineingehört, draußen bleiben, und nichts, was nach draußen gehört, innen geduldet werden. Dem folgt die Phase der Ent-Fremdung, in der sich unter entsprechenden Bedingungen, die Elemente des Totalismus wieder zu einer Ganzheit synthetisieren, wie sie vor der Krise möglich war. Die Identitätsbildung als der Urprozess bzw. die Identitäts- (weiter)entwicklung (Noack Napoles 2014) führt dazu, den vorher entfremdeten Zustand zu „ent-fremden“ im Sinne eines vom Fremdsein weg, das Fremdsein abbauend. Das Resultat ist erneut ein Zustand der Ganzheit, der Identität, in dem die Subjekt-Objekt Differenz soweit minimiert ist, dass das Identitätsgefühl wieder unproblematisch und vorbewusst als psychosoziales Wohlempfinden erlebt wird. Da es sich nach dem hier vertretenen Verständnis bei Identität nicht um eine für immer festgelegte Errungenschaft handelt, kann der Prozess immer wieder von Neuem beginnen.
Analyse exemplarischer anthropomorpher Figuren in der Identitätskrise Im Folgenden werden jeweils die beiden Kinderbuchfiguren Das kleine Ich bin ich und Pezzettino entlang des vorgestellten heuristischen Rahmens der Identitätskrise analysiert und anschließend vergleichend in Beziehung zu ihrer jeweiligen ästhetischen Gestaltung gesetzt.
Das kleine Ich bin ich ist eines der Mira-Susi-Bücher, die aus der äußerst produktiven
und langjährigen Zusammenarbeit der Schriftstellerin Mira Lobe und der
Illustratorin Susi Weigel entstanden sind (frauenmuseum.at; Lexe u. Seibert 2005;
Noggler-Gürtler, Huemer, u. Seibert 2014). Mira Lobe, am 17.09.1913 als Hilde
Mirjam Rosenthal in Görlitz geboren und am 06.02.1995 in Wien gestorben, war
Kinder- und Jugendbuchautorin. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung war es
ihr nicht möglich, wie geplant in Berlin Kunstgeschichte zu studieren, sondern
sie musste eine Ausbildung zur Maschinenstrickerin absolvieren. Bereits 1936
emigrierte sie nach Palästina, heiratete dort 1940 den Schauspieler und Regisseur
Friedrich Lobe und brachte 1944 ihre Tochter Claudia und 1947 ihren Sohn Reinhardt
zur Welt. Sie arbeitete als Buchbinderin und schrieb 1948 ihr erstes Buch
Insu-Pu in hebräischer Sprache. 1950 zog sie mit ihrer Familie nach Österreich,
wo sie bis zu ihrem Lebensende lebte. Sie hat fast 100 Kinder- und Jugendbücher geschrieben, die in nahezu alle europäischen Sprachen übersetzt und von denen
zahlreiche mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden. Susi Weigel, österreichische
Illustratorin von Kinderbüchern, Graphikerin und Trickfilmzeichnerin,
wurde am 29.01.1914 in Proßnitz geboren und verstarb am 21.12.1990 in Bludenz.
Bereits früh bemerkt und fördert ihre Familie ihr zeichnerisches Talent. In Wien
studiert sie angewandte Kunst und ihre Studiennachweise bezeugen durchgehend
ihr außergewöhnliches Talent. Nach ihrem Studium ist Susi Weigel in Berlin als
Trickfilmmacherin beschäftigt, kehrt aber nach Kriegsende nach Österreich zurück
und nimmt ab 1949 ihre Tätigkeit im Globus Verlag für die erste Kinderzeitung
in Österreich Unsere Zeitung auf, von der sie eine der meistbeschäftigten
Zeichnerinnen wird. Dadurch lernt sie die Autorin Mira Lobe kennen und beginnt
deren Texte zu illustrieren. Zusammen entwickeln
sie eine Reihe von sehr bekannten Kinderbüchern, wobei
Das Kleine Ich bin ich, ausgezeichnet mit dem Österreichischen
Kinder- und Jugendbuchpreis, wahrscheinlich
zu den bekanntesten zählt. Bis zum Tod von Susi Weigel
im Jahr 1990 wurde allein die deutschsprachige Ausgabe
235.000 Mal verkauft (frauenmuseum.at).
In dem Kinderbuch Das kleine Ich bin ich (Lobe 1972)
macht sich ein kleines buntes Tier, ausgelöst durch die
Frage eines Laubfrosches, auf die Suche danach, wer es
ist (vgl. Abbildung 2).
Es fragt ein Pferd, Fische, ein Nilpferd, einen Papagei und
einen Dackel, ob es eines der ihren wäre. Obwohl die Tiere
immer die Gemeinsamkeiten zu der tierähnlichen Figur
herausstellen, kommen sie dennoch nach eingehendem
Vergleich zu dem Schluss, dass es ganz anders als sie und
somit keiner von ihnen sei. Dies führt schließlich dazu, dass das Tier beginnt an
seiner Existenz zu zweifeln. Da es diese jedoch leiblich erfährt, kommt es zu der
Erkenntnis: „Sicherlich gibt es mich: Ich bin Ich!“ Daraufhin spaziert es glücklich
im Park entlang und entdeckt Seifenblasen, in denen es sich spiegelt. Als diese zerplatzen,
resümiert es, dass dies nicht schlimm sei, weil das Bild auf der Seifenblase
ja nur ein Spiegelbild war und es selbst noch da ist. Schließlich kehrt es zu seiner
alten Wiese zurück und läuft zu den Tieren hin, denen es verkündet, jetzt zu wissen,
wer es sei, nämlich Ich bin Ich, woraufhin sich alle Tiere freuen.
Abbildung 2: Titelbild Das Kleine ich bin ich
Die Geschichte beginnt mit Darstellung der als evidenten Gewissheit erfahrenen
Ganzheit des kleinen bunten Tieres in den Dimensionen seines Gegebenseins,
seines Mitseins und seines Selbstseins: Es spaziert auf der bunten Blumenwiese,
erfreut sich an den Vögeln und Schmetterlingen und freut sich, dass sich’s freuen
kann. Diese Ganzheit wird, ausgehend von der Seinsweise des Mitseins zur Disposition
gestellt; so heißt es im Buch: „Aber dann … Aber dann stört ein Laubfrosch
seine Ruh und fragt das Tier: Wer bist denn du?“ Dies führt zu einer Konfrontation
des bunten Tiers mit seiner Identität bzw. der Frage danach und löst ein Befremden
bei ihm aus: „Da steht es und stutzt und guckt ganz verdutzt dem Frosch ins
Gesicht: ‚Das weiß ich nicht‘.“ Die so heraufbeschworene Identitätsbewusstheit, in
der die Diskrepanzen zwischen dem eigenen Selbstbild und dem, was andere von
einem haben, thematisiert werden, führt das bunte Tier in eine Identitätsdiffusion.
Diesen Zustand der Entfremdung, kann das kleine Tier nicht auf der bunten
Blumenwiese ertragen und will deshalb nicht dort bleiben, sondern irgendeinen
fragen, wer es ist. Dass es sich hierbei um eine Identitätsdiffusion handelt, wird
zudem dadurch deutlich, dass jede Frage des bunten Tieres mit dem Spruch endet:
„Denn ich bin, ich weiß nicht, wer, dreh mich hin und dreh mich her, dreh mich her
und dreh mich hin, möchte wissen, wer ich bin“. Wobei das Verb dem Fortbewegungsmodus
des jeweilsbefragten Tieres angepasst ist. Nachdem das Pferd, die Fische,
das Nilpferd, der Papagei und die Hunde ihm versichert haben, dass es keins
der ihren sei, geht das bunte Tier durch die Stadt und durch die Straßen spazieren
und denkt so vor sich hin: „Stimmt es, dass ich gar nichts bin? Alle sagen, ich bin
Keiner, nur ein kleiner Irgendeiner … Ob’s mich etwa gar nicht gibt?“ Diese Frage
treibt ihm beinahe die Tränen in die Augen und stellt gewissermaßen den Höheund
damit Wendepunkt der Krise dar, und zwar eingeleitet mit denselben Worten,
die zur Krise geführt haben: „Aber dann … Aber dann bleibt das Tier mit einem
Ruck, mitten im Spazierengehen, mitten auf der Straße stehen, und es sagt ganz
laut zu sich: Sicherlich gibt es mich: ICH BIN ICH!‘“ Diesem Akt der Ent-Fremdung
folgt die Darstellung des sich Zurückfindens in den Zustand der Ganzheit.
Dazu geht das bunte Tier nun im Park spazieren und „freut sich an der schönen
Welt, die ihm wieder gut gefällt“. Dort begegnet es seinem Spiegelbild in Seifenblasen
und selbst als diese platzen, macht ihm das nichts aus, denn nun weiß es:
„War ja nur ein Spiegeltier! Es ist fort und ich bin hier.“ Dann kehrt es schließlich
zurück auf seine alte Wiese, läuft zu den Tieren und verkündet: „So, jetzt weiß ich,
wer ich bin! Kennt ihr mich? ICH BIN ICH! Alle Tiere freuen sich.“
Die kleine tierähnliche Gestalt ziert auf grünem Untergrund das Titelbild des
Buches Das kleine Ich bin ich (vgl. Abbildung 2). Sein Bauch, Kopf und seine
Nase, sowie die vier Beine sind kugelförmig und rot-weiß kariert. Seine orangefarbenen
bis zum Boden reichenden Ohren sind blaugepunktet und sein Schwanz
und seine Kopfhaare bestehen aus schwarzen, hell- und dunkelblauen Wollfäden.
Aus den gleichen Farben sind seine runden Augen, nämlich von außen nach innen
hellblau, dunkelblau und schwarz. Damit beschwört die ästhetische Gestaltung
dieser Figur Assoziationen mit diversen wirklich existierenden Tieren herauf,
um dann, einem Kippbild gleich, bei näherer Betrachtung die Zugehörigkeit zu
dieser Tiergruppe auszuschließen. Damit fordert der Anblick dieser Figur dazu
heraus, sie zuzuordnen und konfrontiert den Betrachter selbst mit der textuell
entfalteten Thematik. Unterstützt wird dieser Eindruck darüber hinaus durch die
großen eng beieinander liegenden Kulleraugen, was die Figur zugleich niedlich
und schutzbedürftig wirken lässt. In diesem Sinne entspricht die ästhetische Gestaltung
anderen anthropomorphen Figuren für Kinder, die vor allem durch ihre
Niedlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und häufig zu Übergangsobjekten
werden. Eine Anleitung zur Herstellung des Kleinen Ich bin Ichs liegt dem
Buch bei, so dass es zum wirklichen Identifikationsobjekt werden kann. Damit
wird die kleine tierähnliche Gestalt sowohl in der Geschichte als auch als wirkliche
Figur erst zum Kleinen Ich bin Ich und zwar einerseits durch deren Suche und
andererseits durch deren Herstellung. Ambivalente, nicht eindeutig bestimmbare
Figuren sind nicht ungewöhnlich in der Kinderliteratur, sodass die Darstellung
dieser auf dem Titelbild nicht unbedingt erahnen lässt, dass sie sich in diesem Fall
auf die Suche danach macht, wer sie denn sei. Durch erlernte Sehgewohnheiten
bei der Betrachtung von Bilderbüchern nimmt der Lesende die Figur als Ganze
wahr und als solche an, ohne zu hinterfragen, was sie genau ist und wird so in die
gleiche Situation versetzt, wie die Figur, die sich bis zur Frage des Frosches, ja
auch die Frage nach ihrer Identität nicht gestellt hat.
Leo Lionni, am 5.5.1910 in Amsterdam geboren und am 11.10.1999 in Chianti
gestorben, war Grafiker, Maler und Schriftsteller. Er studierte von 1928-1930 in
Zürich und Genua Wirtschaftswissenschaften und promovierte 1935 in Volkswirtschaftslehre
an der Universität in Genua. Währenddessen war er bereits als
Grafiker und Maler tätig, da für Lionni immer klar war, dass er mit Kunst sein Geld verdienen wollte. 1939 emigrierte er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern
in die USA, wo er als Grafikdesigner und künstlerischer Leiter diverser Zeitschriften
und Werbeagenturen arbeitete. Obwohl er 1945 amerikanischer Staatsbürger
wurde, kehrte er 1962 mit seiner Familie nach Italien zurück und ließ sich
dort als freischaffender Künstler nieder (Kriegel 2009). Leo Lionni hat über 40
Bilderbücher geschrieben und gestaltet, die in mehr als 20
Sprachen übersetzt wurden. 1959 erschien sein erstes Bilderbuch
Das kleine Blau und das kleine Gelb, das er auf
einer Zugreise für seine beiden Enkelkinder mit Papierfetzen
aus dem Stegreif heraus erfand. Sein viertes, 1963
erschienene, Buch Swimmy führte schließlich dazu, dass
sich Lionni selbst als Künstler begriff und wurde zudem
1965 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für das
beste Bilderbuch ausgezeichnet. Als berühmtestes Werk
gilt Frederick (1967), die Geschichte der gleichnamigen
Maus, die Sonnenstrahlen, Wörter und Farben sammelt,
um den langen grauen Winter zu überstehen, wenn alle
natürlichen Vorräte aufgebraucht sind.
In dem 1975 erschienen Bilderbuch Pezzettino lässt Leo
Lionni Pezzettino, was italienisch ist und Stückchen
heißt, sich auf Identitätssuche begeben (vgl. Abbildung 3).
Dabei handelt es sich um ein kleines rotes Quadrat, das sich als kleines Stückchen
fühlt, weil alle anderen groß sind und erstaunliche Abenteuer bestehen. Es denkt
sich, dass es bestimmt ein Stück von irgendetwas ist und macht sich auf den Weg,
um herauszufinden wovon. So fragt er Den, der rennt; Den, der stark ist; Den,
der schwimmt; Den, der auf die Berge klettert und Den, der fliegt, ob er jeweils
ein Stück von ihnen sei, was diese jedoch mit der Begründung verneinen, wie sie
denn rennen, stark sein, schwimmen, auf Berge klettern und fliegen sollten, wenn
ihnen ein Teil ihrer Selbst fehle. Schließlich fragt Pezzettino Den, der nachdenkt
und in einer Höhle wohnt, ob er ein Teil von ihm sei, was dieser mit der Frage
verneint, ob er glaube, es wäre leicht in einer Höhle zu wohnen und nachzudenken,
wenn einem ein Stück fehle. Er empfiehlt ihm jedoch sich zur Insel Wham
zu begeben, was Pezzettino dann auch tut, um dort von einem Berg zu stolpern
und in viele kleine Stücke zu zerfallen. So erfährt Pezzettino, dass er, wie alle
anderen auch, aus vielen Stücken besteht. Er kehrt zu seinen Freunden, die ihn bereits erwarteten, zurück und ruft ihnen außer sich vor Freude zu: „Ich bin ich“.
Obwohl sie nicht genau verstehen, was er damit meint, sind sie mit ihm zusammen
glücklich, denn schließlich haben sie schon immer gewusst, „dass er Stück
für Stück kein anderer war als Pezzettino, ihr alter Freund“.
Abbidlung 3: Titelbild Pezzettino
Pezzettino als anthropomorphe Figur und seine Geschichte entsprechend zu deuten,
obwohl es sich als rotes Quadrat um eine abstrakte Figur handelt, wird durch
Lionnis eigene Aussage gerechtfertigt, nämlich: „Meine Gestalten sind Menschen
in Verkleidung, und ihre kleinen Probleme und Situationen sind menschliche
Probleme, menschliche Situationen“ (Pressemappe Beltz 2010). Die vorgegebene
Dimension seines Daseins kumuliert in seinem Namen Pezzettino, was Stückchen
heißt und genauso erlebt er sich und sein Leben, was darin mündet, dass er
glaubt ein Stück von irgendetwas sein zu müssen, ohne jedoch zu wissen, wovon.
Mit seinem Gegebensein geht Pezzettino dahingehend um, dass er es nicht
einfach hinnimmt, denn eines Tages will er es genauer wissen. Dabei handelt es
sich um eine Entscheidung im Selbstsein und zwar im eigentlichsten Sinne, da
sich im Selbstsein entscheidet, „wer ich für mich und für andere sein will, welche
Gestalt ich meinem Leben geben will“ (Schneider 2009, 236f). Gleichsam zieht
dies ein befremdendes Moment nach sich, da die Entscheidung es genauer wissen
zu wollen, zu einer Identitätsbewusstheit führt. Im Falle Pezzettinos macht sich
dieser nun auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wovon er ein Stückchen
ist, indem er seine Mitfiguren fragt, ob er jeweils ein Teil von ihnen sei und
so versucht, sein Selbstsein aus der Erfahrung von Anderen zu gestalten. Hierin
offenbart sich die zumindest vorrübergehende Unfähigkeit Pezzettinos eine Identität
zu bilden, d.h. einen Zustand der Ganzheit zu finden. Im Gegenteil bezeugen
die kurzen Dialoge mit willkürlich gewählten Figuren, die weder besonders viel
mit ihm noch mit sich untereinander zu tun haben, die Entfremdung von sich
selbst. Erst der Rat von Dem, der nachdenkt und in einer Höhle wohnt, sich zur
Insel Wham, also der Knall- bzw. Schlaginsel, zu begeben, ermöglicht Pezzettinos
Ent-Fremdung. Sein Wegbewegen bezieht sich dann nicht nur auf den Ort,
an dem er vorher war, sondern auch weg von den Figuren, die ihm im Grunde
fremd sind – damit bewegt er sich vom Fremdsein weg, ent-fremdet sich – was
dadurch verstärkt wird, dass es auf besagter Insel Wham, keine Lebewesen gibt
und er auf sich zurückgeworfen ist. Weil Pezzettino von der Reise erschöpft ist,
stolpert er und zerfällt in viele kleine Stücke, was ihm zu der (Selbst)Erkenntnis
führt, „dass er ebenfalls aus vielen Stückchen bestand. Wie alle anderen auch“.
Daraufhin rafft er sich zusammen, vergewissert sich, dass ihm auch nicht ein
Stück fehlt, läuft zu seinem Boot zurück und rudert die ganze Nacht, weil er so
schnell wie möglich nach Hause will. Hier wird literarisch das Zurückfinden in
den Zustand der Ganzheit dargestellt, ebenso wie der Zustand selbst, weil durch
diesen erst das Ich wieder aktives handlungsfähiges Agens wird. Als Pezzettino
schließlich seine Freunde sieht, ruft er ja dann auch – außer sich vor Freude – aus:
„Ich bin ich!“
Auf dem Titelbild ist das kleine rote Quadrat auf einer Ecke stehend, neben einer
aus mehreren Quadraten bestehenden erheblich größeren Figur abgebildet (vgl.
Abbildung 3). Die ästhetische Darstellung suggeriert, dass das Quadrat ein Teil
der anderen Figur ist, möglicherweise von dieser abgefallen ist. Dieser Eindruck
entsteht einerseits durch das Größenverhältnis beider Figuren, aber auch dadurch,
dass das Quadrat auf der Spitze stehend dynamisch und beweglich wirkt. Andererseits
handelt es sich bei beiden um abstrakte Figuren, sodass nicht eindeutig
ist, ob der größeren Figur Teile fehlen. Auf der textuellen Ebene wird deutlich,
dass auch das rote Quadrat dies nicht weiß, denn ansonsten würden dessen Fragen
keinen Sinn machen, setzen sie doch die Möglichkeit voraus, den größeren
komplexeren Figuren könnte ein Teil, nämlich es selbst, fehlen. Darüber können
nur die Figuren Auskunft geben, was sie unter Verweis auf ihre Funktionsfähigkeit
mehr als deutlich tun. Auf der visuell narrativen Ebene spielt Leo Lionni mit
der Doppelbedeutung des Quadrats als Symbol, nach welcher mit „dem Quadrat
[…] der Grundbaustoff bzw. die einzelnen Grundbaustoffe […] versinnbildlicht“
(Og 2005, 108) werden. Als Futurist und Bauhausanhänger spielte er gern mit
Farben und Formen und deren Positionen im Raum und stellte sich die Gefühle
vor, die jede Position im Raum hervorrufen und welche eigene Bedeutung sich
daraus entwickeln würde (Pressemappe Beltz 2010). In diesem Sinne ist davon
auszugehen, dass die ästhetische Gestaltung des Buches Pezzettino und dessen
Figuren nicht zufällig ist – entspricht die Wahl eines roten Quadrats ja gerade
dem in den 1920er Jahren im ‚Bauhaus‘ entwickelten und nicht unumstrittenen
Farbe-Form-Schema. Kunsttheoretiker wie Johannes Itten und Wassily Kandinsky
versuchten damit die Frage zu klären, welcher Form welche Farbe entspricht
und damit auch die, nach der Formen- und Farbensprache. In seiner Abhandlung
Über das Geistige in der Kunst beschreibt Kandinsky den Charakter von Farben,
wie den der Farbe Rot. So wirke diese sehr lebendig, lebhaft und unruhig und
habe trotz aller Energie und Intensität „eine starke Note von beinahe zielbewußter immenser Kraft […]. Es ist in diesem Brausen und Glühen hauptsächlich in
sich und sehr wenig nach außen […]“ (ebd., 83). Und weiter, was die Farbe Rot in
Kandinskys Beschreibung auch identitätstheoretisch so interessant macht: „Dieses
ideale Rot kann aber in realer Wirklichkeit große Änderungen, Abschweifungen
und Verschiedenheiten dulden. […] Diese Farbe zeigt die Möglichkeit,
den Grundton ziemlich zu behalten und dabei charakteristisch warm oder kalt
auszusehen. Warm und kalt kann freilich jede Farbe sein, aber nirgend findet man
diesen Gegensatz so groß wie beim Rot. Eine Fülle von inneren Möglichkeiten“
(ebd., 83). Das Stückchen Pezzettino als rotes Quadrat zu konzipieren und dessen
Mitfiguren aus Quadraten bestehend, setzt die Geschichte auf der visuell narrativen
Ebene gekonnt und textunabhängig um. Aufgrund der Symbolhaftigkeit ist
jedoch die vollständige Erschließung ohne entsprechende Vorkenntnisse bzw. ästhetische
Alphabetisierung (Mollenhauer 1990), wie beispielsweise hinsichtlich
der hier skizzierten, über die symbolhafte Bedeutung der Form und Farbe, nicht
möglich.
Zwei anthropomorphe Figuren – ein kleines buntes Tier und ein rotes Quadrat – geraten in eine Identitätskrise und lösen diese, indem sie sich auf die Suche nach der Antwort auf die Frage, wer sie sind, machen. Das Kleine Ich bin ich ist zwar eine konkrete Figur, jedoch uneindeutig und lässt sich nicht vorhandenen Gruppen von Tieren zuordnen. Bis zu der Frage des Frosches, wer sie sei, stellt das jedoch kein Problem für sie dar. Wahrscheinlich genauso wenig wie für die Kinder, die die Figur auf dem Titelbild des Buches sehen und noch nicht wissen, welche Geschichte sie erwarten dürfen, aber bereits vermuten, dass es sich bei dieser Figur um die Hauptfigur handelt. Anders bei der Figur Pezzettino, die abstrakt als rotes Quadrat dargestellt wird, womit eindeutig klar zu sein scheint, worum es sich handelt. Im Quadrat als Symbol ist jedoch angelegt, wofür der Name Pezzettino im Sinne von Nomen est Omen steht, so kann es nämlich sowohl Teil, als auch Ganzes sein. In dieser Geschichte kommt der Impuls, wissen zu wollen, wovon es ein Ganzes ist, textuell nicht von außen, visuell aber schon, nämlich durch die Darstellung der Mitfiguren als aus Quadraten bestehend. Durch die ästhetische Gestaltung Pezzettinos und seiner Umwelt entsteht eine visuelle Narration, die die Vermutung Pezzettinos nahelegt, ein Teil von etwas sein zu müssen. Erst als es zerbricht und auch hier ist es vor allem die visuelle Ebene, durch die diese Narration transportiert wird, erkennt das Quadrat, dass es selbst ein Ganzes, bestehend aus vielen Teilen, ist. Auf der textuellen Ebene ist damit die Identitätsdiffusion aufgelöst, auf der visuellen Ebene könnte jedoch auch diese selbst aus Teilen bestehende Figur, Teil einer ebenfalls aus Teilen bestehenden Figur sein. Prinzipiell ähnlich, wenn auch nicht eindeutig und ausschließlich auf der visuellen Ebene, gestaltet sich die Geschichte des Kleinen Ich bin Ich. Denn auch wenn es nun weiß, dass es existiert und dass es das selbst ist, bleibt damit die Frage bestehen, was es ist – bzw. zu welcher Gruppe (von Tieren) es gehört. Beide Geschichten bieten damit Lösungen für den Umgang mit Identitätsdiffusionen an, ohne sie aber vollständig lösen zu können, worin gleichsam die Lösung besteht, da es sich bei einer Identitätskrise, also einer Phase, in der man nicht weiß, wer man ist, tatsächlich um ein Bedrohungsszenarium handeln kann. Andererseits thematisieren beide Bücher die Frage nach der eindeutigen Zuordenbarkeit von Menschen und danach, ob diese möglich und tatsächlich notwendig ist. Fragen, die vor allem auch im Kontext kultureller und geschlechtlicher Identität drängend und höchst aktuell sind. Abschließend soll auf ein Anliegen der Bilderbuchforschung hingewiesen werden, das sich im Anschluss an die vorliegende Auseinandersetzung mit der ästhetischen Gestaltung der beiden identitätssuchenden Figuren sehr deutlich herauskristallisiert hat: Mehr als der Analyse der ästhetischen Gestaltung der beiden Figuren an sich, wäre der Frage noch dezidierter nachzugehen, welchen erzählerischen Anteil die Bilder vor allem auch im Zusammenhang mit dem Text und identitärer Fragen haben. Dies würde darüber hinaus zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung literarisch dargestellter anthropomorpher Figuren oder auch Puppen für Kinder und Heranwachsende in kritischen Zeiten existenzieller Bedrohung beitragen.
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Dr. phil.; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie (Prof. Dr. Jörg Zirfas) an der Universität zu Köln; Forschungsschwerpunkte: Identitätsforschung, Lebenslauf- und Biografieforschung, qualitative Forschungsmethoden; aktuell Mitarbeit an den Projekten: Geschichte der ästhetischen Bildung und Vulnerabilität und Pädagogik.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address:
jnoackna@uni-koeln.de