de:do denkste:<i> puppe</i>
denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.1 Nr.1 (2018) | Rubrik: Fokus


Puppen – Übergangsobjekte im Kontext von Umbrüchen, Krieg und Gewalt

Insa Fooken



Focus: puppen in bedrohungsszenarien
Focus: dolls/puppets in threat scenarios



Abstract:
Als anthropomorphe Artefakte sind Puppen ambivalenzträchtig und wirken multifunktional. In bedrohlichen Übergangs- und Umbruchzeiten wie Krieg, Flucht und Gewalt können Puppen auf der individuellen Ebene hilfreich sein, um das Gefühl psychischer Sicherheit herzustellen. Wird in solchen Übergangskontexten mit Hilfe der Puppe die innere psychische Verfassung mit Anforderungen der äußeren Realität verknüpft, funktioniert sie als Übergangsobjekt. Diese Überlegungen zur Bedeutung von Puppen als Übergangsobjekte werden mit Beispielen aus Forschung und Dokumentationen über Kriegskinder, vor allem des Zweiten Weltkriegs, veranschaulicht. Das Fazit lautet: Puppen sind kein Allheilmittel in Bedrohungszeiten, können sich aber als erstaunlich heilsam erweisen.

Schlagworte: Puppen als Übergangsobjekte; Kriegskinder; Ambivalenzen

Abstract:
As anthropomorphic artifacts dolls are multifunctional and prone to ambivalence. In times of radical change and threatening transitions such as war, flight and violence, dolls can be highly significant for children and individuals as to attain psychic security. Whenever dolls are used in transitional contexts to link inner psychic processes with challenges from the outside realitiy the doll functions as transionional object. As far as the idea of the doll’s significance as transitional object is concerned these assumptions are illustrated by examples from research and documentary of children of war, mainly from World War II. To conclude: dolls are no ‘magic bullets’ in times of existential threat but might turn out as amazingly beneficial.

Keywords: dolls as transitional objects; children of war; ambivalences

Zitationsvorschlag: Fooken, I. Puppen – Übergangsobjekte im Kontext von Umbrüchen, Krieg und Gewalt. de:do 2018, 1, 22-31. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212

Copyright: Insa Fooken. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International. (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-13212

Veröffentlicht am: 17.05.2018

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Einleitung: Puppen als multifunktionelle Artefakte in unruhigen Zeiten

Puppen werden auf einer ersten Rezeptionsebene oft als triviale ‚Dinge‘ mit pejorativer Konnotation wahrgenommen – Kinderkram. Dabei kommt ihnen sowohl als Kinderspielzeug als auch als literarische und dramatische Erzeugnisse sowie nicht zuletzt als anthropomorphe kulturelle Artefakte eine weitaus vielschichtigere Bedeutung zu, als es auf den ersten Blick scheinen mag. In Puppen, Figuren und Masken haben viele Kulturen von jeher ihre Menschenbilder zum Ausdruck gebracht, ihre Narrative und Vorstellungen von sich selbst, von ‚anderen‘ und von den Welten, in denen sie leben. Mit Bezug auf die japanische Puppen-Kultur und ihre shintoistische Tradition, in der Puppen nicht als ‚tote Gegenstände‘, sondern als ‚beseelt‘ gelten, verweist Yoko Tawada (2000) in ihrer ‚ethnologischen Poetologie‘ auf das Paradigma einer ‚Puppensprache‘ oder ‚Puppenschrift‘. Dem entsprechend sei es möglich, dass Puppen eine Schrift bilden und man folglich mit „denselben Puppen verschiedene Texte schreibt“ (ebd., 104): Kinder könnten damit spielen und Erwachsene könnten sie gleichzeitig als göttliche Symbole verehren. Denkbar wäre aber auch, dass mit unterschiedlichen Puppen gleiche Texte geschrieben bzw. ähnliche Narrative erzählt werden. So könnte eine Barbiepuppe ein Bestandteil von hegemonialen Diskursen und Marktinteressen der Spielzeugindustrie sein, die kindliche Vorstellungen über unerreichbare weibliche Körperideale ‚produzieren‘ und manipulieren, sie könnte aber auch die Geschichte einer kindlichen Sehnsucht und Wunscherfüllung ‚erzählen‘, die ein Abtauchen in selbst gestaltete, ‚wilde‘ und magische Fantasiewelten ermöglicht, sie könnte kritische Auseinandersetzungen mit stereotypen weiblichen Rollenbildern anstoßen oder sie könnte für erwachsene Frauen ein geliebtes Erinnerungsobjekt an die Zeit kindlicher Unbeschwertheit sein. Daneben gibt es gleiche Funktionen und narrative Besetzungen bei durchaus unterschiedlichen Puppen. So können sowohl eine heiß ersehnte Barbiepuppe, ein inniglich puppifiziertes1 Stück Holz, Plastik oder Stoff, ein zerfleddertes Frottepuppenbaby oder eine gnomige Kohlkopfpuppe als verlässliche Seelentrösterin und kongeniale Begleiterin in Zeiten von Verlust und existenzieller Bedrohung fungieren. Unbedingte Akzeptanz und Zuneigung hängen nicht unbedingt von objektiven Puppen-Kategorien ab, sondern von der subjektiv vollzogenen symbolischen Aufladung der Puppe durch das jeweilige Kind.
Trotz der ‚Aura‘, die Puppen zu eigen ist, wirken sie nie nur ‚an sich‘, sondern sind immer in spezifische individuell-biographische, interpersonelle, kulturelle und zeithistorische Kontexte eingebettet. So sind sie auf einer kollektiven Ebene gerade in Zeiten von politischen Umbrüchen, Verfolgung und Unterdrückung medial unterschiedlich instrumentell einsetzbar, sowohl als Teil von Terror, Abwertung und Hetze als auch als subversive ‚Agenten‘ von (heimlichem) Widerstand gegen Machthaber und Unterdrückungsstrukturen. Am Beispiel des (künstlerischen) Puppen- bzw. Figurentheaters in der Zeit von nationalsozialistischem Terror, Krieg, Vernichtungslagern, Kriegsgefangenschaft etc. wird deutlich, dass ein- und dieselbe Puppenfigur, zum Beispiel der ‚Kasper‘, sowohl in menschenverachtender Weise für antisemitische Propaganda eingesetzt werden konnte als auch in Konzentrations- und Vernichtungslagern eine Möglichkeit des Aufbegehrens und des Widerstands gegen die Situation des Ausgeliefertseins und der eigenen Ohnmacht war (Kolland u. Puppentheater-Museum Berlin 1997). Dabei haftet gerade dem Puppentheater als der ältesten Form dramatischer Darstellungen immer noch etwas zutiefst Archaisches an, das in existenziell bedrohlichen Zeiten sowohl auf der individuellen als auch gesellschaftlichen Ebene in besonderer Weise zum Tragen kommen kann. Einmal mehr kann man hier konstatieren, dass diese Uneindeutigkeit der Puppe und Puppenfiguren wechselseitig verknüpft ist mit ihrer vielseitigen und damit oft ‚ambiguen Verwendbarkeit‘ (vgl. Ariès 2003, 135).
Auch auf der individuellen Ebene sind Puppen Bedeutungsträger für vielerlei Bedürfnisse in intra- und interpersonellen Übergangskontexten, wie es beispielsweise bei Verlusten und Abschieden der Fall sein kann. Vieles lässt sich hier auf die Puppe projizieren und genauso viel kann sie zurückspiegeln: Trost, Sicherheit, Entlastung, Unabhängigkeit, Fürsorge, Neugier, Trotz, Stolz, Widerstand, Ärger, Aggression, Empörung, Rache, Abgrenzung etc. Diese Polyvalenz und Mehrdeutigkeit prädestinieren Puppen geradezu für Übergangs- und Zwischenräume, für Sphären des ‚betwixt and beyond‘ (vgl. Fooken, Depner u. Pietsch-Lindt 2016), bestimmt von hoher Ambivalenzträchtigkeit (vgl. Lüscher 2016).
Wird in solchen Übergangsräumen eine Puppe oder ein puppenaffines Ding als Übergangsobjekt gemäß den theoretischen Annahmen von Donald W. Winnicott (1953, 1973) gewählt, geht es dabei oft um das Finden einer Balance zwischen den Prozessen von sowohl Trennung als auch Verbundenheit, um ein Austarieren der Impulse zwischen (Ab-)Lösung und Bewahrung, um die Verbindung zur inneren psychischen Realität und um die gleichzeitige Auseinandersetzung mit der äußeren Realität und ihren Anforderungen. Puppen, puppifizierte Dinge oder auch Kuscheltiere symbolisieren in diesem Prozess zumeist die geliebten Objekte (Mutter, Vater, Vertrautes), sie validieren die Verbundenheit mit ihnen und ermöglichen genau dadurch, sich auf (partielle) Trennungen vom Vertrauten und damit auf Schritte in neues, unbekanntes Terrain einzulassen. Das ist ein ambivalenzträchtiger Übergangsraum, in dem Kinder sich mit und über das Übergangsobjekt als Subjekt konstituieren und dabei unterscheiden lernen zwischen ‚Ich‘ und ‚Nicht-Ich‘, zwischen Ich und Du, zwischen Identität und Alterität, zwischen Realität und Fantasie.
Kommt Puppen, die in Zeiten von Tod, Verlust, Gefahr, Krieg, Flucht und existenzieller Bedrohung als Übergangsobjekte gewählt werden, eine besondere Bedeutung zu? Gundel Mattenklott (2014) geht davon aus, dass die existenzielle Erfahrung des Getrenntheitseins bzw. die Verlusterfahrung einer zuvor empfundenen Einheit oder Symbiose als entscheidendes Motiv für die Belebung der Puppe fungiert. Mit einer solchen Belebung der Puppe kann, wenngleich häufig nur kurzfristig, etwas Verlorenes wiederhergestellt werden oder eine Kompensation für Verlorengegangenes erreicht und eine neue Situation, ein neuer Übergangsraum, eine neue Entwicklungsmöglichkeit geschaffen werden, denn im Spiel gelingt, ähnlich wie in der Kunst, eine Veränderung der Realitätsebene (vgl. Oerter 1999, 2003). Es kann sein, dass hier an etwas zuvor Verlorenem angeknüpft wird und dass Heilung, Wiedergutmachung, Trost, Trauer oder Abschiednehmen passiert. Es kann sein, dass in eine neue Gefühls- und Gedankenwelt eingetaucht wird, die erst einmal nichts mit der Not, dem Kummer, der Gefahr und dem Verlust zu tun hat, sondern ein partielles Vergessen ermöglicht. Es kann sein, dass das Thema des Verlustes damit bearbeitet wird und seine Virulenz verliert. Es kann aber auch sein, dass in diesem Raum selber Themen wie Tod, Destruktion und Verlust (der Puppen) aktiv inszeniert werden als ein Versuch, sich in einer anderen Form mit den eigenen Traumen und schwer erträglichen Erfahrungen auseinanderzusetzen, sie durchzuarbeiten oder zu kompensieren.

Puppen als kindliche Übergangsobjekte in Kriegs- und Fluchtkontexten

In der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Situation der Kinder, die das Umfeld des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, sowohl bildlich als auch im Rahmen erster Bestandsaufnahmen recht gut dokumentiert worden. Mit Beginn der 1950er Jahre, in der Zeit des Wiederaufbaus und ‚Wirtschaftswunders‘, folgte dann aber eine lange Phase des Beschweigens dieser Erfahrungen und ihrer möglichen Folgen im weiteren Lebensverlauf (vgl. Fooken 2006). Erst im Zuge ihres Älterwerdens begannen viele der Betroffenen, ihre Erlebnisse zum ersten Mal in Worte zu fassen (vgl. Radebold, Heuft u. Fooken 2006). Puppen und Kuscheltiere werden dabei nicht durchgängig erwähnt. Wird aber von ihnen berichtet, kommt ihnen fast immer ein besonderer Stellenwert zu. Im Folgenden geht es um einige solcher Erfahrungsberichte und Bilder, in denen die Bedeutung und Funktion von Puppen als Übergangsobjekte deutlich werden.

Puppen als Zeugen von Kindern in Todeslagern

In diesen Zusammenhang gehören die Bilder von aufgehäuften Puppen neben den Krematorien, die nach der Befreiung der Vernichtungslager aufgenommen wurden (vgl. Aroneanu 1947) und eines der verstörendsten Zeugnisse aus der Zeit des nationalsozialistischen Terrors darstellen. Dieser achtlos entsorgte Puppenhaufen erzeugt eine schwer erträgliche Aura der Präsenz der ermordeten Kinder, denen die Puppen gehörten, und wirkt gleichzeitig, angesichts des ‚Überlebens‘ der Puppen und der Auslöschung der Kinder, wie eine doppelt makabre Verhöhnung der Vernichtung kindlichen Lebens. Sie erzählen dabei aber auch Geschichten von der Hoffnung jüdischer Kinder, die ihre Puppen als Gefährten bei der Deportation in die Todeslager mitnahmen – möglicherweise als Versuch, mit der Puppe als Übergangsobjekt die Verbindung zur vormals intakten und vertrauten Welt zu bewahren oder sich von der Unerträglichkeit der Situation abzulenken oder sich zu beruhigen, zu trösten und die Puppe – und damit sich selbst – zu schützen. So stellt Anne D. Peiter in einer einfühlsamen, sich den möglichen Empfindungen der deportierten Kinder annähernden Rekonstruktion fest, dass Kinder die Gefahren ihrer zusammenbrechenden Welt oft besser antizipierten als die Erwachsenen. Aber: „Auch die Kinder brauchten einen verlässlichen Orientierungsrahmen, und wenn es diesen nicht mehr gab, dann suchten sie nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten: eine Puppe zum Beispiel“ (Peiter 2014, 239). Die Realisierung sowohl des Verlustes ihrer vormals vertrauten Normalität als auch der Unfähigkeit ihrer Bezugspersonen, damit umzugehen, ermöglichte es manchen Kindern mit der Wahl einer Puppe als Übergangsobjekt, kurzfristig psychische Sicherheit und partielle Handlungsfähigkeit herzustellen – auch wenn das letztlich nur einen kurzen Aufschub der eigenen Vernichtung bedeutete.

Puppen als geopferte und preisgegebene Übergangsobjekte

Ruth Barnett, 1935 in Berlin als Kind eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter geboren, wurde 1939 zusammen mit ihrem drei Jahre älteren Bruder Martin nach England evakuiert – eine Reise, auf der ihre Mutter sie zunächst begleitete und auch die Puppe Christine mitgenommen wurde (vgl. Abbildung 1)2.

Abbildung 1: Ruth Barnett mit Puppe

Abbildung 1: Ruth Barnett mit Puppe Christine in Berlin (ca. 1938). Copyright: Ruth Barnett.

Der Puppe war auf dem Transport – ohne Wissen der kleinen Ruth – von der Mutter eine bestimmte Rolle zugedacht (Barnett 2010). Ruth Barnetts Autobiographie entpuppt sich als eine Geschichte von Trennung, Verlust und allmählicher Heilung, von einer mühsamen und sperrigen Suche nach der eigenen Identität. In drei Episoden kommen Puppen eine besondere Bedeutung zu im Sinne eines Übergangsobjekts der besonderen Art. Ohne zu realisieren, was es mit der Abreise aus Berlin mit dem Zug und der sich anschließenden, in Folge heftiger Seekrankheit als qualvoll erlebten Schiffpassage wirklich auf sich hat, spürt das Kind Ruth die hochgradige Verunsicherung und unausgesprochen Trauer der Mutter. Psychische Sicherheit vermitteln in dieser Situation allenfalls die Anwesenheit des Bruders und die vertraute Puppe Christine.
Erst als Erwachsene, in der Retrospektive auf das damalige Geschehen bei der Einreise nach England, erkennt Ruth Barnett, dass ihre Mutter die Liebe der Tochter zur Puppe einkalkuliert hatte, um den Zoll zu überlisten und Schmuckstücke nach England zu schmuggeln. Die Puppe, für die Tochter ein Übergangsobjekt, das vor allem die Mutter nach der endgültigen späteren Trennung zunächst repräsentieren wird, ist in ‚verdächtig‘ viele Kleiderschichten eingepackt worden und wird – so erfährt es Ruth Barnett viel später nach dem Krieg – von der Mutter gezielt eingesetzt, um den Zoll auf eine falsche Fährte zu locken. Trotz großen Protestgeschreis der kleinen Ruth muss die Puppe zunächst völlig entkleidet und nach ihrer offenkundigen ‚Unschuld‘ wieder vollständig angezogen werden. Das zeitraubende Manöver erfüllt seinen Zweck und der Zöllner winkt die kleine Familie und ihre beiden Koffer entnervt und ohne weitere gründliche Kontrollen durch. Die Puppe hat damit wahrscheinlich auch dem Vater das Leben gerettet, denn Ruth Barnett geht davon aus, dass der geschmuggelte Schmuck dessen lebensrettende Ausreise nach China finanziert hat. Aber, fast so als ob die Puppe Christine durch diese Zweckentfremdung‚ beschädigt’ wurde, überlebt sie ihre Ankunft in England nur kurze Zeit. Als der Bruder Martin mit ihr spielt, fällt der Kopf ab und die englische Pflegemutter wirft sie in den Müll. Ruth ist in heller Aufregung, möchte sie zur Wiederherstellung in die Puppen-Klinik bringen, kann aber nicht genug Englisch, um sich zu artikulieren, und Deutsch zu sprechen ist verboten. In der Retrospektive, nach der Tätigkeit als Lehrerin und Psychotherapeutin, deutet Ruth Barnett ihre damalige Untröstlichkeit als Ausdruck der Tatsache, dass damit die letzte Verbindung zur Mutter wie Abfall entsorgt wurde und ihr das Gefühl gab, selber wertloser Abfall zu sein.
Während der weiteren Odyssee der Kronitzer-Kinder durch englische Pflegefamilien und Heime spielt vier Jahre später noch einmal der Verlust bzw. die ‚Opferung‘ einer (Lumpen-)Puppe, eine wichtige Rolle, diesmal für das Überleben des Bruders. Untergebracht in einem verwahrlosten Kinderheim für heimatlose Kinder, weitgehend ohne Aufsicht von Erwachsenen und sich selbst überlassen, erkrankt Martin an Hepatitis, ohne dass ärztliche Hilfe verfügbar ist. Im Fieberzustand erzählt er Ruth, dass er – gemäß dem englischen Spruch „an apple a day keeps the doctor away“ – jeden Tag einen Apfel essen müsse. Ruth, die sich bislang immer am starken älteren Bruder orientiert hat, irrt verzweifelt auf der Straße umher, spürt aber, dass es nun an ihr ist, den Bruder zu retten. So verkauft sie schließlich ihre Puppe an eine Frau mit Kinderwagen. Von den wenigen Pennies kauft sie einen Sack Äpfel und Martin kann nun täglich einen Apfel essen. Ruth Barnett kommentiert in ihrer Autobiographie, dass es wohl weniger die Äpfel waren als sein Glaube an deren Heilkraft, der die allmähliche Genesung ermöglicht hat.
Dennoch entwickelt sich ein zweites Mal im Kontext von Puppen ein Narrativ, in dem es wiederum um die Preisgabe einer Puppe geht, um ihren Verlust und die Trennung von ihr als Voraussetzung für das Überleben der beiden Kronitzer-Kinder. So scheinen die Puppenschicksale zwischen Identifikation und Loslösung in gewisser Weise auch den Prozess der Selbstfindung von Ruth Barnett zu symbolisieren. Als sie nach dem Krieg von den überlebenden Eltern in England wiedergefunden wird, versucht sie, sich einer Rückkehr nach Deutschland und zu ihrer Familie zu widersetzen. Sie wird zunächst von den Eltern gezwungen, England zu verlassen, fühlt sich in Deutschland aber völlig heimat- und orientierungslos. Sie hat das Gefühl, sie muss die Eltern preisgeben und sich von ihnen trennen, um psychisch überleben zu können. Schließlich lassen die Eltern sie ‚frei‘. Sie kann nach England, in die von ihr gewählte Heimat, zurückgehen und ihre Suche nach Identität und Zugehörigkeit fortsetzen. Am Ende, im Alter, hat sie sich mit den Eltern, vor allem mit der Mutter, innerlich versöhnt.

Puppen als Objekte der Fürsorge in Zeiten existenzieller Not und Bedrohung

Der soziale Verlust von Bezugspersonen und der vertrauten Umgebung, die Erfahrung von Flucht, lebensbedrohlichen Bombardierungen, Zerstörung, Gewalt – all diese kriegsbezogenen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs belasteten und traumatisierten unendlich viele Kinder in Europa. Kriegsfotografen wie Robert Capa und David Seymour („Chim“) haben die Not und Verlorenheit der vielen, oft elternlosen Kinder in dieser Zeit eingefangen. So reiste Seymour für die UNESCO nach dem Krieg in zahlreiche Länder, um die Notsituation von Kindern zu dokumentieren (Seymour 1949). Unter den Kinder-Portraits finden sich eine Reihe von Bildern, auf denen die Kinder nichts mehr als nur eine Puppe halten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Children Playing with a Broken Doll

Abbildung 2: David Seymour: Children Playing with a Broken Doll, Naples, Italy, 1948; copyright: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus.

Die beiden dicht aneinander sitzenden Waisenmädchen aus dem griechischen Bürgerkrieg, von denen eines einen Puppentorso ohne Kopf versunken-zärtlich an sich drückt, wurden von Seymour 1948 in Neapel fotografiert. In seinem Kommentar zu dem Buch für die UNESCO schreibt er:

I would like to speak a liitle about myself, but mainly about the 13,000,000 abandoned children in Europe who had their first experiences of life in an atmosphere of death and destruction, and who passed their first years in underground shelters, bombed streets, ghettoes set on fire, refugee trains and concentration camps. The survivors have grown up in a world of fear – not the healthy fear which a young savage has of the river he must cross, or of the wild animal he must kill – but the fear instilled by men who kill. [...] Those who were born during the war never knew what had existed before. For them the only escape from misery was to dream of a kind princess, who, with a wave of her wand, could give them good food, beds to sleep in, allow them to play and shout and give them a mother and a father (Seymour 1949, 5f.).

Symbolisiert die zerstörte Puppe zum einen die zerstörte, aufgelöste, „kopflose“ Lebenswelt der Kinder und den Verlust jeglicher intakten Normalität, so berührend wirkt andererseits die innigliche Geste der Fürsorge und des Trostes, die das Mädchen der Puppe gegenüber ausdrückt. Psychische Sicherheit, die die Kinder verloren oder möglicherweise nie erfahren haben, scheinen sie für die beschädigte Puppe nun selber zu schaffen – diese anrührende Geste verweist auf eine erstaunliche psychische Kraft in all dem Elend um sie herum. So wie es im Spiel möglich ist, gelingt ihnen hier eine Transformation der bedrückenden Realitätsebene in eine andere Sphäre, in der Zuwendung und Anteilnahme gezeigt werden können. Es scheint so, als ob die Sorge der beiden Kinder um die Puppe ihnen ein wenig von dem Trost, den sie spenden, an sie selber zurück gibt. So sind sie nicht nur Opfer, sondern geben Hilfe und Unterstützung für ‚jemanden‘, dem es noch schlechter geht. Auch diese Puppe ist in gewisser Weise ein gewähltes Übergangsobjekt. Nur ist es eins, das keine verloren gegangene heile Welt repräsentiert, sondern ein Objekt, das eine Verbindung zu einer wie auch immer gearteten Zukunft herstellt. Gerade weil Menschen und Puppen auf einer tiefen und archaischen kollektiv-kulturellen Ebene seit Menschengedenken so eng miteinander verbunden sind, gelingt es durch diese Form des Kinderspiels, ähnlich wie es auch innerhalb der Kunst möglich ist, ein Narrativ der Hoffnung zu entwickeln, das der allgegenwärtigen Destruktion ein Stück Humanität und menschliches Potenzial entgegensetzt.

Die Bedeutung von Puppen als einem Objekt, das Aufmerksamkeit und Zuwendung bindet und es damit ermöglicht, den Zusammenbruch vertrauter sozialer und physisch-materieller Strukturen auszublenden, wird auch in anderen Zeugnissen von kindlichen Kriegserfahrungen thematisiert. In einer ARD-Produktion über Kriegskinder berichtet eine Zeitzeugin, Jahrgang 1934, dass sie beim Bombenalarm auf ihre Heimatstadt nicht zuerst nach ihren jüngeren Geschwistern griff, die sie „doch wirklich lieb hatte“, sondern instinktiv nach ihrer Lieblingspuppe (ARD 2009). Zumeist sind es Frauen, die aus der Retrospektive des Alters die Worte finden, die ihnen als Kinder gefehlt haben oder nicht zugestanden wurden, um ihrer Not Ausdruck zu verleihen und ihre Erfahrungen mit Puppen in verbale Narrative einzubinden. So finden sich bei ihnen im Alter oft Puppen in Vitrinen, auf Sesseln und Sofas, stumme und dennoch beredte Zeitzeugen kindlicher Not, Sehnsüchte und Hoffnungen. In verschiedenen Studien und Dokumentationen über die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs wurde zwar fast nie nach Puppen oder Trostobjekten gefragt, aber oft von ihnen berichtet, wenn man den narrativen Bedürfnissen der Befragten Zeit und Raum gab. In der Filmdokumentation „Brandwunden“ über die fatale Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 (‚Hamburger Feuersturm‘) hat der Filmemacher Andreas Fischer (2009) Zeitzeugen befragt, die als Kinder dieses Inferno überlebt haben. Fast alle der befragten Frauen berichten darin über ihre Verantwortung, die sie damals für ihre Puppe(n) empfunden haben. Vor allem für eine der Befragten war der Schutz der Puppe ganz zentral mit dem Gefühl verbunden, nur zusammen mit ihr überleben zu können. Während sie in der Dokumentation davon berichtet, sitzt die Puppe auf ihrem Schoß – ein Bild untrennbarer Verbundenheit (vgl. Abbildung 3):

Abbildung 3: Zeitzeugin des „Hamburger Feuersturms“

Abbildung 3: Frau H. W., Zeitzeugin des „Hamburger Feuersturms“ aus dem Film „Brandwunden“ von Andreas Fischer (2009), screen shot / Materialien NDR, ausgestrahlt am 14. Juli 2009.

Meine Puppen, die habe ich immer als erstes gegriffen, wenn es in den Keller ging. [...] Meine Puppen, das war ja meine Kinder, in meinem Koffer war nur Puppenzeug, das war für mich ja das Wichtigste [...]. Und als wir da rauskamen [aus dem brennenden Keller, I.F.], meine Mutter hatte in der einen Hand den Koffer, an der anderen mich, ich hatte meine Puppe im Arm und schrie nur noch ‚ich will nicht‘[...]. (H. W., Jahrgang 1937, in Fischer 2009).

Die Existenz der Puppe ‚bezeugt‘ ihrer beider ‚Biographien‘. Mit ihr hat sie eine der wichtigsten Erfahrungen ihres Lebens geteilt – das gemeinsame Überleben aus einer scheinbar ausweglosen Katastrophe. In ihrer Funktion als Übergangsobjekt wird diese Puppe Zeit ihres Puppenlebens davon das Narrativ des geteilten Leids und der Verbundenheit auf ‚Gedeih und Verderb‘ erzählen. Die Sorge um die Puppe half der ‚Puppenmutter‘ als Kind, über sich hinauszuwachsen und Verantwortung zu übernehmen. Umgekehrt war und ist die Puppe Trostspenderin. So ist sie auch nie ‚entsorgt‘ worden, sondern Teil dieser Mensch- Puppen-Symbiose geblieben – im Lebensverlauf und auch im Alter.

Puppen als Kompensation von Verlusterfahrungen

In einem anderen Projekt zu Kriegskindern, in dem es um kriegsbedingt vaterlose Töchter ging, spielten Puppen vor allem im Zusammenhang mit Fluchterfahrungen und der Sehnsucht nach dem verlorenen Vater bei manchen der Frauen eine eminent wichtige Rolle (Fooken 2013). Die Puppe als Übergangsobjekt bewahrt dabei die Verbindung zum – idealisierten – verlorenen Vater. Sie ist es, die oft das letzte Bild an den geliebten Vater ‚validiert‘, der zumeist als ungewöhnlich liebevoll zugewandter Mann erinnert wird. So beschreibt eine damals 70-jährige Teilnehmerin des Projekts (Frau A. S.) zu kriegsbedingter Vaterlosigkeit die Situation:

[…] Mein Vater sagte mir, dass wir eine ganz weite Reise machen müssen und nicht wiederkommen können. Ich könnte deshalb auch nur eine Puppe mitnehmen, die ich selber tragen müsse. Mein Vater hatte die ‚Nanni‘, eine sperrige Celluloid- Puppe (Schildkröt) in der Hand und eine weiche Babypuppe in der anderen Hand. Ich wusste so schnell nicht, welche ich wählen sollte. Ich schaute meinen Vater an […]. Er sagte nichts, aber ich sah, dass seine Augen unendlich traurig waren. Ich wollte lieb zu ihm sein und dachte blitzschnell, dass die etwas sperrige Puppe ein Geschenk von ihm für mich […] war. Schnell wählte ich die ‚Nanni‘ zum Mitnehmen, weil ich glaubte, dass ich ihm damit eine Freude machen könnte (vgl. Stambolis u. Fooken 2011).

Auch eine andere Teilnehmerin (Frau K. H.), Jahrgang 1938, fügte ihren Unterlagen ein Bild von sich im Alter von drei Jahren bei, auf dem sie mit ihrer Puppe beim Vater auf dem Schoß sitzt. Sie hat den Vater danach nicht mehr wiedergesehen und keine bewussten Erinnerungen an ihn. Bis 1963, als die Umstände seinesTodes im Jahr 1945 geklärt wurden, galt er als 3.

Die Puppe habe ich, soviel ich weiß, zu meinem dritten Geburtstag bekommen, und von Stund’ an waren meine Sabine und ich unzertrennlich. Meine Mutter hatte ihr ein lachsfarbenes Kleid gehäkelt, eine genaue Nachbildung des Kleides, das sie mir zu meinem ersten Geburtstag angefertigt hatte. Irgendwie hat mich diese Gemeinsamkeit damals ganz besonders berührt. [...] Diese Sabine durfte ich auf die Flucht mitnehmen (da war ich gerade sechs geworden), was ein großer Trost für mich war. Ich glaube wirklich, dass ich mit ihrer Hilfe das alles so gut verkraftet habe. Gespielt habe ich mit ihr meine ganze Kindheit hindurch, habe ihr alle meine Kümmernisse erzählt und habe sie sogar bei meiner Zugfahrt von der ländlichen Gegend in Norddeutschland, wo ich aufgewachsen bin, nach A. in Süddeutschland, wo wir 1952 hinzogen, auf dem Arm mitgenommen. Seltsamerweise war mir das kein bisschen peinlich - und immerhin war ich fast 14!

Die Puppe zog nach der Eheschließung noch in den „gemeinsamen Haushalt“, aber nachdem das Schicksal des Vaters geklärt war und die eigenen Kinder geboren wurden, verliert sich ihre Spur: „Sabine, die Arme, hatte damit ausgedient“. Erst später spielen Puppen emotional wieder eine wichtige Rolle. Einige sind mit in die Senioreneinrichtung umgezogen „und sitzen nun brav im Regal in meinem Schlafzimmer“. Der zweite Ehemann hat „ein Puppenhaus mit sechs Zimmern gebaut, ‚weil du doch als Kind so etwas nicht hattest‘ [...]. Und dieses von mir sehr geliebte Teil kam auch mit und steht nun ganz zentral in meinem Wohnzimmer“. Die Puppen sind in diesem Fall wiederum gewählte Übergangsobjekte, die im Alter eine nachträgliche Heilung schaffen. Sie stellen eine Verbindung zu dem damals zutiefst einsamen Kind her und ermöglichen ein Stück der Trauerarbeit, die dem kleinen Mädchen damals von Mutter und sozialer Umwelt nicht zugestanden wurde.

Fazit: Nicht jede, aber manche Puppe wirkt als hilfreiches Übergangsobjekt in Bedrohungskontexten

Übergangsobjekte gibt es nicht ‚an sich‘, sondern sie werden in ihrer spezifischen Übergangsfunktion, zum Beispiel in Übergangssituationen wie Trennungen oder bei existenziell bedrohlichen Verlusten, ‚entdeckt‘ bzw. gewählt und mit spezifischen innerseelischen Erfahrungen verknüpft. Es gibt in diesem Sinne keine a priori ‚richtige‘ oder ‚gute‘ Puppe als Übergangsobjekt. Wird eine Puppe als solches gewählt, entsteht eine innere Beziehung zu ihr oder besser noch: mit ihr. Erst damit erweist sie sich als ‚gut‘ oder ‚richtig‘. Alle Puppentypen können diese Funktion übernehmen: Baybpuppen, Monsterpuppen, Barbiepuppen etc. Voraussetzung für eine solche Wahl ist die Fähigkeit zur Symbolbildung. Kinder (und auch Menschen jenseits des Kindesalters) müssen dabei in der Lage sein, zwischen „Phantasie und Fakten, zwischen inneren und äußeren Objekten [...] zu unterscheiden“ (Winnicott 1973, 11). Sie müssen sich damit auch auf den ambiguen Charakter sowie auf die Widersprüchlichkeit solcher Situationen und den damit verbundenen Ambivalenzen einlassen können. Wird hier eine Puppe als Übergangsobjekt gewählt, stellt sie in der Regel eine besondere Projektionsfläche dar – zum einen für eigene psychische Anteile, zum anderen aber auch für seelische Merkmale abwesender, vermisster Personen oder erwünschter bzw. ersehnter Situationen. Dabei können unterschiedliche Puppen durchaus ähnlich funktional als Übergangsobjekt sein, wie auch die gleiche Puppe, je nach Kontext und Kind, unterschiedlich funktional sein kann.
Ähnliches gilt auch für Kuscheltiere im Sinne puppenaffiner Objekte. Auch sie wirken nicht ‚automatisch‘ als Trostspender und Übergangsobjekte, sondern müssten zunächst erst einmal symbolisch besetzt und gewählt werden. Insofern erscheint es wenig sinnvoll, wenn traumatisierte Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen von Außenstehenden, die es ‚gut meinen‘, mit Kuscheltieren förmlich überschwemmt werden4. Auch wenn es irritierend sein mag, dass manche Hilfeeinrichtung nicht generell nach Puppen fragt, sondern um Barbiepuppen als Spende bittet, hängt das mit bestimmten Erfahrungswerten zusammen: Gerade Barbiepuppen mit ihrer unrealistisch idealisierten Ausstrahlung stehen in einem maximalen Kontrast zur desaströsen realen Lebenswelt der Kinder und können genau damit zeitweise eine zentrale Übergangsfunktion erfüllen. So beschreibt der portugiesische Pädagoge Manuel Jacinto Sarmento5 unter der Überschrift ‚Kriegsspiele‘ ein Foto in einem albanischen Flüchtlingslager im Kosovo, das zwei Mädchen beim intensiven Spielen mit einer Barbiepuppe zeigt. Im Gegensatz zu ihrer desolaten Umgebung mit eher passiv-resignativen Erwachsenen, nimmt er die in dieser Situation gezeigte Kreativität und Fantasie der Kinder als ein Potenzial ihrer ‚Kinderkultur‘ wahr. Sie befreien sich von der Hoffnungslosigkeit ihrer Umgebung, um selbst „unter widrigsten Bedingungen durch Fiktion und Spiel eine andere Welt zu schaffen“ (Sarmento o.J., 1) und mit der „Erfahrung extremster Situationen im Spiel und durch die imaginäre Konstruktion von Lebenskontexten“ (ebd., 2) sich der rationalen Logik der Erwachsenen zu widersetzen.
In diesem Zusammenhang lässt sich auch ein Foto der deutschen Kriegsfotografin Anja Niedringhaus (2014) deuten. Es zeigt einen amerikanischen Soldaten in Afghanistan, der sich auf seinen Rücken eine ‚GI Joe Puppe‘6 als Talisman (und Schutzschild) geschnallt hat (vgl. Abbildung 4).

Abbildung 2 (weiblicher Akt)

Abbildung 4: Anja Niedringhaus (Fotografin, Pulitzer Prize Winner): Amerikanischer Marineinfanterist der 1. Division mit GI Joe Puppe, Falludscha, Irak 2004. Copyright: Picture alliance / AP.

Auch diese Puppe fungiert in gewisser Weise als ein Übergangsobjekt, das in einem extrem bedrohlichen, militärisch-männlich konnotierten Übergangsraum den Traum und das Narrativ männlicher Unverwundbarkeit magisch beschwört und damit – jenseits aller Rationalität – so etwas wie Kontrollerleben, Hoffnung, Zugehörigkeit und Verbundenheit ermöglicht. In gewisser Weise dokumentiert dieses Bild zum einen so etwas wie die ‚Krise der Männlichkeit‘ und hebt die damit verbundene Bedrohung von Identität und Selbstwert zum anderen gleichzeitig wieder auf. Mit dieser Puppe gelingt es, an die magische Welt der Abenteuer und Fantasien von wild spielenden kleinen Jungen anzuknüpfen.
Als letztes Beispiel soll eine wiederum ganz andere Konstellation der Bedeutung von Puppen als Übergangsobjekt im Kontext von Krieg, Flucht und Bedrohung kurz skizziert werden. Im Projekt eines Schweizer Kindergartens mit Flüchtlingskindern aus dem Kosovo (vgl. Burri-Fey 2002) gelang es, den traumatisierten Kindern in einem gestuften Vorgehen mit zwei unterschiedliche Arten von Puppen ein Stück psychische Sicherheit zu geben. So wurde zunächst die Handpuppe Lukas als wichtiges Medium bei einem täglich wiederholten Ritual eingesetzt, ummögliche Gefühle und Stimmungen der Kinder anzusprechen. Lukas, der im Kindergarten ‚wohnt‘, erzählte von Stimmungsschwankungen, Ambivalenzgefühlen und kindlichen Malheurs, um den Kindern spielerisch deutlich zu machen, dass man über inneres Erleben sprechen kann. In einem zweiten Schritt stellte jedes Kind eine eigene Stoffpuppe her, die ein kleines Herz besaß und ‚Beba‘ (Baby) genannt wurde. Die Bebas schliefen bei Lukas, wurden morgens vorsichtig von den Kindern geweckt und abgehorcht, um zu hören, ob ihr Herz noch schlägt. Die Bebas waren sowohl beim Ritual des Erzählens von nächtlichen Träumen und Ängsten dabei, als auch tagsüber beim Spiel im Freien. Über die Identifikation mit diesen Puppen gelang es allmählich, ein Klima des Vertrauens herzustellen, in dem die Kinder wichtige Entwicklungsschritte machen konnten und Wege in eine Form der Normalisierung fanden.
Abschließend kann man zur Wirkung von Puppen im Fall von kriegsbedingten Belastungen und Traumatisierungen sagen, dass sie nicht generell und standardmäßig als Allheilmittel einsetzbar sind. Stimmt aber – temporär oder dauerhaft – die emotionale Passung und Beziehung zwischen Puppe und Kind/Mensch, können sie als ein Übergangsobjekt der besonderen Art in ungewöhnlicher Weise tröstlich und therapeutisch wirksam sein. So verweisen die hier skizzierten Fallgeschichten darauf, dass sich Puppen in Kriegs- und Fluchtzeiten als erstaunliche Ko-Therapeutinnen und verlässliche Gefährtinnen ‚entpuppen‘ können. Selbst dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden und losgelassen werden, ist das oft ein Zeichen für die Bereitschaft und Offenheit, sich auf Zukunft und neue Entwicklungsschritte einzulassen.


[1] Der Begriiff ‚puppifizieren‘ ist eine Übersetzung der von Ellis und Hall (1887, 46) verwendeten Bezeichnung „dollify“ (vgl. Fooken, 2012, 93).

[2] Die Lebensgeschichte von Ruth Kronitzer, später Barnett, sowie die Geschichte ihrer Familie liegt dem Roman „Landgericht“ von Ursula Krechel (2012) zu Grunde. Ruth Barnett ist im Roman die Tochter „Selma“. Während zwei der im Folgenden geschilderten ‚Puppenepisoden‘ dem autobiographischen Buch von Ruth Barnett entnommen wurden, stammen die Informationen zum ‚Schicksal‘ der Puppe Christine sowie einige Angaben zur zweiten Puppe aus persönlichen Mitteilungen im Rahmen einer Email-Korrespondenz zwischen Ruth Barnett und mir (I.F.) zwischen 19.-22. Juli 2017.

[3] Die folgenden Informationen stammen aus einer persönlichen Korrespondenz mit Frau K. H. über das ‚Puppenthema‘, die nach Abschluss des Projekts im November 2013 geführt wurde.

[4] Wie es bei der Ankunft der Flüchtlingszüge aus Ungarn auf dem Münchner Hauptbahnhof zu beobachten war.

[5] Eigene Übersetzung der folgenden Zitate aus dem Portugiesischen.

[6] Die G.I. Joe Puppe ist eine Action-Figur, die 1964 von der US-amerikanischen Spielzeugfirma Hasbro den Beginn einer Action-Figuren-Serie einläutete.Abbildung 4: Anja Niedringhaus (Fotografin, Pulitzer Prize Winner): Amerikanischer Marineinfanterist der 1. Division mit GI Joe Puppe, Falludscha, Irak 2004. Copyright: Picture alliance / AP.


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Abbildungsnachweise

Abbildung 1: Ruth Barnett mit Puppe Christine in Berlin; copyright Ruth Barnett, Persönliche schriftliche Abdruckgenehmigung von Frau Barnett am 19.07.2017.

Abbildung 2: David Seymour: Children Playing with a Broken Doll, Naples, Italy, 1948; Bildnachweis: David Seymour / Magnum Photos / Agentur Focus.

Abbildung 3: Frau H. W., Zeitzeugin des „Hamburger Feuersturms“ aus dem Film „Brandwunden“ von Andreas Fischer (2009); copyright NDR.

Abbildung 4: Anja Niedringhaus (Fotografin, Pulitzer Prize Winner): Amerikanischer Marineinfanterist der 1. Division mit GI Joe Puppe, Falludscha, Irak, November 2004. Bildnachweis: Picture alliance / AP.



Über die Autorin / About the Author

Insa Fooken

Studium der Psychologie (Hauptfach), Soziologie, Pädagogik, Ethologie, Psychopathologie; klinisch-psychologische Tätigkeit; Promotion an der Universität Bonn 1980; 1992-2013 Professur für Entwicklungspsychologie (der Lebensspanne) an der Universität Siegen; seit 2014/15 Senior-Professorin am FB Erziehungswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt a. M.; Forschungsschwerpunkte u. a.: Kriegskinder im Alter; Resilienz; Bedeutung von Puppen.

Insa Fooken

Korrespondenz-Adresse / correspondence address:

fooken@psychologie.uni-siegen.de