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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.2 Nr.1 (2019) | Rubrik: Fokus


Das Shapie als Miniaturego. Anthropologische Annäherungen an ein neues Phänomen

Juliane Noack Napoles / Jörg Zirfas



Focus: puppen als miniaturen – mehr als klein
Focus: dolls/puppets as miniatures – more than small



Abstract:
Bei Shapies handelt es sich um Ministatuen von sich selbst, anderen Menschen oder (Haus)Tieren aus einem 3D-Drucker, auf der Basis eines hochauflösenden Körperscans. Im Unterschied zum Selfie hat das Shapie noch keine massenmediale Verbreitung erfahren, sodass auch die (wissenschaftliche) Literatur zu diesem Phänomen sehr überschaubar ist. Wir möchten daher mit unserem Aufsatz einen ersten Vorschlag zur Interpretation der Shapies leisten. Geleitet von dem Statement eines Shapie-Käufers: ‚Das eigene Ich in den Händen zu halten als naturgetreues Miniaturmodell – ist faszinierend‘, werden drei darin zum Ausdruck kommende Perspektiven fokussiert: (1) Shapies als naturgetreue Miniaturmodelle des eigenen Ichs; (2) Das eigene Ich in Händen halten und (3) das Shapie als Faszinosum.

Schlagworte: Shapie; Miniaturmodell des eigenen Ichs; Doppelgänger

Abstract:
Shapies are miniature statues of oneself, other humans or (domestic) animals from a 3D printer, based on a high-resolution body scan. In contrast to selfies, shapies have not yet experienced mass media distribution, so that the (scientific) literature on this phenomenon is very sparse. Therefore, we would like to make a first proposal for the interpretation of the shapies with our essay. This interpretation is furthermore guided by the following statement of a Shapie buyer: ‘To hold one's own ego in the hands as a lifelike miniature model - is fascinating’. In this article we focus three perspectives expressed in the cited statement: (1) Shapies as lifelike miniature models of the own Ego; (2) holding in our hands the own Ego and (3) the fascination of shapies.

Keywords: Shapie, Miniature Model of the Own Ego, ‘Doubles’

Zitationsvorschlag: Napoles, J. N.; Zirfas, J. Das Shapie Als Miniaturego. Anthropologische Annäherungen an Ein Neues Phänomen. de:do 2020, 2, 64-71. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Copyright: Juliane Noack Napoles. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Veröffentlicht am: 02.09.2019

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„Das eigene Ich in den Händen zu halten als naturgetreues Miniaturmodell – ist faszinierend“ (Jean Pierre Kraemer 2019, Käufer eines Shapies)

Abbildung 1 (Portrait)

Abbildung 1: 3D Portrait – Einzelfigur; Quelle (mit freundlicher Genehmigung): https://www.pocketsizeme.ch

Einleitung: Vom Selfie zum Shapie als Ego-Programm?

Bei Shapies handelt es sich um Ministatuen von sich selbst, anderen Menschen oder (Haus) Tieren aus einem 3D-Drucker, auf der Basis eines hochauflösenden Körperscans, der inzwischen von mehreren Firmen angeboten wird. Wir haben es dabei mit einem neuen Phänomen zu tun, das bis Anfang 2019 noch keinen Eintrag in Wikipedia erfahren hat. So heißt es 2015 in einem Artikel auf Ingenieur.de, dass nach dem Selfie das Shapie komme und man sich diesen Begriff schon mal merken solle (v. Schoenebeck 2015). Ein Jahr später wird in einem Artikel in der Süddeutschen gefragt: Warum die Familie fotografieren, wenn man sie sich ins Regal stellen kann? Darüber hinaus wird von Miniatur-Doppelgängern aus dem 3D-Drucker berichtet (Goetsch 2016). Dieser Artikel ist der erste Text, der über eine Beschreibung des Herstellungsprozesses oder einer Auflistung diverser Körperscan Firmen hinaus eine Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung als Ergebnis der Kombination von Ganzkörperscan und 3D-Druck zumindest anstößt. Das Fazit: „Man sieht schon: Die Sache mit den kleinen Figuren ist gar nicht so unkompliziert. Und sie wird eher noch komplizierter, wenn der menschliche Körper künftig noch lebensechter aus dem 3-D-Drucker kommt“ (ebd.) (vgl. Abbildungen 1 und 2).

Abbildung 2 (Figurengruppe)

Abbildung 2: 3D Portraits – Figurengruppe; Quelle (mit freundlicher Genehmigung): https://www.pocketsizeme.ch

Im Unterschied zum Selfie hat das Shapie noch keine massenmediale Verbreitung erfahren. Auch die Literatur zu diesem Phänomen ist sehr überschaubar. Wir möchten daher mit unserem Aufsatz einen ersten Vorschlag zur Interpretation der Shapies leisten. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Shapies um ein relativ neues Phänomen handelt, dessen umfassende systematische und historische Einordnung und Analyse wohl noch aussteht, wollen wir uns diesem Phänomen entlang dreier anthropologisch, respektive identitätstheoretisch motivierter Gesichtspunkte nähern. Wir greifen dabei auf human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen zurück, die wir mit eigenen Überlegungen und Hypothesen zur europäischen Praxis-, Ideen- und Imaginationsgeschichte ergänzen. Dabei gehen wir – zugegebenermaßen – gelegentlich assoziativ, spekulativ und zuspitzend vor. Hiemit folgen wir Gaston Bachelard (1994, 157), der konstatiert: „Man muss über die Logik hinausgehen, um zu erleben, wieviel Großes im Kleinen Platz haben kann.“ Und wer diesen Schritt macht, wird erkennen, dass die Miniatur ein „Fundort der Größe“ ist, in dem die Dinge in einem dynamischen Ausmaß „dichter und rascher“ werden, weil sie „wimmeln“, „wachsen“ und „entweichen“ können (ebd., 162, 157, 161). Die großen Dinge entstehen dann aus den kleinen, wenn sich die Einbildungskraft von allen normativen Vorgaben befreit. Anders formuliert: Es sind die Miniaturen, an denen Menschen erfahren können, wie phantasievoll sie selbst sind und wie unendlich reich die Welt ist.

Zu diesen Zugängen führt uns die hermeneutische Auseinandersetzung mit folgendem – wie wir meinen symptomatischen – Statement eines Shapiekäufers: „Das eigene Ich in den Händen zu halten als naturgetreues Miniaturmodell – ist faszinierend“ (Jean Pierre 2019, Käufer eines Shapies). Dreierlei Perspektiven fallen in diesem Zitat auf: (1) Es findet eine Gleichsetzung von Shapie, naturgetreuem Miniaturmodell und eigenem Ich statt, wobei diese Form der Selbstdarstellung an die historisch weit zurückreichenden Traditionen der Selbstporträts und der Bildhauerei anknüpft, jedoch gleichzeitig deren jeweilige Spezifika verkehrt. (2) Das eigene Ich wird in den Händen gehalten, wodurch Fragen nach den solchen Vorstellungen zugrundeliegenden anthropologischen Annahmen und Implikationen provoziert werden. (3) Damit verbunden wird die bemerkenswerte, in einem ästhetischen Urteil mündende Feststellung des Shapie-Käufers, dass es sich dabei um ein Faszinosum handelt. Die folgenden Überlegungen werden entlang dieser drei Perspektivierungen strukturiert, wobei die letzte gleichsam zu einem Fazit führt, welches vor allem den eigenen Körper fokussiert.

Annäherungen an das Phänomen Shapie

Shapies als naturgetreue Miniaturmodelle des eigenen Ichs

Selbstporträts oder ‚Selfies‘ sind Kulturtechniken des Alltags und Selbstdarstellungen auf einer Fläche. In diesem Sinne gibt es über den Zusammenhang zwischen Selbstportrait/Selfie und Identität diverse Überlegungen und Abhandlungen (exemplarisch hierzu: Faulstich 2012, Parmentier 1997), wobei relativer Konsens darüber herrscht, dass das (Selbst-)Portrait zu Fragen nach ästhetischen Bezugsformen oder anthropologischen Konstanten einlädt. Gemäß idealistischer Vorstellungen ist ein Selbstporträt „das Resultat einer reflexiven Bewegung, in der das darstellende Ich all das, was es im Verlauf seiner bisherigen Biographie an Kompetenzen erworben hat, seine allgemeine Urteilskraft ebenso wie seine speziellen Fertigkeiten, einsetzt, um sich selbst in unterschiedlichen Situationen und zu wechselnden Anlässen darzustellen“ (Parmentier 1997, 721). Selfies fordern diese Definition ob ihrer technischen Herstellungsweise heraus, weil die zeitintensive Auseinandersetzung mit dem sich selbst porträtierenden Menschen zugunsten eines Knopfdruckes überflüssig wird. Die anschließende Entscheidung, welche Bilder gelöscht, gespeichert oder in den sozialen Medien veröffentlicht werden, ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst über das Medium der Bilder selbst. Beide Darstellungsformen verbindet die Virulenz der Fragen nach dem Körper und nach dem Bild (Preimesberger 1999).

Diese Fragen potenzieren und verkehren sich bezogen auf Shapies, weil es sich bei diesen 3-D-Porträts um die räumliche Darstellung von Körpern handelt. Als ästhetische Formung im Raum fallen sie unter die Kategorie der Statuen bzw. bezogen auf die bisher handelsübliche Größe von Shapies unter die der Statuetten oder Figurinen – miniaturisierte Körper. Beide, die sich lediglich hinsichtlich ihrer Größe unterscheiden, sind vollplastische Bildwerke und eine „three-dimensional representation usually of a person, animal, or mythical being that is produced by sculpturing, modeling, or casting“ (Merriam-Webster- Lexikon 2018). Wie auch bei Selbstporträts und Selfies sind es bei den Statuen und Shapies die Herstellungsweisen und die mit ihnen verbundenen Charakteristika, die diverse Fragen aufwerfen. Sowohl bei den Selfies als auch den Shapies wird das bisher händische Herstellungsverfahren durch ein maschinelles ersetzt und somit die Frage suspendiert, „wie wir mit unseren eigenen Händen die Welt, uns selbst und die Anderen – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen“ (Huber 2007, 19). Ins Zentrum rücken dabei die Auswirkungen eines solchen Herstellungsverfahrens, bei dem die ästhetische Umsetzung – zumal die Darstellung eines bestimmten Menschen – nicht mehr von einem Menschen, sondern einer Maschine realisiert wird. Eng verbunden mit den zyklischen Bewegungen von Maschinen ist die serialisierte industrielle Produktion (Beil, Engell, Schröter, Schwaab u. Wentz 2012) und die Idee, dass maschinell hergestellte Dinge fehlerfrei und – bezogen auf Nachbildungen bzw. Reproduktionen, vor allem serieller Art – perfektioniert seien. Hierin liegt die Vorstellung des Shapie-Käufers, ein naturgetreues Miniaturmodell (seines Ichs) in den Händen zu halten, begründet.

Anthropologisch betrachtet ist dies deshalb bedeutsam, weil ‚Zeichnen‘ – im Falle der Selbstporträts – und ‚Bildhauerei‘ – im Falle der Statuen – „als Begriffsbildung eine Form von Identitätsbildung und Weltbildung [ist]“ (Huber 2007, 24). Die Darstellung, besonders die, realer‘ Menschen, ist gerade keine bloße Nachbildung und bedeutet für den Darstellenden, auf Grund der handwerklichen Umsetzung, gleichsam die begreifende Durchdringung von Welt. Demzufolge werden „Selbstbild und Weltbild als eine Form handelnden Begreifens mit der Hand erzeugt. Welt und Selbst werden angeeignet“ (ebd.). Und bekanntlich kann man das am besten aneignen, was man selbst produziert hat – oder produzieren lässt. Das Shapie als Resultat eines Ganzkörperscans aus einem Drucker lässt sich als Fortführung des Selfies in einer weiteren, nämlich der dritten Dimension denken. Beiden ist gemein, dass sie in einer Black Box maschinenhaft entstanden sind, das heißt „ohne eigenen inneren trieb und ohne eigenwillen“ und bezogen auf die, für die Schaffung von Selbstporträts und Statuen erforderliche Reflexivität, „ohne eigenes denken“ (Deutsches Wörterbuch, o. J.). Was entsteht, sind Miniaturmodelle menschlicher Körper, die zwar einerseits einen starken Symbolgehalt aufweisen, andererseits gerade deshalb hochgradig allgemeingültig sind (Olbrich 2001). Interessanterweise spricht der Shapie-Käufer nicht davon, dass er ein naturgetreues Miniaturmodell von sich selbst in den Händen hält, sondern des eigenen Ichs.

Das eigene Ich in Händen halten

Wenn das Ich räumlich dargestellt wird, wird die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Shapie, Körper und Identität performativ virulent. Menschen können sich (als Shapie) nicht nur aus einem Blickwinkel sehen, sondern aus verschiedenen; sie können ,sich‘ beispielsweise auch berühren oder in verschiedene Situationen ,hineinversetzen‘. Manifestiert sich möglicherweise in Shapies eine mit dem performative turn verbundene Subjektivierungsform? Wenn ja, was charakterisiert sie? Bevor wir uns dieser Frage weiter unten zuwenden, werfen wir erneut einen Blick auf die ‚Hand‘, weil sie eine solche Subjektivierungsform überhaupt erst ermöglicht. Wörter wie Begreifen und Begriff verweisen darauf, dass den Menschen bereits seit Jahrtausenden intuitiv klar zu scheint, was Anthropologen und Evolutionsbiologen inzwischen belegen können: „Denken ist in seinem Entstehen durchaus eine körperliche Aktivität – oder zumindest spiel(t)en unsere hochentwickelten Greifwerkzeuge, die Hände, eine wichtige Rolle in der Erkenntnisgewinnung und Auseinandersetzung mit unserer (Um-)Welt“ (Knobel u. Marty 2008, 27). Die Hand als probates Mittel, um die dreidimensionale Welt zu begreifen, spielt deshalb eine herausragende Rolle für das Verständnis von Shapies, weil diese als Abbild bzw. Darstellung des eigenen Ichs einen Blick auf uns selbst ermöglichen, der uns sonst verborgen ist. Das Shapie als Miniatur meiner selbst erlaubt es, sich selbst als Objekt zu (er)fassen und zu (be)greifen, ohne unerreichbare blinde Flecken, die die Selbsterkenntnis für gewöhnlich vereiteln. Es steht für den Anspruch einer nicht austauschbaren, besonderen Form der Selbsterfahrung. Damit stellt sich die Frage: „Verstehen wir erst dann etwas, wenn wir es (im etymologischen Sinne) erfasst, begriffen oder gar in die Hand genommen haben, wenn wir es durch einen direkten Kontakt und viele eigene Erfahrungen in unser Verhalten integriert haben?“ (ebd., 30). Verfolgt man diese evolutionsbiologische Argumentation weiter und überträgt sie auf Statuen bzw. Shapies – aber auch auf Puppen im weitesten Sinne als Nachbildungen einer menschlichen Gestalt – führt das zu dem Schluss, dass erst die figürliche Darstellung des Menschen und deren Handhabung, dessen Selbstwahrnehmung bzw. auch Selbsterkenntnis überhaupt ermöglichen. Im Unterschied zum (zweidimensionalen) Bild, das seine Bestimmungskraft aus einer „Liaison mit dem Unbestimmten“ (Boehm 2004, 40) bezieht, scheint das Shapie – gerade in seiner Form eines miniaturisierten Egos – ein vollständiges Begreifen zu ermöglichen. Während die ikonische Sinnentstehung auf dem beruht, was nicht in den Blick kommt, weil es sonst anders gesehen werden könnte, zielt das Shapie auf ein vollkommenes Begreifen seiner selbst. Wenn Sehen immer auch Übersehen ist, so ist das In-die-Hand-Nehmen als Kombination von Sehen und Tasten der Versuch, sich vollständig in den Griff zu bekommen – was nicht nur epistemische, sondern auch praktische Aspekte umfasst.

Die Idee, dass die Berührung die eigentliche anthropologische Vergewisserungspraxis darstellt, hat der französische Philosoph Etienne Bonnot de Condillac schon in der Aufklärung betont. Er benutzt dazu ein Gedankenexperiment, das auf einen antiken Mythos zurückgreift: Es geht um den Pygmalion-Mythos, in dem der zum Leben erwachten Statue der Galathea sukzessive und getrennt voneinander alle Sinne zugeordnet werden sollen. Der letzte von Condillac analysierte Sinn, den er nach Geruch, Gehör, Geschmack und Gesichtssinn traktiert, ist der Tastsinn, der zudem metaphysisch geadelt wird. Er erscheint ihm als der einzige Sinn, der den Menschen der realen Existenz einer Welt und seiner selbst versichern kann (vgl. Zirfas 2014, 72ff.). Wenn die Berührung fehlt, so lässt sich nicht zweifelsfrei zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden. Da aber in Erkenntnissen die zentralen Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sein und Schein, zwischen Sicherheit und Zweifel etc. gemacht werden müssen, liegt den Sinnen letztlich der Tastsinn zugrunde, so dass alle Sinne aus ihm erwachsen. Das Tasten erscheint als Grundlage oder Sinn der Sinne, sozusagen als Meta-Sinn – er ist der Sinn des Begreifens seiner selbst und der Welt: „Alle unsere Erkenntnisse [stammen, JNN u. JZ] aus den Sinnen und besonders aus dem Tastsinn […], weil er es ist, der die anderen unterweist“ (Condillac 1983, 213). Begreifen entwickelt sich somit aus den Sinnesempfindungen bzw. aus dem Tastsinn. Denken resultiert aus der Empfindung, aus dem Spüren und Fühlen von Gegenständen. Es sind die durch den Tastsinn vermittelten körperlichen Erregungen, die sich dynamisch zur Emotionalität und zum Erkennen entwickeln. Letztlich werden aus dem Tastsinn heraus Geist und Seele des Menschen genealogisch hergeleitet, da es ihm obliegt, Eigenschaften des Selbst und der Welt auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen. Shapies lassen sich insofern als eine Form der Vergewisserung seiner selbst – im doppelten Sinn – begreifen. Das scheint in einer Welt, die an einem Übermaß an (digitalen) Bilderproduktionen leidet, eine wichtige Form der Kompensation zu sein. In diesen Bildern scheint die Referenz auf die Wirklichkeit und den Körper nicht mehr vorhanden und auf virtuelle Wirklichkeiten und Körper übergegangen zu sein. Die Wahrheit der Wirklichkeit verdichtet sich nicht mehr im Bild, sondern im analogen Ikonoklasmus algorithmischer und genetischer Codes: „Bilder schrumpfen dabei auf eine visuelle, Körper auf eine genetische Information“ (Belting 2004, 353). Die digitalen Bilder sind von der Referenz auf die Realität befreit und von der Referenz auf die Virtualität besessen. Die Repräsentation des Virtuellen gerät gleichermaßen unter den Bann absoluter Verfügbarkeit wie absoluter Kontingenz (vgl. Wulf u. Zirfas 2015).

Shapies versprechen dagegen das abbildhafte, reale Ich. Sie versprechen Körperlichkeit und Handhabbarkeit. Und dennoch lassen sich auch in Shapies Texte und Geschichten einschreiben. Auch sie entkommen der Welt des Symbolischen nicht. Insbesondere nicht der Symbolik des Doppelgängertums. Folgen wir hierbei Sigmund Freud, dann ist der Doppelgänger ein wiederkehrendes Motiv für das Unheimliche, aber auch eine Versicherung „gegen den Untergang des Ichs“ (Freud 1981, 258). Freud bringt den Doppelgänger in eine Verbindung mit dem Spiegel- und Schattenbild, mit dem Schutzgeist und der Todesfurcht. Der Doppelgänger ist gleichzeitig die anthropomorphe Figuration des Wiederkehrenden und die autonome Figuration der Selbstverdopplung, die diabolische Selbsthervorbringung, die einen Riss von Eigenheit und Fremdheit in den Menschen einschreibt. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist der Doppelgänger zunächst eine Versicherung gegen die Vernichtung, eine Art imaginärer Koloss, der als unsterbliche Seele die Macht des Todes gebrochen hat. Doch mit der Überwindung des narzisstischen und animistischen Stadiums wandelt sich der Doppelgänger vom Garanten des ewigen Lebens zum Schreckbild: Der Doppelgänger wird unheimlich, weil er der Vorbote des Todes ist. Mit der Entwicklung einer distanzierten Haltung gegenüber dem eigenen Ich und einer kritischen Selbstbeziehung wird der Doppelgänger mit anstößigem Inhalt, unterbliebenen Lebensmöglichkeiten und unterdrückten Willensentscheidungen „aufgeladen“. Der Doppelgänger ist nun der Wiedergänger der überwunden erachteten seelischen Urzeiten, ein vergessen geglaubtes Gespenst, das dem Individuum die permanente Regressionsmöglichkeit vor Augen führt. Ähnlich wie (manche) Puppen (Mattenklott 2014) scheinen Shapies also nicht so harmlos zu sein. Sie verweisen auf die prekäre Existenz des Menschen, die stets mit der Abwehr von Schädigungen und Vernichtungen einhergeht. Darauf, dass mit Shapies wiederum Vulnerabilitäten für das eigene Ich einhergehen, verweist auch die Deutung des 119. Psalms: „Ich trage meine Seele immer in meinen Händen, und ich vergesse deines Gesetzes nicht“. Demnach heißt die Redensart, ich trage meine Seele immer in meinen Händen, so viel, dass das eigene Leben in steter Gefahr schwebt: „In unseren Händen ist unsere Seele nicht sicher. Es ist auch niemand, er sei so weise, so klug, so verständig, auch so fromm, als er will, der seine Seele genugsam verwahren könne“ (Francke 1764, 400). Daher rührt die Notwendigkeit sich dem Gesetz Gottes zu unterwerfen, denn erst wenn „ein Mensch Gott im Glauben seine Seele, sein Leben, und alles, was ihm Gott gegeben, anbefiehlet, so ist er sicher genug, daß ihm niemand Schaden kann“ (ebd.). Der moderne Mensch aber vertraut nicht (nur) auf Gott, sondern vor allem auf sich selbst. Mit dem Shapie schafft man sich selbst ein Abbild. Diese Praxis trägt im christlichen Abendland selbst göttliche Züge. Denn Gott erscheint in der Genesis als derjenige, der den Menschen nach seinem Bild erschafft (Genesis 1,27). Allerdings spricht die Bibel nicht davon, dass er sich selbst in Händen hält. Der Mensch, der sich selbst in Händen hält, ist eine theomorphe und zugleich paradoxe Figur. Denn wer sich in Händen hält, ist sich nicht nur gegeben, sondern er hat sich geradezu verdoppelt. Er ist Schöpfer und Geschöpf in einem, sozusagen selbstschöpfendes Geschöpf und geschöpfter Schöpfer, was ziemlich genau die paradoxe, dublettenartige Subjektposition der Moderne wiedergibt: In ihr ist Mensch immer zugleich Subjekt und Objekt, Produzent und Produziertes.

Das Shapie ist insofern ein Produkt der Moderne, als es in einem Selbstthematisierung, Selbstmodellierung und Selbstinszenierung verkörpert. Somit stellt es ein Miniaturego dar, das Reflexivität, Technologie und Performanz integriert. Es trägt Züge der Selbstverwirklichung und Authentizität ebenso wie Züge der Singularität und Außergewöhnlichkeit. Andreas Reckwitz (2017, 316) schreibt: „In seiner Wohnung inszeniert es [das moderne Subjekt, JNN u. JZ] sich vor sich und vor anderen. Zugleich ist sie der Ort, an dem es ganz ,es selbst‘ sein kann.“ Das Subjekt, dass ein Shapie in den Händen hält, erscheint als eine Form, in der der moderne Mensch ,ganz bei sich selbst sein kann‘. Wenn die Identität in der Moderne vor allem von den eigenen ästhetischen Entscheidungen und Handlungen abhängig ist, dann zeigt uns das Shapie, wer wir ,wirklich‘ sind.

Fazit: Faszinosum Shapie

Das Ich erscheint im Shapie im Modus seiner ‚technischen Reproduzierbarkeit‘ (Walter Benjamin), wodurch es einerseits seine „Aura“ zu verlieren scheint, und andererseits – folgen wir Freud – auch Unsterblichkeit erlangt. Systematische Studien zur Frage, wie sich der Umgang mit solch einer 3-D-Figur auf Individuen etwa alters-, bildungs- und sozialspezifisch und zudem kurz- und langfristig auswirkt, liegen noch nicht vor. Insofern könnte man an dieser Stelle auch nur spekulieren, welche Funktionen mit einer solchen ,Puppe‘ für Menschen verbunden sind: Übergangsobjekte, Erinnerungsstücke, Repräsentationen, Konstruktionsdinge, Experimente, Infantilisierungen etc.? Monika Goetsch (2016) berichtet, dass diejenigen, die eine solche 3-D-Figur erstmals in den Händen hielten, berührt und erstaunt seien; vielleicht wie die Menschen früher, als sie sich erstmals auf einer Fotografie ansahen. In unserem einleitenden Zitat wird von „Faszination“ gesprochen. Dem wollen wir nachgehen: Was also macht die Faszination eines Shapies aus? Zugrundeliegend ist das lateinische Wort fascinare, was „beschreien“ und „behexen“ bedeutet. Es war Rudolf Otto, der zur Beschreibung des Heiligen auch das Moment des Faszinierenden herausgearbeitet hat. Er verweist darauf, dass dieses Moment mit dem Sinnverwirrenden, Sinnberückenden, Hinreißenden und Entzückenden zu tun hat, mit Taumel und Rausch, aber auch mit Seligkeit und Heil (Otto 1911/1991, 42ff.). Und was könnte in diesem Sinne faszinierender sein als das eigene Selbst?
Freud gibt uns einen weiteren Hinweis zum Doppelgänger: Er schreibt, dass die Vorstellungen über den Doppelgänger „auf dem Boden der uneingeschränkten Selbstliebe entstanden [sind], des primären Narzißmus, welche das Seelenleben des Kindes wie des Primitiven beherrscht“ (Freud 1919/1981, 258). In diesem Sinne können wir beim Shapie auch vom Narzissmus sprechen. Beim Narzissmus geht es um Selbstverliebtheit, immer auch um Spiegelerfahrungen und den Tod – und zwar mit dem Unterschied, dass Shapies es möglich machen, den eigenen Tod überleben zu können: Denn nunmehr wird in den körperlich-spiegelnden Replika (vgl. Winzen 2013) die Unsterblichkeit der Künstlichkeit wunscherfüllende Wirklichkeit, denn während sich der eigene Körper in seiner leiblichen Gegebenheit mit Alterungsprozessen auseinandersetzen muss, signalisiert das Shapie das Ideal der Unvergänglichkeit. Und zudem lassen sich auch die Anderen, die einem in der Einsamkeit dieser Unsterblichkeit noch Beistand leisten können, unvergänglich mitgenerieren – auch Familie und Freunde sind ja shapiefähig. Während Bilder Identität als körperlose Fiktion verheißen, die die leibliche Identität des Körpers hinter sich gelassen hat, setzt das Shapie geradezu auf Körperlichkeit, wenn auch auf maschinell produzierte. Insofern schreibt das Shapie den antiken Mythos von Narziss um (vgl. Ovid 1994). Narziss, einem ungewöhnlich schönen Jüngling, wird ein langes Leben prophezeit, wenn er sich nicht selbst erkennt, das heißt, in seine Schönheit verliebt. Weil Narziss die Bergnymphe Echo nicht erhört, ersinnt diese zusammen mit Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, auf Rache; Narziss verliert sein Messer in einem Waldsee und wird beim Blick in denselben von seinem eigenen Bild gebannt. Er verliebt sich in die körperlose Hoffnung („spem sine corpore“) seines Spiegelbilds, dem kein eigenes Sein innewohnt („nil habet ista sui“). Seine Begierde richtet sich auf ein Trugbild, auf ein Schattendasein des Selbst: „Iste ego sum“ und da die unendliche Begierde sich auf das Eigene bezieht, kann sie nicht durch ein Anderes gestillt werden: „Quod cupido, meam est“. Dem unendlichen Sog der Selbstliebe, der Ausdruck des unendlichen Mangels der Erfüllung der Begierde ist, lässt sich nur um den Preis entkommen, dass man den Grund des Mangels aufhebt, nämlich das Selbst. Die Selbstverliebtheit des Narziss führt schließlich zu Melancholie und zum Tod. Im verkörperten Anderen seiner Selbst versucht die Moderne die Selbstbespiegelung zu ermöglichen und dabei den Tod auszublenden. Das Shapie ist die narzisstische Körperhoffnung des modernen Menschen, die sich nicht als Fiktion erweisen und ewiges Leben gewährleisten soll. Nunmehr kann man sich in sich selbst verlieben, weil das Shapie einen ,realen‘ Widerpart bietet. Aber warum muss es eine Miniatur und warum darf es keine originalgetreue Wiedergabe sein – die sich ja technisch ebenso leicht ermöglichen ließe? Würde man sich damit nicht in eine Reihe prominenter Gestalten der Wachsfigurenkabinette stellen?

Übergehen wir hierbei praktische Gründe – größere finanzielle Aufwendungen oder fehlende Räumlichkeiten –, so lässt sich die Miniatur als Verkleinerung des Ich verstehen, die in die Kindheit verweist. In diesem Sinne konkurriert das Shapie mit einer ganzen Reihe anderer Miniaturen: etwa mit Puppen, Nippesfiguren, Gartenzwergen und Krippenfiguren. Doch beim Shapie geht es um eine Miniaturisierung des eigenen Selbst. Bekanntlich hat Freud einen Autoerotismus am Anfang des Lebens ausgemacht, der sich durch eine direkte Befriedigung von Partialtrieben auszeichnet, und der daher weder auf ein äußeres Objekt noch auf ein einheitliches Körperbild oder Ich angewiesen wäre. Mit der Entwicklung des Autoerotismus zum primären Narzissmus werden nicht nur die bisher unverbundenen einzelnen Komponenten der Sexualtriebe zu einer Einheit zusammengefasst, sondern zugleich entwickeln sich das Ich und damit das Selbst als einheitlicher Inhalt des psychischen Apparates. Das neue Element, so interpretiert diese Situation Jacques Lacan (1973), kommt durch die Beziehung des Kindes mit dem Bild eines ganzheitlichen Ich im Spiegel zustande, das dem Ich Dauerhaftigkeit und Einheit, Präsenz und Omnipotenz im Bild vermittelt. In diesem Sinne erinnert das Shapie an die Idee der kindlichen Spiegelung, bildet sozusagen eine Rückkehr in das Paradies der Kindheit, in dem das Ich seine eigene Ganzheitlichkeit in einem idealen Bild wahrnimmt, das das Subjekt auf einer „fiktiven Linie [situiert], die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann“ (ebd., 63). Lacan arbeitet dabei auch die zentrale Zäsur heraus, die für das Kind mit der jubilatorischen Selbstbegegnung verbunden ist, wird es doch aus dem intakten Imaginären in die Brüchigkeit und Ambivalenz der symbolischen Ordnung versetzt. Das Subjekt wird so auf die Suche nach der verlorenen narzisstischen Einheit festgelegt, aus deren Scheitern sich nach Lacan das Begehren konstituiert. Lässt sich also das Shapie als Objekt der Suche nach der verlorenen narzisstischen Einheit verstehen? Oder anders: Besteht die Faszination für das Shapie im narzisstischen Begehren nach dem Imaginären, Unmöglich-Vollständigen? Und man kann sich die Frage stellen, ob die Shapies als Einheitsund Unsterblichkeitsmodelle mit dem Verlust, der Trennung und den Zerstücklungsphantasien der frühen Kindheit zu tun haben, insofern sie eine Kompensation für eine ursprüngliche, symbiotische Erfahrung darstellen. Julia Kristeva spricht an dieser Stelle vom Narzissmus als Projektionsfläche der Leere: „Der Narzißmus schützt die Leere, schafft sie erst und stellt so, als ihre Kehrseite, eine grundlegende Trennung her“ (Kristeva 1997, 29). Der Narzissmus als Abwehr gegen die Leere, die durch die Trennung von Mutter und Vater entsteht, entwirft und skizziert diese Leere durch eine Fülle von Bildern, Projektionen, Täuschungen und Identifikationen, um sich und seine Vorstellung von Identität inmitten diverser symbolischer Systeme und Ordnungen aufrechtzuerhalten. Das Shapie bildet eine solche Kompensationsform, das eigene Ich durch alle Veränderungen seiner selbst und der Welt durchzuhalten. Der moderne Narziss verliebt sich nicht mehr in sein Bild, sondern in eine körperliche Ikone seiner Vollkommenheit und Unsterblichkeit. Doch sind auch Ministatuen seiner selbst nicht ohne Bilder zu haben, bleibt das Imaginäre an das Symbolische gebunden. In diesem Sinne ist das Faszinierende an Shapies, dass sie dem Menschen so ähnlich sind. Und das Shapie als Ähnlichkeitsmodell zu verstehen, heißt, das Selbst als Metapher zu begreifen. Hiermit kommt die Imagination als ein Sehen von Beziehungen ins Spiel, als Finden und Erfinden von Ähnlichkeiten und als Generator für die Entwicklung von Bildern für sich selbst. Insofern wirken „die Bilder von Menschen, die sich als Puppen oder Pappkameraden herausstellen […], irritierend“ (Diaconu 2013, 58). Shapies können Menschen durchaus in Taumel versetzen.


Literaturverzeichnis

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Über die Autorin und den Autor / About the Authors

Juliane Noack Napoles

Dr. phil.; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie am Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln; Forschungsschwerpunkte: Identitätsforschung, Ästhetische Bildung, Vulnerabilitätsforschung, qualitative Forschungsmethoden; aktuell Mitarbeit an den Projekten: Geschichte der ästhetischen Bildung und Vulnerabilität und Pädagogik.

Juliane Noack Napoles

Korrespondenz-Adresse / correspondence address:

jnoackna@uni-koeln.de



Jörg Zirfas

Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie am Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Vorsitzender der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der DGfE, der Kommission Pädagogische Anthropologie der DGfE und der Gesellschaft für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Kulturpädagogik und Ästhetische Bildung, Qualitative Bildungs- und Sozialforschung.

Joerg Zirfas

Korrespondenz-Adresse / correspondence address:

jzirfas@uni-koeln.de