denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.2 Nr.1 (2019) | Rubrik: Fokus
Gertrud Lehnert
Focus: puppen als miniaturen – mehr als klein
Focus: dolls/puppets as miniatures – more than small
Abstract:
Angeregt von Nelson Goodmans „Weisen der Welterzeugung“ deute ich
Miniaturen als spezifische Materialisierung der Interpretation von „Welt“.
Es geht dabei weder um Kinderspielzeug noch um die simple Verkleinerung
von Dingen, sondern um materiell umgesetzte Versionen von Ideen und Interpretationen
von Welt. Jede Version schafft implizit ihre eigene Ästhetik. Meine Beispiele
sind die Arnstädter Puppenstadt „Mon Plaisir“ aus dem frühen 18. Jahrhundert, der
Augsburger Ausschneidebogen, ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert, der auf Papier die
Stadt Augsburg und vor allem ein großbügerliches Wohnhaus präsentiert, und schließlich
die apokalyptischen Miniatur-Dioramen gebaut und photographiert von Lori Nix und
Kathleen Gerber aus dem 21. Jahrhundert.
Schlagworte: Welterzeugung; Miniaturwelt; Weltdeutung; Ästhetik der Miniatur; Puppenstadt; Ausschneidebogen; Diorama; Apokalypse
Abstract:
Following Nelson Goodman’s concept of “world making” I consider miniatures
as a specific way of materializing aspects or interpretations of “world”. The miniatures I chose are neither childrens’ toys nor simple replicas of existing things
but materialized versions of specific views, ideas and interpretations. Implicitly, each creates its own aesthetics of the miniature. The examples I discuss are the
Arnstädter Puppenstadt “Mon Plaisir”, an entire town as well as the castle’s main rooms built in the
early 18th century by an aristocratic widow; an 18th-century-paper album presenting the
city of Augsburg and the interior of a wealthy home which could be furnished with paper cut-outs; and, finally, the apocalyptic miniature dioramas built and photographed by Lori
Nix and Kathleen Gerber (21st century).
Keywords: world making, miniature world, aesthetics of the miniature, doll house town, cut-out sheet, diorama, apocalypse
Zitationsvorschlag: Lehnert, G. Miniaturwelten. de:do 2019, 2, 72-80. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632
Copyright: Gertrud Lehnert. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632
Veröffentlicht am: 02.09.2019
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„Weisen der Welterzeugung“ – so könnte mein Aufsatz, Nelson Goodman zitierend, auch heißen. Die drei unterschiedlichen „Miniaturwelten“, um die es im Folgenden geht, unternehmen es, Welt zu repräsentieren und damit – durchaus im Sinne Goodmans – zu schaffen. Das tun sie auf unterschiedliche Arten. Die Arnstädter Puppenstadt „Mon Plaisir“ der Fürstin Auguste Dorothea von Schwarzburg1 aus dem frühen 18. Jahrhundert präsentiert Aspekte der zeitgenössischen Residenzstadt und des höfischen Lebens in unterschiedlichen dreidimensionalen Szenarien, Innen- und Außenansichten, bevölkert von Puppen unterschiedlicher Größe. Es hat den wohl umfassendsten Anspruch auf Vollständigkeit, wie auch immer dieser tatsächlich realisiert wird. Das Augsburger Klebealbum (vgl. Haindl 2010) ist ein auf Papier gedrucktes zweidimensionales Papier-Puppenhaus samt städtischer Umgebung, in dem Innenräume, Plätze und Straßen ausgeschnitten und mit Mobiliar und Figuren beklebt werden könnten. Auffallend, dass die Figuren maßstäblich verblüffend hinter dem Mobiliar zurücktreten. Das Klebealbum ähnelt der Puppenstadt insofern, als es nicht nur das Haus, sondern auch die Stadt einbezieht. Die Fotos der zeitgenössischen Künstlerinnen Lori Nix und Kathleen Gerber schließlich zeigen einzelne Miniatur-Dioramen, die sie bauen, fotografieren und dann vernichten, so dass es am Ende ausschließlich das Abbild eines einst realen, dreidimensionalen Gegenstands gibt (vgl. Nix 2015). Lori Nix präsentiert einzelne Szenarien einer verlassenen Welt im Verfall und stellt so durch Zeit und Raum einen aktuellen Gegenpol zur Puppenstadt und dem Augsburger Ausschneidebogen dar.
Alle drei Beispiele nehmen – so meine ich – auf unterschiedliche Weisen für sich in Anspruch, Ansichten von Welt en miniature zu zeigen. Der Philosoph Nelson Goodman geht aus von der menschlichen Unfähigkeit, die Welt als solche zu erkennen, und zieht daraus den Schluss, es gebe eine Vielheit unterschiedlicher Welten (Goodman 1990, 14). Unser menschliches Universum bestehe nicht aus Welt, sondern aus Beschreibungsweisen, etwa durch die Wissenschaften, die Künste und auch durch unsere Wahrnehmungen (Goodman 1990, 15):
Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen. [...] Bei der Welterzeugung besteht vieles, aber keineswegs alles aus Zerlegung und Zusammenfügung, häufig aus beidem zugleich: einerseits der Aufteilung von Ganzem in Teile und der Unterteilung von Arten in Unterarten, der Analyse von Komplexen in charakteristische Bestandteile sowie darin, Unterscheidungen zu treffen; andererseits aus der Zusammensetzung von Ganzheiten und Arten aus Teilen, Gliedern und Unterklassen, aus der Kombination von Merkmalen zu Komplexen und dem Herstellen von Verbindungen (Goodman 1990, 19f.).
Miniaturwelten sind geradezu idealtypische, materialisierte Resultate von Prozessen der Weltwahrnehmung als Welterzeugung. Sie präsentieren eine Auswahl und spezifische Anordnungen, die sowohl besondere Zeitlichkeiten implizieren – Momente in der Zeit – als auch bestimmte Ansichten – d.h. Blickwinkel, Perspektiven – vorgeben. Sie inszenieren Aspekte von Welt, sie reduzieren und setzen Schwerpunkte. Das ist eine ästhetische Praxis, und ästhetische Praktiken besitzen immer auch eine spielerische Seite. Als ästhetische Erfahrung schreiben sie sich ins kulturelle Gedächtnis ein. Mit der Begrifflichkeit beziehe ich mich in Bezug auf „Inszenierung“ auf die Terminologien von Martin Seel (2001), Erika Fischer-Lichte (2001) und Wolfgang Iser (1993) und wende sie auf Artefakte und deren Inszenierung durch Menschen an. „Inszenierung“ ist in diesem Sinne ein kreativer und transformierender Umgang von Menschen mit sich und ihrer Umwelt, in dem etwas zur Erscheinung gebracht wird und gleichzeitig etwas hervorgebracht wird, was sich aus dem Kontext hervorhebt.
Im Folgenden möchte ich die Inszenierungen genauer betrachten, die jeweilige Materialität, die je spezifische Räumlichkeit und Anordnung sowie die möglicherweise intendierten Realitätseffekte und last but not least die Ästhetik der Miniaturen. Davon nicht zu trennen sind ihre jeweiligen Funktionen in unterschiedlichen sozialen und historischen Kontexten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die „Bevölkerung“ der Miniaturräume mit Puppen. Einzig die apokalyptischen Dioramen von Nix/Gerber sind menschen- bzw. puppenleer, nur in ihren frühen, thematisch anders gelagerten Werken setzten sie Tiere und menschenähnliche Spielzeugfiguren ein. Die Puppenstadt hingegen wird durch ihre „Bevölkerung“ erst lebendig, und auch der Ausschneidebogen gewinnt skurriles Leben durch die flächigen Ausschneidefigürchen, die Räume und Plätze bevölkern.
Die im Laufe von mehr als 35 Jahren gebaute Puppenstadt „Mon Plaisir“ der Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751) aus dem frühen 18. Jahrhundert ist bestrebt, den Eindruck von Vollständigkeit der Residenzstadt Arnstadt mit unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen zu vermitteln. Einen großen Teil davon nimmt der Lebensraum der Fürstin selbst ein: das Schloss mit seinen unterschiedlichen Räumen, in denen ihr puppenkleines Ebenbild in mehreren Versionen residiert und mit Angehörigen des Hofes interagiert.
Annette Cremer deutet die Puppenstadt in ihrer materialreichen Studie – dem ersten umfassenden Referenzwerk zu diesem einzigartigen Objektensemble – als eine materialisierte, dreidimensionale Autobiographie der Fürstin Auguste Dorothea von Schwarzburg (Cremer 2015). Selbstvergewisserung einerseits und Verewigung der eigenen Person: das leuchtet ein. Man könnte hinzufügen, dass die Idee, in Miniaturabbildungen der eigenen Person eine gewisse Unsterblichkeit zu gewinnen, an antike Grabinszenierungen erinnert, in denen ganze Hofstaaten den Toten weiterhin dienen. Unabhängig davon mag die schlichte Faszination von einer die eigene Welt spiegelnden Welt en miniature ein Grund für die lebenslange Beschäftigung der Fürstin mit ihrem wohl beeindruckendsten Kunstkammerstück gewesen sein. Zudem repräsentiert eine ganze Stadt mit Bewohner*innen trotz ihrer Komplexität ein überschaubares, beherrschbares Reich, in dem die Fürstin herrschen kann und über dessen Wohl und Wehe sie ganz allein entscheidet – was ihr als mehr oder weniger verarmter und letztlich machtloser Witwe in der Wirklichkeit freilich wohl nur bedingt möglich war, wie Annette Cremer erläutert. So könnte die Verbindung von Realität mit deren künstlerischer miniaturisierter Nachbildung und Interpretation in einem sehr weiten Sinne auch eine gefahrlose, interpretierende, aneignende Beschäftigung der Fürstin mit ihrer Wirklichkeit darstellen und damit eine Herrschaft, die sich von der uneinholbaren Realität in die Miniaturwelt verlagert und dort Gültigkeit und Dauer erlangt.
Abbildung 1: „Kaffeetrinken“
Die Puppenstadt konstituiert sich aus Einzelobjekten: Zimmern, Plätzen. Auch das Schloss ist nicht zu einem Haus zusammengefügt, sondern die Zimmer existieren einzeln und zum Teil übereinander angeordnet. Annette Cremer spricht von „mentalen Aufbewahrungskästen“ (Cremer 2015, 204). Die Szenen bzw. Räume befinden sich, wie auf einer Theaterbühne, in abgeschlossenen (Guck)Kästen auf „viereckigen Bühnenplattformen“ (Cremer 2015, 92). Seinerzeit waren sie in einer Galerie aufgestellt, wie genau, lässt sich nicht mehr genau nachvollziehen; eine mögliche Rekonstruktion schlägt Annette Cremer vor. Die gemäß ihrem sozialen Status feiner oder einfacher gestalteten und gekleideten Puppen haben unterschiedliche Größen und sind proportional oft nicht passgenau zu den Räumen. Im Wesentlichen handelt es sich um drei Gruppen, die auch unterschiedlich gut ausgearbeitet und gekleidet sind: 20–28 cm, 14–19 cm, 27–35 cm (Cremer 2015, 104ff.; Pleticha 1995, 11; Klein u. Müller 1994, 4). Es gibt Marktszenen mit Bäckerei, Metzgerei, Spielwaren, Korbflechterei, Werkstätten mit Miniaturgerätschaften (Drechslerei, Weberei, Tischlerei etc.), eine Kirche während der Messe, der Nonnen und Mönche beiwohnen, eine Szene in einer Klosterschule für Mädchen – und natürlich viele Räume des Schlosses: Paradezimmer, Spielzimmer, Musikzimmer, Thronsaal, Porzellankabinett etc. Aber auch Wirtschaftsräume wie Küche und Weinkeller und sogar einige Räume der Bediensteten sind ausgearbeitet worden (vgl. Abbildungen 1 und 2).
Abbildung 2: „Jahrmarkt“
Alle Räume sind kostbar und detailliert ausgestattet und alle sind bevölkert. Nicht nur im Thronzimmer, sondern auch in vielen anderen Räumen ist die Fürstin selbst im Miniaturformat präsent. Reich gekleidet und ausgestattet, belebt sie unterschiedliche Szenarien. Die Bekleidung sämtlicher Puppen aus allen sozialen Schichten ist detailgetreu den zeitgenössischen Moden nachgebildet. Kleidung und Interaktionen der Puppen stehen in perfektem Einklang mit den jeweiligen Schauplätzen. So entsteht die Illusion eines Gesamteindrucks, der auch andeutet, wie die sozialen Schichten sich unterscheiden, wo sich wer mit wem aufhält, was wer tut und wie man miteinander umgeht. Das zeitgenössische Leben wird aus Sicht der Fürstin wie auf einer Bühne vorgeführt. Aber selbstverständlich ist das, was eine Fürstin wahrnimmt und nachbilden möchte, nicht die ganze Welt und nicht das gesamte soziale Spektrum. So spielt Armut keine Rolle. Eine Bettlerin deutet eine andere Lebenssphäre an, jedoch in mehr pittoresker Funktion.
So werden einzelne Ansichten und Szenen der Residenzstadt und des Schlosses präsentiert, die zwar zuweilen ineinander übergehen, aber keine geschlossene Ganzheit bilden, sondern eine Addition von exemplarisch zu verstehenden Ausschnitten und Momentaufnahmen. Die Räume sind nicht mit Treppen oder Türen miteinander verbunden, sie stehen für sich, bilden also kein Hausensemble, sondern sind gewissermaßen Bruchstücke, die von den Betrachtenden zusammengedacht werden müssen. Das mag unterschiedliche Gründe haben. Ein ganz pragmatischer Grund ist, dass die Fürstin während ihrer langen Witwenzeit zusammen mit ihrem Hofstaat und mit Hilfe der Handwerker*innen im Verlauf von Jahrzehnten dieses immense Werk geschaffen, es also immer wieder sukzessive erweitert hat. Zudem hätte eine komplette Stadt oder ein komplettes Schloss mit dieser Fülle von Szenen jeden Rahmen gesprengt und sich letztlich auch der Betrachtung verweigert, die ja voraussetzt, dass das Kleine als Ausschnitt mit einem Blick erfasst werden kann, bevor man sich ins Detail verliert.
Vertiefende Betrachtung aber ist Ziel eines solchen Projekts, das im Kontext der Wunderkammern der Frühen Neuzeit verortet werden kann, in denen die erstaunlichsten und disparatesten Dinge aufbewahrt und zur Schau gestellt wurden. Ziel der Wunderkammern ist, als „enzyklopädisch ausgerichtete Universalsammlungen […] das gesamte Wissen ihrer Zeit sowohl in ihren mikrokosmischen als auch in ihren makrokosmischen, in ihren zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen darzustellen [...] Die Wunderkammern [...] werden zu Orten der Welterkenntnis“ (Flügel 2005, 40). Wenn sie als „begehbare Miniatur der Welt“ fungieren (Beßler 2009, 21), dann müssen sie auch durchschritten werden können, um die einzelnen Dinge zu betrachten und zu würdigen. Die Puppenstadt mit ihrer Fülle von Objekt-Ensembles will Universalität und ist doch „nur“ exemplarisch; und man könnte auch einwenden, dass sie sich ausschließlich sichtbaren, bekannten, sehr irdischen Gegenständen widmet, nicht den Rätseln und Wundern der Welt. Ihr ‚Wunderbares‘ liegt jedoch nicht in Funktion und Form der Objekte selbst, sondern im Prozess der Miniaturisierung und im Anspruch, eine komplette, ganz und gar irdische, real existierende Welt zu schaffen, die zugleich ein materiell-reales Abbild der eigenen Welt und der eigenen Person sein soll und zugleich eine unerhörte Neuschöpfung ist. Keine komplizierte religiöse Symbolik, sondern ein konkreter Anspruch: Welten- schöpferin zu sein und sich zugleich in der Schöpfung zu spiegeln. Die Welt gespiegelt in der Welt gespiegelt in der Welt: eine klassische Mise-en- abyme, – also z.B. Bild im Bild, ein Theaterstück im Theaterstück oder auch die miniaturisierte Version eines existierenden Zimmers oder Möbelstücks. Diese Art der Spiegelung impliziert grundsätzlich die Erkenntnis der grundlegenden Strukturen des Vorbilds; sie fungiert als eine „modalité de la réfléxion“, wie Lucien Dällenbach erläutert (Dällenbach 1977, 16). Und tatsächlich gibt die Inszenierung des Großen im Kleinen mit ihren Ausschnitten und Blicklenkungen – und erst recht die Mise-en-abyme – etwas zu sehen, was gesehen werden soll und sonst vielleicht nicht auffallen würde, und lässt aus, was ungesehen bleiben soll.
Abbildung: 3 „Musiksalon“
Ähnlich der Puppenstadt ist das Klebealbum der Idee verpflichtet, nicht nur ein Haus zu präsentieren, sondern auch den dazu gehörigen Lebensraum: eine Stadt mit vielen Lebensformen, die auf verschiedenen Plätzen präsentiert werden, etwa dem Augsburger Perlachplatz mit Rathaus, Läden, Turm usw. Die 19 großformatigen kolorierten Blätter sind unterschiedlich groß, die meisten ab ca. 43 cm hoch und bis über 110 cm breit. Den meisten Raum nimmt ein luxuriöses Haus als Modell eines (groß)bürgerlichen Lebensstils ein – nicht dreidimensional, sondern zweidimensional auf Papier gemalt, gezeichnet, geklebt. Damit bildet das Album sowohl in der Materialität als auch in der sozialen Positionierung einen Gegenpol zur aristokratisch dominierten Puppenstadt. Allerdings sind die Interieurs sehr luxuriös und darin dem Niveau der Puppenstadt vergleichbar. Auch das Album wird aus Einzelteilen zusammengesetzt, die vorgegeben sind, jedoch zur Vollendung die Aktivität der Besitzer*innen benötigen, die Figuren und Mobiliar in den Räumen platzieren, diese also wie ein dreidimensionales Puppenhaus einrichten können (vgl. Abbildungen 3 und 4).
Abbildung 4: „Grüner Salon“
Präsentiert werden einzelne Räume auf jeweils einer Doppelseite: Eingangshalle, Speisesaal, Diele, Küche, Gewölbehalle, Vorratskammer, Mägdekammer, Herrenschlafzimmer, Wöchnerinnenzimmer, Schlafzimmer, Teezimmer, mehrere Salons einschließlich eines Musiksalons. Im Vergleich zu den weitgehend engen Räumen der Puppenstadt, die mit wenig Mobiliar und Puppen schnell voll wirken und eher exemplarisch als vollständig angelegt scheinen, sind die Räume des Albums viel zu groß, allesamt Säle, die kaum mit Mobiliar und Personen zu füllen sind. Dafür sind sie übersichtlich und zeigen das, was in funktionaler wie repräsentativer Hinsicht entscheidend für den jeweiligen Raum ist. Während die Puppenstadt wie auch die Dioramen von Lori Nix als dreidimensionale Artefakte dem Prinzip der klassischen Guckkastenbühne mit Zentralperspektive gehorchen, präsentiert das Album Innenräume als zweidimensionale, ausklappbare Breitbandbilder, die sich, teilweise völlig proportionslos, horizontal über zwei Seiten erstrecken. Die Zentralperspektive wird großzügig missachtet, anders als in dreidimensionalen Miniaturen. Das ist vermutlich der guten Ansicht geschuldet sowie der Möglichkeit, sie mit vielen – proportional unterschiedlichen – Möbeln und Menschen anzufüllen und perfekte Sichtbarkeit jedes Details zu ermöglichen. Auch viele Einrichtungsgegenstände sind in ihren Proportionen nicht den Proportionen des jeweiligen Zimmers angepasst. Es geht eher um Addition vollständig gezeigter Einrichtungsgegenstände auf der Fläche, nicht um die Illusion adäquater Anordnung im Raum mit Tiefenwirkung, Überschneidungen etc. Es geht auch nicht um wirklichkeitsgetreue Szenerien, sondern eher um die Vorführung möglicher Szenen. Die unterschiedlich großen Papierfiguren, sozialer Funktion und Anlässen entsprechend zeitgenössisch korrekt gekleidet, passen proportional kaum zur Architektur; sie verlieren sich in den riesigen Räumen.
Ohne sie jedoch würde der Ausschneidebogen wie ein Art Architekturmodell wirken. So ist er ein belebtes repräsentatives Wohnhaus, in dem – um nur ein Beispiel zu nennen – Damen und Herren im Musiksalon musizieren, andere zuhören und plaudern. Eine Zofe im kürzeren Kleid präsentiert links ohne erkennbaren Anlass eine Blume, ein Herr in Justaucorps und Dreispitz ist noch kleiner geraten als die anderen, während die Dame links an der Wand etwas größer ist als alle anderen. Offenbar geht es nicht um korrekte Größenverhältnisse, sondern vor allem um die Interaktionen (musizierend, lauschend, in Unterhaltung begriffen), die vorbildliche Körperhaltung und die modisch-gesellschaftliche Korrektheit der Kleidung. So kann das Ideal großbürgerlichen Lebens mit seinen Interaktionsformen und seinem Geschmack – also insgesamt mit seiner Ästhetik – aufgerufen und nicht zuletzt auch Kindern nahegebracht werden. Es geht um Fülle – nicht um Genauigkeit. Der Blick muss über ungefähr einen Meter Breite schweifen, um die Addition der vielen Objekte in ein Bild zu verwandeln. Und es geht dabei wohl auch um das Vergnügen an der eigenen Aktivität und an der Lust, ein Haus einzurichten.
Abbildung 5: Lori Nix / Kathleen Gerber „Dawn“
Die US-amerikanische Künstlerin Lori Nix, geboren 1969, baut zusammen mit ihrer Partnerin Kathleen Gerber3 Dioramen in Puppenhausgröße – jedes einzelne kostet monatelange Arbeit –, setzt sie anschließend mit einem ausgeklügelten Lichtdesign in Szene und fotografiert sie, bis das perfekte Bild entstanden ist. Kathleen Gerber ist wesentlich für den Bau der Dioramen zuständig, während Nix das Lichtdesign kreiert und die Aufnahmen macht. Dann zerstören sie die Dioramen. Denn sie haben dann ihren Zweck erfüllt. Die Münchner Galerie Klüser hat bereits mehrere Ausstellungen ihrer Werke veranstaltet und einige Werke sowie ein Interview auf ihrer Website veröffentlicht (vgl. Abbildungen 5 und 6). Nix/Gerber präsentieren einzelne Ansichten, die durch die Kästen des Dioramas klar und programmatisch voneinander getrennt sind. Das kann man durchaus mit der Puppenstadt vergleichen, deren einzelne Räume allein oder zu mehreren in Kästen bzw. Schränken aufbewahrt wurden, oder auch mit dem Klebealbum, das man Blatt für Blatt ansehen muss. Jedoch hat die Vereinzelung hier eine ausgestellte Programmatik, während die beiden Stadtmodelle vermutlich an Grenzen des Realisierbaren eines Gesamtensembles stoßen. Ihre Inspirationen beziehen Nix/Gerber nicht (nur) aus der Realität, wie beispielsweise Naturkatastrophen, sondern auch aus Film und Kunst. Auf ihrer Website erläutern sie ihr Konzept:
We […] are comfortable building our worlds rather than going out in search of them. Neither of us has had the financial means to travel much beyond the United States. We’ve always used our money to purchase tools and art supplies rather than plane tickets and hotel rooms. We’re happy enough to be armchair travelers, exploring the world through books, magazines, television and the internet. So instead of going out in search of worlds to photograph, we choose to build our own worlds in a much smaller scale. (https://www.lorinix.net/q-a/; Zugriff am 27.12.2018)
Abbildung 6: Lori Nix / Kathleen Gerber „Library“
Durchgehendes Thema ist das Verschwinden der Menschheit und eine dem Verfall preisgegebene Welt – genauer gesagt: dem Verfall des von Menschen Geschaffenen. Was nun übernimmt, ist die Natur. Deshalb gibt es, anders als in der Puppenstadt und im Klebealbum, in den späteren Dioramen keine menschlichen Gestalten: Die Menschheit, in den vorhergehenden Beispielen durch Puppen repräsentiert, ist verschwunden, hat sich vermutlich selbst ausgelöscht.
Die Bilder sind unter je einem Thema zu Serien zusammengestellt. In den frühen Dioramen („Some Other Place“, „Accidentally Kansas“, „Lost“) gibt es noch Figuren – kleine Menschen, öfter Tiere –, deren Artifizialität leichter erkennbar ist als die von Gebäuden oder Pflanzen; sie verschwinden daher ebenso wie als solche deutlich erkennbare Spielzeugautos oder Züge aus den späteren Dioramen. In „Unnatural History“ bevölkern Tiere die Szenerie. Tatsächlich repräsentieren sie Miniaturtiere in (teils zerstörten) Miniatur-Dioramen in einem naturkundlichen Museum. Die Augentäuschung wird so um eine Ebene verschoben: Die miniaturisierten Dioramen präsentieren eine weitere Ebene der Verkleinerung: Miniaturen von Dioramen in Miniaturen von Dioramen, die künstliche Miniaturtiere als tote, lebensecht präparierte Tiere zeigen. Die Mise-en-abyme als Prinzip der Weltdarstellung wird hier offensiv in Szene gesetzt: Das Bild im Bild bzw. das Diorama im Diorama gibt etwas zu erkennen, was dem einfachen Abbild nicht gelingt: die Rätselhaftigkeit der Welt und die Problematik von Sehen und Erkennen. Die miniaturisierten Dioramen tauchen in „The City“ (2005) als eines von vielen Elementen der zerstörten Stadt wieder auf. So wird das Spannungsverhältnis von Leben und Tod, Lebendigkeit und Künstlichkeit visuell thematisiert. „The City“ insgesamt zeigt Innenansichten von öffentlichen Räumen einer Stadt. In „Empire“ schließlich gibt es keine Innenansichten, sondern ausschließlich Außenansichten der zerfallenden, von der Natur übernommenen Großstadt.
Die Bilder sind schön, indem sie Zerstörtes zeigen. Die Wahrnehmung wird irritiert: Die Farbgebung der Fotos ist intensiv, geradezu „unrealistisch“ bunt und leuchtend, perfekt kombiniert und eingesetzt. Die Stadträume, Innenräume und Landschaften wirken echt und zugleich hyperrealistisch, so dass das Trompe-loeil funktioniert – die Augen werden getäuscht und zugleich kommen Zweifel auf: Sieht man die Abbildung von etwas wirklich Existierendem oder gebaute (Theater)Szenen? Die Fotos spielen mit dem Effekt, den Roland Barthes so beschreibt:
Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ‚Chimären‘ sein, und meist sind sie es auch. Aber anders als bei diesen Imitationen lässt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist (Barthes 1989, 86).
Und er fügt hinzu, dass das Wesen der Fotografie die Verbindung aus Realität und Vergangenheit sei (ebd.). Die Fotografien der Dioramen zeigen im Sinne Barthes‘ idealtypisch etwas wirklich Existierendes, das aber 1. längst nicht mehr existiert, 2. nie gelebt hat und 3. sich als Fiktion entpuppt, die dennoch den starken Überzeugungscharakter der Fotografie doppelt durch ihr eigenes Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit. Zugleich setzt sich das Thema der Dioramen, Zerstörung, in der realen Handlung der Zerstörung des materiellen Dioramas fort: eine weitere Doppelung. Fasst man das Konzept der Mise-en-abyme weit genug, kann man sie auch darauf anwenden.
Welterkenntnis, Weltendeuten und Weltenschaffen gehen ineinander über: Es ist ein Verfahren des Schaffens von Kunst, das auf kultur- wie persönlichkeitsspezifischen und notwendig lückenhaften Erfahrungen und visuellen Eindrücke basiert sowie auf der Fähigkeit zum Erinnern, Erfinden, Zufügen, Wegnehmen, oder, mit Goodman: „aus der Zusammensetzung von Ganzheiten und Arten aus Teilen, Gliedern und Unterklassen, aus der Kombination von Merkmalen zu Komplexen und dem Herstellen von Verbindungen“ (Goodman 1990, 20).
Man könnte vielleicht sagen, dass die beiden Künstlerinnen der Schönheit der Apokalypse verfallen sind, einer Ästhetik des Vergänglichen, des Verfalls und der Zerstörung. Die fotografierten Miniaturensembles besitzen im inszenierten Verfall – trotz oder gerade wegen des Verfalls – ihre eigene Schönheit. Sie zeigen einerseits die Schönheit der Vernichtung bzw. des Zugrundegehens (und machen sie auf diese Weise sogar zum erfreulichen Bildgegenstand) und betonen andererseits die Schönheit einer wieder (auf)lebenden nicht-menschlichen, weitgehend pflanzlichen Natur, die sich ihr Terrain erneut aneignet. In den Dioramen bzw. deren fotografischen Inszenierungen überwiegt das ästhetische Ereignis das moralische Dilemma und lenkt den Blick auf seine eigene Gemachtheit als (Ab) Bild. Menschenlos und daher pathosfrei lassen die Kunstwerke ihre eigene Artifizialität erkennen.
Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss betrachtet in „Das wilde Denken“ (1973/1962) Magie und Wissenschaft als zwei grundsätzlich gleichberechtigte Arten der Erkenntnis. Mit aller Vorsicht könnte man sagen, dass das Schaffen von Miniaturwelten in der Tat nicht nur dem rationalen, wissenschaftlichen (analytischen), sondern mindestens in gleicher Weise dem magischen Denken verhaftet ist. Lévi-Strauss schreibt weiter, Kunst füge sich auf halbem Wege zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und magischem Denken ein; der Künstler (sic) habe zugleich etwas vom Gelehrten und vom Bastler: „mit handwerklichen Mitteln fertigt er einen materiellen Gegenstand, der gleichzeitig Gegenstand der Erkenntnis ist“ (Lévi-Strauss 1973, 36). Das lässt sich auf die drei hier vorgestellten Versionen von miniaturisierten Welten übertragen. Erweitert man diesen Gedanken, kann man folgern, dass die Magie von Miniaturen in der scheinbar identischen und doch grundsätzlich veränderten Wiederholung des in Lebensgröße materiell Existierenden existiert.
Dreidimensionale Puppenstadt, zweidimensionale Stadt mit dem Schwerpunkt auf dem Interieur eines Hauses, dreidimensionales Diorama in der zweidimensionalen Ansicht des (fotografierten) Bildes – die drei medial differenten Formate inszenieren auf inhaltlich und materiell unterschiedliche, räumliche Weisen Weltansichten und Weltschöpfungen (im Sinne Goodmans) en miniature. In deren Betrachtung mischen sich Erkenntnis und ästhetisches Vergnügen, distanzierte Analyse und unmittelbare Präsenzerfahrung – unterschiedliche Arten von Wahrnehmung, die durchaus zusammenfallen können.
Was das Album von den beiden anderen Beispielen am meisten unterscheidet, ist die Aktivität derjenigen, die sich damit beschäftigen. Vom Klebealbum wird Aktivität eingefordert, sie ist konstitutives Element der Beschäftigung damit. Die Dioramen hingegen werden fertig präsentiert, in abgeschlossenen Kästen mit einer Glasfront. Man kann sie nur distanziert und aus einer einzigen Perspektive betrachten – der Perspektive, die das Foto vorgibt, das materielle Diorama existiert dann längst nicht mehr. So wird das Spiel mit Anwesenheit und Abwesenheit auf die Spitze getrieben, die Macht der Schöpferinnen lässt ausschließlich die von ihnen vorgegebene Perspektive auf die perfektionierte fotografische Inszenierung zu. Über sie kann der Blick wandern, er kann Entdeckungen machen – aber er kann nie die Perspektive wechseln und muss sich mit der Illusion von Dreidimensionalität begnügen. Die Räume der Puppenstadt, wenn sie erst einmal in ihrem Kasten bzw. Schrank aufgebaut sind, sind dreidimensional, theoretisch materiell buchstäblich begreifbar und potentiell mobil; sie könnten theoretisch immer wieder umgeräumt werden. Aber sie präsentieren sich in einer einzigen vorgegebenen, nämlich einer Guckkasten- Perspektive. Der entscheidende Unterschied der damaligen zu unserer gegenwärtigen Wahrnehmung ist der Realitätseffekt, den die Artefakte aus dem 18. Jahrhundert für damalige Betrachter*innen vermutlich besaßen. Ihn können wir aus heutiger Betrachter*innenperspektive nicht mehr erleben, sondern nur rekonstruieren, sind wir doch gewöhnt an eine in jeder Hinsicht vermessene Welt und an (mit Hilfe von ausgefeilten Techniken erzeugte) exakte Proportionen der Dinge und einen visuellen Perfektionismus, wie ihn von den besprochenen Beispielen nur die Dioramen von Nix/Gerber besitzen. Wir nehmen neben der Vollkommenheit der handwerklich-künstlerischen Umsetzung der historischen Artefakte außerdem perspektivische Ungenauigkeiten, ja Fehler wahr, die unsere modernen Augen irritieren mögen, die aber die zeitgenössischen Betrachter*innen vermutlich gar nicht weiter interessiert haben.
[1] Vgl. dazu die große Studie von Annette Cremer (2015). Mon Plaisir. Die Puppenstadt der Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751). Köln: Böhlau.
[2] Vgl. Haindl 2010. Leider war es mir nicht möglich, das Album zu sehen; der Bildband ermöglicht jedoch glücklicherweise eine visuell sehr gute Anschauung.
[3] Aus der Literatur zu Dioramen sei stellvertretend genannt: Katharina Dohm et al. (Hg.) (2017): Diorama. Erfindung einer Illusion. Köln: Snoeck; darin u.a. Stephen Christopher Quinn: Die Anatomie des Dioramas, 100ff. und Hiroshi Sugimoto: Unnatürliche Natur, 108ff.
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https://www.lorinix.net/the-city/5s0iu4xao81klfnt3jpl86i8cnfuw3; Zugriff am 27.12.2018.
https://www.lorinix.net/q-a/; Zugriff am 27.12.2018
http://www.nixgerberstudio.com/about
https://www.galerieklueser.de/kuenstler/lori-nix/; Zugriff am 27.12.2018
https://www.galerieklueser.de/ausstellung/nixgerber-26-april-26-mai-2018/; Zugriff am 27.12.2018
Abbildung 1: „Kaffeetrinken“; Puppenstadt „Mon Plaisir“, Bildrechte: Schloßmuseum Arnstadt; Foto: Detlef Marschall
Abbildung 2: „Jahrmarkt“ (Ausschnitt); Puppenstadt „Mon Plaisir“, Bildrechte: Schloßmuseum Arnstadt; Foto: Dietrich Matoff
Abbildung 3: „Musiksalon“, Augsburger Klebealbum; Kunstsammlungen und Museen Augsburg; Bildrechte: Augsburger Privatbesitz
Abbildung 4: „Grüner Salon“, Augsburger Klebealbum; Kunstsammlungen und Museen Augsburg; Bildechte: Augsburger Privatbesitz
Abbildung 5: „Dawn“, aus der Serie „The City“ (2007) Lori Nix / Kathleen Gerber; Bildrechte: Lori Nix / Kathleen Gerber
Abbildung 6: „Library“, aus der Serie „The City (2007) Lori Nix / Kathleen Gerber; Bildrechte: Lori Nix / Kathleen Gerber
Gertrud Lehnert ist seit 2002 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Schnittstellen zwischen Literatur und Malerei, kulturelle Visualisierungs- und Inszenierungsprozesse, Geschichte und Theorie der Mode und Gender/Queer Studies. Sie ist Herausgeberin der Reihe „Fashion Studies“ im transcript Verlag Bielefeld.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address:
glehnert@uni-potsdam.de