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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.2 Nr.1 (2019) | Rubrik: Fokus


Von Spielpuppen, Puppenfiguren und ihren Miniaturwelten: Ein Blick in die Welt der Brontës

Jana Mikota



Focus: puppen als miniaturen – mehr als klein
Focus: dolls/puppets as miniatures – more than small



Abstract:
Spielwelten in der Kinderliteratur sind in gewisser Weise immer auch literarische Miniaturwelten, die im Zusammenhang mit Puppenfiguren einen eigenen Zauber entfalten, der über das eher traditionelle Spiel mit Puppenhäusern hinausgehen kann. Im vorliegenden Beitrag wird am Beispiel der phantastischen Spielwelt der englischen Geschwister Brontë mit Holzsoldaten ein Blick in das gemeinsame Spiel von Mädchen und Jungen in selbst gestalteten Miniaturwelten geworfen. Die von den Kindern hier neu geschaffenen Welten, die auf zwölf Holzsoldaten zurückgehen, ermöglichen ihnen unmittelbar, sich ihrem engen Umfeld zu entziehen. Darüber hinaus prägen sie das spätere Schreiben der Geschwister. Hundert Jahre später ‚erweckt‘ die Autorin Pauline Clarke in ihrem Kinderbuch Die Zwölf vom Dachboden die Holzsoldaten mit vielen intertextuellen Verweisen erneut zum Leben. Die in diesen literarischen Texten geschaffenen phantastischen Miniaturwelten und Puppenfiguren überwinden traditionelle Geschlechterrollen und sind weitaus mehr als Repliken der Erwachsenenwelten.

Schlagworte: Brontës; Holzsoldaten; literarische Miniaturwelten; Intertextualität

Abstract:
Play worlds in children's literature are, in a sense, always literary miniature worlds, which, in the context of puppet figures, develop their own magic going beyond the more traditional play with dollhouses. This article takes the example of the fantastic play world of the English siblings Brontë with wooden soldiers and takes a look at their joint play of girls and boys in miniature worlds designed by themselves. The worlds created by the children here, which date back to twelve wooden soldiers, allow them immediately to escape their close environment. In addition to this, they also shape the subsequent writing of the Brontë siblings. A hundred years later, the author Pauline Clarke in her children's book The Twelve and the Genii brings the wooden soldiers back to life with many intertextual references. The fantastic miniature worlds and doll figures created in these literary texts overcome traditional gender roles and are far more than replicas of the adult worlds.

Keywords: Brontës, wooden soldiers, literary miniature worlds, intertextuality

Zitationsvorschlag: Mikota, J. Von Spielpuppen, Puppenfiguren Und Ihren Miniaturwelten: Ein Blick in Die Welt Der Brontës. de:do 2019, 2, 88-98. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Copyright: Jana Mikota. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Veröffentlicht am: 02.09.2019

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Einleitung

Puppen, Spielzeugsoldaten, das Erfinden von Geschichten und das Eintauchen in Spielwelten gehören zum kindlichen Alltag. „Nur Spielsachen sind’s. Und doch ein Ausdruck der Zeit, wie man ihn wirkungsvoller selten findet. Der Fortschritt in der Nußschale“, heißt es 1912 in der Zeitschrift Deutsche Spielwaren Zeitung (DSZ 1912, 7, 9). Puppenspiel und Puppen als Spielzeug sind einerseits kontextunabhängig, andererseits jedoch auch „ein kontextgebundener Spiegel ihrer jeweiligen Zeit“ (Fooken 2012, 65). Damit stellen die Miniaturwelten, die Kinder im Spiel mit ihren Spielpuppen und Puppenfiguren erfinden, einerseits etwas Freies bzw. Phantastisches dar, andererseits sind sie an Debatten der jeweiligen Zeit gebunden. In kinderliterarischen Texten wird die Faszination des Spielens mit Puppen sowie das Erfinden der Miniaturwelten immer wieder thematisiert, sei es in Klassikern wie Nußknacker und Mausekönig (1816) von E.T.A. Hoffmann oder sei es in aktuellen Beispielen wie Die Zwölf vom Dachboden (1967, englisch: The Twelve and the Genii, 1962) von Pauline Clarke, Die Puppenkönigin (2013, englisch: Doll Bones, 2013) von Holly Black oder Gregs Tagebuch (seit 2008, englisch: Diary of a Wimpy Kid, seit 2007) von Jeff Kinney. Der folgende Beitrag befasst sich mit Miniaturwelten in kinderliterarischen Texten, die vom Puppenhaus bis hin zu Spielen mit Puppenfiguren reichen können. Exemplarisch hierfür werden vor allem Beispiele aus der englischsprachigen Kinderliteratur herangezogen.

Mit der Fokussierung auf das phantastische Spiel mit Spielpuppen und Puppenfiguren wird der Blick auf die traditionellen Puppenwelten erweitert. Dabei sind Puppenfiguren im Gegensatz zu Spielpuppen

keine Einzelwesen, sondern Teil eines Figurenensembles, das gemeinsam eine Art Miniaturwelt repräsentiert. Puppenfiguren sind in der Regel eher unbewegliche Menschenfiguren, die in Zusammenhängen mit anderen Figuren und jeweils spezifisch bedeutsamen Gegenständen komplexe (szenische) Situationen repräsentieren. Die klassische Variante eines solchen thematischen Ensembles von Puppenfiguren ist das Puppenhaus. Aber auch Spielzeugsoldaten und Legionärsfiguren sowie Knappen und Ritterfiguren stellen historische Beispiele für diese Puppenform dar (Fooken 2012, 66).

In dem hier analysierten Material werden zum einen kontextuelle und zeithistorische Bezüge hergestellt, zum anderen wird es aber insbesondere um gegenläufige Tendenzen gehen, vor allem um die Aufhebung klassischer Genderrollen-Themen. Generell gilt, dass das Puppenhaus in der Regel mit weiblichen Kindheiten verbunden und seit dem 19. Jahrhundert in literarischen Werken entsprechend thematisiert wird: Einerseits steht das Puppenhaus für die Unterdrückung der Frau (Beispiel: Nora oder das Puppenhaus, 1879, von Henrik Ibsen), andererseits wird es als ein Miniaturbild der zeitgenössischen Gesellschaft aufbereitet (vgl. hierzu u. a. die Puppengeschichten von Emma Biller, Mikota 2014). Damit wird das Puppenhaus zu einem wichtigen Motiv der Mädchenliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Puppenhaus und Puppen spiegeln hinsichtlich der Einrichtung, der Kleidung und den Rollenbildern die weiblich konnotierten gesellschaftlichen und familiären Strukturen wider (vgl. auch Kümmerling-Meibauer 2014, Stewart 1984, XII). Dem gegenüber existieren männliche Spielwelten, in denen Jungen auf ihre zukünftige Rolle außerhalb des Hauses vorbereitet werden und Puppenfiguren beispielsweise als Soldaten im Mittelpunkt stehen. Während das Puppenhaus somit das häusliche sowie familiäre Umfeld symbolisiert, bedeuten die männlichen Puppenfiguren Aktion und Abenteuer. Genau hier setzt der vorliegende Beitrag mit der Analyse der Miniaturwelten an: der traditionell eher enge Blick auf das Puppenhaus als typische weibliche Welt wird ausgeweitet auf die generellen Spielwelten mit Puppen sowie Puppenfiguren. Die hier beschriebenen kindlichen Akteure erfinden in den ausgewählten literarischen Zeugnissen eigene Welten, geben den Puppen Leben und lassen sie Abenteuer in den erfundenen Welten erleben. In diesen literarischen Zeugnissen wird die Trennung zwischen weiblichem und männlichem Spiel zumeist aufgehoben und die Jungen- und Mädchenfiguren tauchen gemeinsam in die Miniaturwelt ein. Das Spiel mit den Puppen und die Schaffung der Miniaturwelten markiert nicht nur die Erfindungsgabe von Kindern, sondern konturiert Vorstellungen von Kindheiten und ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Verortungen. Die in diesen literarischen Texten aufgebauten Miniaturwelten sind geprägt von intertextuellen Formen wie direkte Zitate, Anspielungen, aber auch in Form von Titeln und Covern.

Der Beitrag beginnt mit dem Spiel der Holzsoldaten der Brontë-Geschwister und ihrer Erfindung neuer Welten und folgt dann mit Die Zwölf vom Dachboden von Pauline Clarke der Geschichte dieser Holzsoldaten weiter. Das hier beschriebene Spiel von Jungen und Mädchen mit einer ursprünglich genuin männlich besetzten Puppenfigur bzw. mit den Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit in fiktiven Miniaturwelten findet sich auch in der aktuellen Kinderliteratur. Als Beispiel sei hier die Figur Greg aus der populären Serie Gregs Tagebuch genannt,1 der ein solches Geschehen ironisch kommentiert. Greg hatte sich als Siebenjähriger ein Barbie-Traumhaus gewünscht, was bei den Eltern zu Irritationen führt:

Als Mom und Dad damals meine Wunschliste gesehen haben, hatten sie einen Streit deswegen. Dad sagte, er kauft mir niemals ein Puppenhaus, aber Mom fand, es wäre gut für mich, mich mit Spielsachen aller Art „auseinanderzusetzen“. Ob ihr’s glaubt oder nicht: Das war ein Streit, den Dad tatsächlich gewonnen hat! Dad hat mir gesagt, ich soll eine Liste machen, mit Spielsachen, die für Jungs „geeignet“ waren“ (Kinney 2008, 117).

Puppenhäuser, Spielpuppen und Puppenfiguren üben somit auch im 21. Jahrhundert eine Faszination aus. Es sind vor allem literarische Texte wie Die Zwölf vom Dachboden und Die Puppenkönigin, die beim Bezug auf das Spiel mit Puppen sowohl von erfundenen Miniaturwelten erzählen als auch das Spiel mit Puppen und Puppenfiguren mit Blick auf gängige Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragen. Im vorliegenden Beitrag werden die Funktionen der spielerischen Erschaffung von Miniaturwelten und deren Bedeutung für kindliche Entwicklung am historischen Beispiel der Brontë-Geschwister und ihrer kinderliterarischen Wirkungen verdeutlicht. Dabei geht es um (Holz-)Soldaten als einer besonderen Form der Puppenfigur, bei denen – ähnlich wie bei den Spielpuppen – durchaus auch Einfühlungsvermögen und Besorgtheit angesagt ist.

Die Brontës und das Spiel um Gondal und Angria

In den Erinnerungen von Reverend Brontë, dem Vater der später berühmt gewordenen Brontë-Geschwister Branwell (1817-1848), Charlotte (1816-1855), Emily (1818-1848) und Anne (1820-1849), heißt es:

Als sie lesen und schreiben gelernt hatten, pflegten Charlotte, ihr Bruder Branwell und ihre Schwestern sich Spiele auszudenken, aus denen der Herzog von Wellington, der Held meiner Tochter Charlotte, in der Regel als Sieger hervorging, wann immer sich ein Streit um seine Vorzüge und die von Bonaparte, Hannibal und Cäsar erhob […] (Maletzke 1997, 72).

Was dem Vater jedoch verborgen bleibt, ist der Ernst der Kinder, mit dem sie ihre Spiele inszenieren:

I see I see appear.
Awful Brannii gloomy giant
Shaking o’er earth his blazing air,
Brooding on blood with drear and vengeful soul
He sits enthroned in clouds to hear his thunders roll
Dread Tallii next like a dire Eagle flies
And on our mortal miseries feasts her bloody eyes
Emii and Annii last with boding cry
Famine and war foretell and mortal misery (Brontë 2010, 325f.)2

Mit diesen Worten der Brontës führt die Biografin Elsemarie Maletzke in das Spiel der Geschwister ein. Bereits in ihrer Kindheit denken sich die Geschwister Branwell, Charlotte, Emily und Anne Geschichten aus, schreiben diese nieder, und es entsteht das, was die Nachwelt als Erzählungen aus Angria kennt.3 Bemerkenswert ist hierbei jedoch, dass die Grundlage der Erzählungen die Spiele der Geschwister sind, in denen sich zeitgenössische, politische Debatten mit literarischen Vorbildern widerspiegeln. In ihrem Reich der Phantasie unterscheiden die Geschwister zwischen geheimen und nichtgeheimen Spielen. Die nicht-geheimen sind der Außenwelt vertraut und die Geheimen nennen sie „Bed plays“ (Brontë 2010, S. 3). Der Alltag der Geschwister ist strukturiert und sie nutzen die freien Nachmittags- und Abendstunden, um in ihre Welten zu flüchten und so auch die Abgeschiedenheit des Ortes zu überwinden. Die vier Kinder wachsen unter schwierigen Bedingungen auf: Die Mutter stirbt früh, ältere Geschwister ebenfalls, der Vater wirkt mürrisch, ist oft in Gedanken versunken und überlässt die Kinder sich selbst und ihrer Tante Tabby. In dem Ort Haworth, der auf einem Hochmoor in Yorkshire liegt, gibt es keine Spielkameraden für die hochtalentierten Kinder. Sie blicken auf den Friedhof, der drei Seiten ihres Hauses umgibt. Die Geschwister lesen viel, bekommen keine Einschränkungen seitens des Vaters bei der Literaturauswahl – für die Zeit erstaunlich modern – und beginnen angeregt durch das Spiel mit den Holzsoldaten mit dem Schreiben von Geschichten. Aus ihren nicht geheimen Spielen entstehen schließlich die drei bekannten Veröffentlichungen: „Our plays were established: Young Men, June 1826; Our Fellows, July 1827; Islanders, December 1827“ (Brontë 2010, 3). Doch wo liegt der Ursprung dieser Geschichten? 1829 beschreibt Charlotte Brontë in Die Geschichte dieses Jahres, wie die Soldatenpuppen in ihr Haus kamen:

Papa bought Branwell some soldiers at Leeds. When Papa came home it was night and we were in bed, so next morning Branwell came to our door with a box of soldiers. Emily and I jumped out of bed and I snatched up one and exclaimed, ’This is Duke of Wellington! It shall be mine!’ When I said this, Emily likewise took one and said it should be hers. When Anne came down she took one also. Mine was the prettiest if the whole and perfect in every part. Emily’s was a gravelooking fellow. We called him Gravey. Ann’s was a queer little thing, very much like herself. He was colled Waiting Boy. Branwell chose Bonaparte. ((Brontë 2010, 3f.).

Was jedoch in Charlottes Geschichte unerwähnt bleibt, ist, dass der Vater auch Geschenke für die Mädchen hatte: „ein kleines Kegelspiel, ein Spielzeugdorf und eine Puppe im Tanzkostüm“ (Maletzke 1997, 73). Diese durchaus genderstereotypischen Spielsachen werden, so vermutet es die Biografin, den Mädchen später geschenkt. Es sind jedoch die Holzsoldaten, die die Herzen der Kinder erobern. Es ist das Spiel mit ihnen, das nicht nur ein Vorbote auf die Weltliteratur ist, sondern auch die schriftstellerischen Anfänge und die Flucht aus dem grauen Alltag der Brontë-Geschwister bedeutet. Die Geschwister schicken ihre Soldaten auf Reisen:

In the year 1793 the Invicible, 74 guns, set sail with a fair wind from England. Her crew – twelve men, every one healthy and stout and in the best temper – their names as follows […]

Well, as I said before, we set sail with a fair wind from England on 1st of March 1793. On the 15th we came in sight of Spain. On the 16[th] we landed, bought a supply of provisions, &c. and set sail again on the 20[th]. On the 25[th], about noon, Henry Clinton, who was in the shrouds, cried out that he saw the Oxeye. ((Brontë 2010, 6.).

Die Holzsoldaten entdecken in ihren Spielen die Westküste Afrikas, kämpfen gegen das Volk der Aschantis, besiegen es und gründen eine Stadt. Folgt man den weiteren Passagen, erkennt man, dass die Kinder Geschichten fabulierten, mit Dialogen spielten und von dem, was sie lasen, beeinflusst wurden. Erschaffen werden vier Königreiche und die Geschwister werden zu den Schutzgeistern der Kolonialisten, nennen sich Dschinne Brannii, Tallii, Emmii und Annii und können strafend, regelnd oder kommentierend in das Spiel eingreifen:

The next morning we were awoke by the sound of trumpets and great war-drums, and on looking towards the mountains we saw descending on the plain an immense army of Ashantees. We were all trown into the utmost consternation except A W [Arthur Wellesley], who advised us to look to the great guns and to man the walls, never doubting that the Genii would come to our help if we of ourselves could not beat them off by the help oft he cannon and rockets. (Brontë 2010, 12.)

Es handelt sich um die Welten von Angria und Gondal, in denen die Geschwister zu „gottgleiche[n] Gebieter[n] über Wesen [werden], die in ihrem Namen die abscheulichsten Taten begehen: Massenmord, Blutrache, Folterungen, Ehebruch, Blutschande, Verrat.“ (Champion 1990, 78). Immer wieder liest man, wie in dem Zitat, den Hinweis auf die Schutzgeister, die in die Geschichte eingreifen. Dabei spiegeln sich in den unterschiedlichen Ansichten über das Spiel der Geschwister Charlotte und Bradwell nieder:

Branwell teilt weder Charlottes Begeisterung für den Herzog von Wellington, die sie bald auf seinen ältesten Sohn überträgt, noch ihr Entzücken an wunderbaren und geheimnisvollen Vorgängen, denen sie lange Passagen widmet. Charlotte wiederum macht das Toben von Großschutzgeist Branii gelegentlich ungeduldig, und sein Hang, ganze Ländereien in Schutt und Asche zu legen, gibt ihr Freiraum, die romantische Seite des Tagtraums auszuschmücken. (Maletzke 2000, 91)

Bereits in der Vorgehensweise leben beide ihr Schreiben aus: Charlotte inszeniert schon als junges Mädchen die Geschichten und entwickelt Figuren, während ihr Bruder dieselben Motive variiert. An Angria arbeiten vor allem Branwell und Charlotte, an Gondal Emily und Anne. Sie sind im Spiel aktiv, tauschen sich aus und modellieren neue Welten. Es sind Wunscherfüllungen und eine „poetische Emigration“ (Maletzke 1989, 7), die mit der Erschaffung der Miniaturwelt einhergeht. Diese sind aufwendig, umfassen etwa 640 Figuren, und im Anhang der deutschsprachigen Ausgabe Erzählungen aus Angria findet sich ein Who’s who einzelner Figuren. Zugleich zeugen die Figuren und Spiele davon, dass die Brontës über politische Ereignisse informiert waren und diese in ihre Miniaturwelten eingeflochten haben. Das Spiel mit den Holzsoldaten stellt somit keine Nachahmung der eigenen Lebenswelt der Brontës dar, sondern sie entwickeln Gegenwelten zu ihren eigenen Erlebnissen. Lediglich die Erfahrungen der Lektüre sowie die politischen Entwicklungen, die sie durch ihre fleißige Lektüre von Magazinen kennenlernen, fließen in die Geschichten ein. Die Miniaturwelten können somit nicht auf bloße Spiegel oder Repliken der unmittelbar erlebten Erwachsenenwelt gedeutet werden, sondern als Übergangsräume, die die künstlerische Kreativität der Geschwister fördern. Die Kinder, die sich seit 1826 die Spiele ausdenken, beginnen diese seit 1829 auch zu verschriftlichen Damit leben die Miniaturwelten weiter. Sie wurden in selbstgebastelten kleinen Heften in einem Format 3,6 x 5,6 cm niedergeschrieben. Als livre miniature passen sie zu den Soldaten und lassen sich verstecken. Insgesamt 23 solcher Büchlein wurden mit Geschichten vollgeschrieben. Damit wird das durchaus verworrene Spiel mit den Holzfiguren auch als Flucht aus dem Alltag genutzt, denn Angria und Gondal entsprechen den Beschreibungen nach nicht dem bekannten Alltag der Kinder, sondern sind spannend, fantastisch und voller Abenteuer. Im Spiel eröffnen sich den Kindern neue Horizonte, sie können ihre Fantasien ausleben, erfinden gläserne Städte und zahlreiche Schufte.

Abbildung 1 (Pauline Clark)

Abbildung 1: Pauline Clark: Die Zwölf vom Dachboden. Die ZEIT Kinder-Edition, Band 15, 2006; Umschlag Grafik: Sybille Hein

„Wunderbares Leben“: Die Wiederentdeckung der Holzsoldaten

Pauline Clarke lernt während des Besuches im Brontë-Museum in Haworth die ausgestellten Notizbücher der Geschwister kennen und erfährt auch von den verschollenen Holzsoldaten der Geschwister. Ihr Besuch ist der Auslöser für den bereits erwähnten Kinderroman The Twelve and the Genii mit dem deutschen Titel Die Zwölf vom Dachboden, der von der Wiederentdeckung der Figuren etwa 100 Jahre später erzählt (vgl. Abbildung 1).

Sowohl im englischen als auch im deutschen Titel fehlt ein Hinweis auf Holzsoldaten bzw. Puppenfiguren, obwohl zumindest der englische Titel eine Verbindung zu den Brontës und ihren Geschichten mit dem Wort „genii“, der Genius oder auch Geist meint, verweist. Der Kinderroman, der 1962 mit der Carnegie Medal und 1968 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, gehört zu den modernen Klassikern der englischen Kinderliteratur (vgl. Kümmerling-Meibauer 2004) und die Handlung spielt im 20. Jahrhundert in dem Ort Haworth. Clarke bezieht dabei die Geschichten der Brontë- Geschwister ein, Branwells Text History of the Young Men kann als ein Prätext betrachtet werden. Charlotte Brontës Sätze aus Die Geschichte dieses Jahres (1826), in der sie die Ankunft der Holzsoldaten im Hause Brontës schildert, lässt Pauline Clarke in ihrem Roman Die Zwölf vom Dachboden wörtlich zitieren. Dabei spinnt sie das Gedankenspiel der Brontës fort und greift die Frage auf, welchen Einfluss die Holzsoldaten und die daraus entstandenen Geschichten auf Romane wie Jane Eyre oder Wuthering Heights hatten. Sie führt die Figur des Brontë-Kenners und Pfarrers Shaffer, der in Haworth lebt, ein und lässt ihn mutmaßen, dass im Spiel der Brontës auch der Beginn der schöpferischen Kraft der Geschwister liegt. Er sieht in der Wahl der einzelnen Holzsoldaten Züge jener Figuren, die die „taubengrauen Schwestern“, wie Arno Schmidt sie taufte, bekannt machen werden: Mr. Rochester in Jane Eyre und Heathcliff in Wuthering Heights. Eine der Holzfiguren, die den Namen „Patriarch“ (Clarke 2006, 73) trägt, gibt Max, der in der deutschsprachigen Ausgabe den Namen Oliver bekommt, zudem den direkten Hinweis auf Branwells Text mit den Worten, er könne alles über die Soldaten „in der ‚Geschichte der Jungen Männer’ nachlesen“ (ebd.). Bei einem Besuch im Pfarrhaus erzählt Pfarrer Shafer ebenfalls, dass die Brontës ihre Spiele in Die Geschichte der Jungen Männer aufgeschrieben hätten. Für Max verschwimmen so die Erzählungen der Soldaten mit realen und konkreten Situationen, was ihn zunächst verwirrt. Erst nach und nach eröffnet sich ihm die Geschichte der Figuren. Auf der paratextuellen Ebene wird die Intertextualität in einem Nachwort konkretisiert.

Bereits die Überschrift des ersten Kapitels – Wunderbares Leben – leitet doppelsinnig in die Lektüre ein: Einerseits begegnen die Leserinnen und Leser dem achtjährigen Max, der gerade mit seinen Eltern und seinen älteren Geschwistern Jane und Philipp aufs Land, genauer nach Haworth gezogen ist. Die Überschrift kann sich somit zunächst auf den neuen Abschnitt in Max’ Leben beziehen. Bereits am Ende des ersten Kapitels wird jedoch deutlich, dass das „Wunderbare“ auch Bezug zur Phantastik nimmt, denn Max hat auf dem Dachboden 12 Holzsoldaten entdeckt. Diese werden lebendig, wenn er ihnen auf einer Trommel einen Marsch spielt und er beobachtet, wie sie auf dem Dachboden in Vierer-Reihen exerzierten (ebd., 9). Ähnlich wie der Wandschrank in den Narnia-Bänden von C. S. Lewis ist es der Dachboden, der zunächst Max eine neue Welt eröffnet (vgl. den Verweis auf die Raumästhetik bei Bachelard 2007). Max betrachtet die Bewegungen der Figren zunächst durch ein Schlüsselloch. Sie erstarren jedoch sobald sie eine Gefahr wittern und werden zu Holzfiguren. Die phantastische, sekundäre Welt, die eines der wichtigsten Merkmale phantastischer Kinderliteratur ist (vgl. auch Nikolajeva 1988), ist im Roman jedoch nur auf die Holzsoldaten begrenzt. Sie sind Bestandteil der primären Welt und wirken, zumindest für die erwachsenen Romanfiguren, wie alte Figuren, die „in ein Museum“ gehören (Clarke 2006, 14):

„Pass auf!“, hatte der Vater gewarnt. „Sie sehen recht zerbrechlich aus.“

Dann hatte er eine der kleinen Gestalten genommen und gründlich untersucht. „Viel Farbe und Zeichnung ist ja nicht mehr vorhanden. Seht einmal diese hohe schwarze Mütze, die er aufhat. Wahrscheinlich sollen es napoleonische Soldaten sein. Falls es sich um Engländer handelt, stammen sie etwa aus Wellingtons Zeit, so weit sich aus der Art ihrer Uniform schließen lässt …“

„Und wie alt ist das?“, drängelte Oliver.

„Gut über hundert Jahre, wenn ich richtig schätze. Geh auf jeden Fall sehr vorsichtig mit ihnen um, hörst du? Ich weiß nicht einmal, ob ich dir erlauben darf, mit ihnen zu spielen.“ (ebd., 14).

Während der Vater in den Figuren etwas Wertvolles entdeckt, weiß Max um den Zauber der Holzsoldaten. Max hat sie „sofort in sein Herz geschlossen“ und „es störte ihn nicht, dass Jane schnippisch meinte, sie seien schäbig“ (ebd.). Er „liebte seine Soldaten vom ersten Augenblick an“ (ebd.) und möchte ihre Herkunft erfahren. Clarke hat die Namen der Soldaten aus Branwell Brontës Notizbücher aufgenommen: Captain Butter Crashey, in der deutschen Ausgabe trägt er den Namen Butterstürzer, 140 Jahre alt, Trompeter Arthur Wellesley, 12 Jahre alt, Matrose Edward Gravey, 17 Jahre alt, Steuermann Stumps, 12 Jahre alt. Dabei zeichnet sich Butterstürzer, auch der Patriarch genannt, durch Weisheit und Würde aus während beispielsweise Gravey missmutig ist. Butter Crashey ist in den Geschichten der Brontë-Geschwister nicht nur der Kapitän des Schiffes Invincible, sondern taucht auch in Charlottes Vermählung erneut auf. Hinzu kommt, dass die Soldaten mehrere Namen tragen: Stumps ist nicht nur Stumps, sondern auch Friedrich Welf, Herzog von York (ebd., 41). Clarke nimmt diese Besonderheiten der ‚Jungen Männer’ auf. Diese Eigenschaften haben ihnen die Brontës gegeben, werden aber von den einzelnen Holzfiguren akzeptiert und ausgelebt. Sie sehen sich als Lebewesen, die sich zwar in gefahrvollen Situationen in Holzfiguren verwandeln, aber vor allem sehen sie sich als Soldaten, die selbstständig und tapfer agieren. Max lernt, dass in dem Spiel mit den Puppen alles möglich ist, lässt sich aber auf die Geschichten der Holzfiguren ein, hört ihnen zu und gleitet so durch ihre Abenteuer. Clarke weitet die Grenzen des Spiels jedoch aus: Während die Brontë-Geschwister Schöpfer der Geschichten um Angria und Gondal sind, wird Max zum Schöpfer und Geschöpf zugleich. Zwar beseelt er die Figuren, aber er lenkt nur bedingt das Spiel. Die Soldaten handeln selbstständig und eigenständig. Als die Soldaten von der drohenden Gefahr hören, beschließen sie, eigenmächtig das Zuhause von Max zu verlassen und ins Museum, ihrem ursprünglichen Zuhause, zu gehen. Dabei erleben sie die Welt außerhalb des Hauses, müssen sich vor Autos schützen und erneut geht Stumps verloren. Er schwimmt im Wasser, trifft dort eine mit Dialekt sprechende Wasserratte, die ihm hilft und mit der er sich unterhält. Mit der Kommunikation zwischen Tier und Holzfigur orientiert sich Clarke an der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur und es lassen sich zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung Nußknacker und Mausekönig sowie zu Hans-Christian Andersens Märchen Der standhafte Zinnsoldat (1862) Rückschlüsse ziehen. Clarke nimmt beispielsweise das Verlorensein eines Soldaten in den Fokus, eine Bootsfahrt und die Begegnung mit einer Ratte. Während sich jedoch in ihrem Roman die Ratte als hilfsbereit zeigt, ist die Ratte in Andersens Märchen böse. Es ist ihre eigene Entscheidung, bei der sie gerne die Hilfe der Dschinns annehmen. Aber sie folgen nicht ihren Dschinns, sondern projizieren auch Vorstellungen in die Dschinns hinein. Es ist die Figur Schläger, die Schlaumeier vorwirft, die „Geister nach deinem eigenen Bilde“ zu denken (ebd., 201, vgl. auch Kuznets 1994). Aber es ist nicht nur er, der über die Dschinns nachdenkt, sondern auch Butterstürzer. Auf der Suche nach Nahrung wird er von einem Bauern gefunden, in eine Tasche gesteckt und ins Haus transportiert. Auf dem Kaminsims sinnt er über die Aufgabe der Dschinns nach, die ihn wieder retten müssen, denn, wenn diese ihn nicht retten können, „wozu gab es dann überhaupt Geister“ (Clarke 2006, 206). Max erkennt, dass diese keine bzw. nur wenig Hilfe akzeptieren. Daher fährt er sie nicht nach Haworth, sondern lässt sie den beschwerlichen Weg selbst laufen. Auch seinen Geschwistern untersagt er, sie zu bevormunden. In der englischen Fassung variiert zudem die Sprache der Soldaten, die sich Dialekte oder einer Sprache bedienen, die sich beispielsweise an der Bibel orientiert. Dieser Aspekt fehlt in der Übersetzung.

Zwischen Max und den Soldaten herrscht eine enge Verbindung, denn sie können miteinander kommunizieren und Gedanken übertragen. Max erfährt ihre Namen, wird zu ihrem Dschinn und erfährt in Träumen, wie es den geflohenen Soldaten geht, und er kann ihnen helfen. Er erlebt im Traum Stumps’ Rückkehr zum Dachboden, in weiteren Träumen die Flucht der Figuren aus dem Haus und kann sich so auf die Suche machen. Als Stumps verschwindet, stellt sich Max nachts seine Rückkehr vor und sieht, dass Stumps so handelt, wie Max es sich vorstellt.

Na ja – eigentlich war es gar nicht so erstaunlich. Schließlich ist das in jedem Spiel so, das man sich ausdenkt. In der Fantasie sind alle Dinge wirklich … und hier war einfach noch etwas dazugekommen, war lebendig und greifbar geworden (ebd., 58).

Max wird so zu ihrem Spielleiter, denn es sind die Geister, die „die Sache wieder in Ordnung“ (ebd., 44) bringen müssen, ohne dass er jedoch die Geschichten und Geschicke der Soldaten so beeinflusst wie die Brontë-Geschwister. Zugleich besitzen die Soldaten ein Gedächtnis, können sich an frühere Abenteuer erinnern und berichten Max davon. Max ist in Branwells Alter, als er die Holzsoldaten entdeckt, anders jedoch als Branwell teilt Max seine Entdeckung weder mit seinen Geschwistern noch besitzt er die ausschweifende Phantasie von Branwell. Max wird zu ihrem Dschinn, einem guten Geist, und damit zum direkten Nachfolger von Branwell Brontë. Max erkennt, dass die Holzfiguren verschiedene Namen und auch Leben besitzen:

So war das mit Soldaten: Sie wechselten ihre Namen, sie starben, sie wurden wieder lebendig, sie verschwanden, sie tauchten wieder auf und waren jemand anders … (ebd., 43).

Max’ Schwester Jane beäugt das Verhalten ihres Bruders, spioniert ihn auf dem Dachboden aus, lernt die Soldaten kennen und kümmert sich um sie. Bereits in den Dialogen zwischen Max und Jane wird deutlich, dass sie zu den Figuren unterschiedliche Beziehungen aufbauen. Jane bezeichnet sie als „süß“, was zu Unmut führt. Max macht ihr klar, dass man die Holzsoldaten weder als süß bezeichnen noch ihnen die Selbstständigkeit nehmen darf. Dennoch ist es Jane, die an das Essen für die Soldaten denkt, von ihren Brüdern jedoch mit den Worten „Oh, die werden sich ihre Verpflegung schon organisieren […] Das tun Soldaten immer“ (ebd., 200) zurechtgewiesen wird. Obwohl Jane sich auf die Abenteuerlust der Holzfiguren einlässt, bleibt sie auch in weiblichen Rollenmustern verhaftet und wird als ein Mädchen entworfen, das sich um ihre Spielsachen kümmert und gerne liest. Sie befindet sich im Übergang vom Kindsein zur Jugendlichen, entdeckt die Welt der Bücher und Max stellt bereits zu Beginn der Geschichte fest, dass sie „einfach zu alt geworden [ist] für ausgedachte Spiele“ (ebd., 45). Die Puppenfiguren werden im Laufe der Geschichte zu Max’ Freunden und helfen ihm, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Clarke lässt den Roman mit der Trennung enden, denn die Soldaten finden im Museum ein neues Zuhause. Max besucht sie regelmäßig, und wenn sie alleine sind

„regt sich der Patriarch und streckt sich warm und lebendig wie eine Eidechse in der Kinderhand. Und mit einem Mal verwandeln sich die Gesichter der Jungen Männer und beginnen zu strahlen und zu leben, und alle sind verschieden, aber jedes ist erfüllt von Unternehmungslust und Freude“ (ebd., 244f.).

Der Schluss symbolisiert die Macht, die Max besitzt. Er ist es, der als Dschinn den Soldaten Leben einhaucht und sie zu unterschiedlichen Individuen erweckt. Diese Macht missbraucht Max nicht, geht damit sorgsam um und akzeptiert auch die Selbst- und Eigenständigkeit der Figuren. Max selbst lässt sich auf die Miniaturwelt ein, erfindet keine neue, sondern gleitet in die Geschichten ein, die ihm die Holzsoldaten schildern und die von den Brontës erfunden wurden. Dabei geht es auch um die Verantwortung zwischen Geschöpf und Schöpfer, die Max trotz seiner jungen Jahre gegenüber den Soldaten spürt und ernst nimmt. Er wird im Laufe der Ereignisse reifer.

Nach und nach werden Max’ Geschwister Jane und Philipp zu weiteren Dschinns der Figuren, ersetzen so die Brontë-Geschwister und sind am Ende vollständig, als der Pfarrer, jener Bronte-Verehrer, den fehlenden vierten Part übernimmt. Besonders in der Begegnung zwischen dem Pfarrer und den Holzsoldaten wird das religiöse Moment deutlich:

Mister Shaffer dachte: Ich kann es nicht glauben. Aber sie sind tatsächlich hier, hier vor meinen Augen. So groß ist die Kraft des Geistes: dass er Dinge lebendig zu machen vermag. Er stellte den Patriarchen wieder zu den anderen. Zu gerne hätte er gefragt, welcher der kleinen Männer Schlaumeier, welcher Griesgram oder Stumps war (den Herzog hatte er sofort an seiner Größe erkannt), aber er besann sich. Es war genug geredet worden, jetzt durfte er sie nicht länger aufhalten (ebd., 230).

Der Pfarrer, der die Geschichten der Brontës kennt und die Figuren auch jeweils zuordnen kann, versteht die Bedeutung der Soldaten und wird so zum vierten Dschinn.

Die erwachsenen Figuren erleben nicht, dass die Holzsoldaten lebendig sind. Vielmehr konzentrieren sie sich auf eine Geschichte, die sie in der Zeitung erfahren haben: Dort bietet ein US-amerikanischer Historiker 5.000 Pfund für das Auffinden der Figuren. Es folgen ein Austausch in Leserbriefen und anschließend auch eine Suche nach den Figuren. Dabei steht die Frage, wem die Figuren gehören, im Mittelpunkt: Dem Museum oder dem Historiker. Während die Eltern der Geschwister nüchtern die Debatte beobachten und kommentieren, ist es der Pfarrer, der sich der kindlichen Welt öffnet und auch die Lebendigkeit der Figuren erleben darf. Der Pfarrer, von Jane Mr. Rochester genannt, ist ein Brontë-Kenner. Auch hier arbeitet der Text doppeldeutig. Als der Pfarrer ins Haus der Familie kommt, stellt ihn der Vater als Brontë-Verehrer vor. Max versteht allerdings den Begriff falsch, denkt er sei ein Brontifehrer, im Englischen „Brontyfan“, und setzt diesen Begriff fälschlicherweise mit prähistorischen Säugetieren in Verbindung. Der erwachsene Leser dagegen erkennt die Verbindung zu den Brontë-Geschwistern und ahnt bereits, dass die Figuren jene sind, denen in der Sage von Angria ein literarisches Denkmal gesetzt wurde.

Bemerkenswert dürfte in beiden Beispielen die Rolle der Eltern sein: Ähnlich wie auch der Vater der Brontë-Geschwister lassen auch die Eltern von Max ihren Kindern viel Freiraum. Max’ Mutter ahnt zwar, dass ihre Kinder auch nachts das Haus verlassen, scheint jedoch nicht besorgt zu sein. Sie vertraut ihnen, gewährt ihnen eine Selbstständigkeit und wird auch nicht enttäuscht. Zugleich erfahren Max und seine Geschwister in der Begegnung mit den Holzsoldaten nicht die eigene Lebenswelt en miniature, sondern neue und phantastische Geschichten. Anders als die Brontës ist Max nicht der Schöpfer dieser Geschichten, sondern erlebt diese auf zweifache Weise: Einerseits in der Begegnung mit den Holzsoldaten, andererseits lernt er die Erzählungen der Brontës kennen. Auch hier können die Miniaturwelten nicht auf bloße Spiegel oder Repliken der unmittelbar erlebten Erwachsenenwelt reduziert werden, sondern als Übergangsräume, die jedoch anders als bei den Brontës weniger die künstlerische Kreativität unterstützen als vielmehr die Selbstständigkeit und den Zusammenhalt der Geschwister fördern. Vor allem für den ältesten Bruder Philipp fungieren die Holzsoldaten als ein Medium der Erkenntnisgewinnung. Sah er in ihnen zunächst nur ‚alte’ Holzpuppen, die er verkaufen möchte, so verändert sich seine Sichtweise und er erkennt ihren kulturellen Wert.

Clarke nutzt nicht nur die Schriften der Brontës, um sich der Thematik der Miniaturen zu nähern, sondern greift auf zahlreiche Klassiker der (Kinder- und Jugend-)Literatur zurück, wie beispielsweise Gulliver’s Travels. Damit eröffnet der Text auch eine Spielart von Intertextualität und bettet diese geschickt in die Welt der Miniaturen ein. Zugleich entzieht sich der Text tradierten Darstellungen von Miniaturwelten, denn plötzlich sind es die Soldaten, die eine eigene Stimme bekommen und nicht die der Kinder, wie es oft der Fall ist. Damit wird der Roman aber auch zu einem Beispiel für eine moderne Puppengeschichte, wie sie im europäischen Kulturkreis seit dem 18. Jahrhundert bekannt ist. Clarke nimmt dabei nicht die Puppe als beseeltes Wesen, sondern (puppenähnliche) Holzsoldaten.

Fazit

In den vorgestellten Romanen geht es einerseits um Spielpuppen und Puppenfiguren, anderseits auch um das Erfinden von abenteuerlichen Miniaturwelten, in denen stellvertretend die Puppen oder die Kinder mit ihren Puppen Abenteuer erleben. Puppen werden in der Forschung als Übergangsobjekte betrachtet (vgl. Fooken 2012), was auch auf die Brontë-Texte und den Roman Die Zwölf vom Dachboden zutrifft. Die Puppen sowie das Spiel mit ihnen ermöglichen den kindlichen Akteuren einen Reifungsprozess, so dass sie in eine neue Phase ihres Lebens eintreten. Die Holzsoldaten unterstützen Max bei der Eingewöhnung im neuen Haus, zugleich lernt er dank der Figuren auch Verantwortung zu übernehmen und erkundet seine Umgebung. Damit werden die Holzpuppen zu wichtigen Gefährten, Anregern und Vertrauten im Prozess kindlicher Identitätsentwicklung. Max als das jüngste Kind der Familie entdeckt das Geheimnis der Soldaten, wird zunächst innerhalb der Familie nicht ernst genommen und wächst dennoch über sich hinaus. Die Holzfiguren fördern zudem seine Kreativität. Sie helfen ihm aber auch, mehr über die Welt der Brontës zu erfahren. Die Holzsoldaten wirken, obgleich ‚militärisches Spielzeug‘, friedlich, erzählen nicht von Kriegshandlungen und klammern so manche Eroberung aus, die sie mit den Brontës erlebt haben. Clarke fokussiert sich somit eher auf die Freundschaft zwischen Max, dem Dschinn, und den Holzfiguren sowie auf seine Verantwortung.

In den hier vorgestellten Geschichten sind es zunächst die kindlichen Figuren, die abenteuerliche Miniaturwelten erschaffen, in denen dann die Puppen ein Eigenleben entwickeln und die Entwicklung ihrer Schöpfer beeinflussen. Bei den Brontës sind es die konkreten (historischen) Kinder selber, die diese Miniaturwelten anhand der Puppen erschaffen und ausgestalten; im Fall von Clarke ist es eine erwachsene Autorin, die mit den literaturhistorischen Vorbildern spielt und ein (fiktives) Kind schafft, das die Puppen in ihrer kohärenten Miniaturwelt höchst kreativ für seine eigenen Entwicklungsschritte nutzen kann. Das ist ein Entwicklungsprozess, der im Spiel miteinander stattfindet: Zunächst betrachtet Max die Holzpuppen als sein Eigentum, teilt sie dann mit seiner Schwester und sie beobachten gemeinsam das Spiel der Holzfiguren. Damit ist das Spiel mit den Puppen als sozialer Akt zu verstehen, der zu veränderten Beziehungen untereinander führen kann und auch die einzelnen kindlichen Figuren verändert. So wird Max mutiger, bleibt trotz Verlockung standhaft und wird von den Eltern gelobt. Kindliche Spiele sowie das Eintauchen in abenteuerliche Welten fördern die Kreativität sowie Phantasie und ermöglichen Kindern Freiräume, die für die weitere Entwicklung notwendig sind. Die hier vorgestellten Texte zeigen die hohe Bedeutung des Spielens mit Spielpuppen und Puppenfiguren für kindliche Reifungs- und Entwicklungsprozesse. Zugleich werden die Kinder zu Spielmachern und kreativen Akteuren, die selber den Dingen Leben einhauchen und sie beseelen. Dabei lernen sie, die Perspektiven zu wechseln. Sie schaffen ihre Spielwelt und betrachten sie zum einen als Gestalter ‚von oben‘ und sie tauchen zum anderen in die Welt der Puppenfiguren ein und erleben sie – über Identifikation – aus der Perspektive der ‚eigenen‘ Betroffenheit der Puppen.

So sind die Miniaturwelten in ihrer Wirkung beeindruckend: Auch wenn Max keine neuen Spiele mit den Holzfiguren spielt, sondern sich zunächst auf die Geschichten der Brontës einlässt, sind es später dann die Figuren selbst, die mit ihrem Auszug das Spiel bestimmen. Damit markiert das Spiel mit den Miniaturfiguren zunächst noch weniger den Übergang zur Jugendzeit als vor allem die Eigenständigkeit des achtjährigen Max. Er reift im Umgang mit den Figuren, übernimmt Verantwortung und wird selbstbewusster. Aber auch Max’ Geschwister verändern sich durch die Begegnung mit den Figuren. Seinem älteren Bruder Philip, der zu Beginn die Soldaten verkauft hätte, werden die „lebendigen kleinen Männer […] viel wichtiger […] als alles Geld der Welt“ (S. 210).

Neben der Bedeutung des Spiels mit den Holzfiguren sowie der Phantasie, bewahrt Clarkes Roman auch die Erinnerung an Branwell Brontë und seine Geschichten. ‚Butterstürzer‘ erzählt Max etwas aus dem Leben in Haworth:

Er [Branwell] war ein Dschinn voller Einbildungskraft. Was hat er sich nicht alles für uns ausgedacht! Und wie hat er es uns erzählt ... Aber ach […] Macht und Ruhm vergehen. Nur wenige lesen heute noch die Berichte der Abenteuer, die er damals niederschrieb. (Clarke 2006, 224)

Damit bekommen literarische Texte, in denen Miniaturwelten und Spielpuppen sowie Puppenfiguren entworfen werden, noch eine weitere Bedeutung: Sie verweisen in der Regel – ähnlich wie literarische Texte generell – auf andere Geschichten aus der Welt der Puppen und halten diese lebendig. In einem Gedicht hält Charlotte Brontë 1835 den Wunsch und die Sehnsucht der kindlichen Akteure fest, diese Welten festzuhalten (Brontë 2010, 151):

We wove a web in childhood

We wove a web in childhood
A web of sunny air
We dug a spring in infancy
Of water pure and fair

We sowed in youth a mustard seed
We cut an almond rod
We are now grown up to riper age
Are they withered in the sod

Are they blighted failed and faded
Are they mouldered back to clay
For life is darkly shaded
And Its joys fleet fast away4

Neun Jahre später blickt Brontë auf die Kindheitstage zurück und man kann mutmaßen, dass mit dem „they/sie“ in der zweiten Strophe die Holzsoldaten gemeint sind, die sie an sonnige Kindertage erinnern. Mit diesen Puppenfiguren wurde ein „Senfkorn“ gepflanzt, das in der Phantasie der vier Geschwister aufgeht und in der Literaturgeschichte eine einzigartige Wirkung enfaltet (vgl. auch Maletzke 1989, 7). So kann auch Clarke diesen Faden aufgreifen und weiterspinnen. Mit ihrem Kinderroman weckt sie erneut die Erinnerungen an die ungewöhnlichen Holzsoldaten und belegt einmal mehr, dass Miniaturwelten mitsamt ihren Akteuren viel mehr sind als reine Repliken der erwachsenen Welten.


[1] Gregs Tagebuch ist eine mehrbändige Serie des US-amerikanischen Autors Jeff Kinney, die in Deutschland seit 2008 erscheint. Im Mittelpunkt steht der 12jährige Greg, der in einem Tagebuch seinen Alltag, seine Schwierigkeiten in Schule und Freizeit schildert. Da Greg jedoch das Schreiben eines Tagebuches als etwas Weibliches bezeichnet, inszeniert er sein Schreiben als Memoiren. Comic-Zeichnungen ergänzen die Ausführungen des Ich-Erzählers Greg.

[2] Ich sehe, sehe erscheinen
Den schrecklichen Brannii, den düsteren Riesen,
Wie er mit glühenden Atem die Erde versengt,
Blutdurst in seiner finsteren, rachsüchtigen Seele
Thront er in Wolken,
um seinem Donnergrollen zu lauschen.
Und ihn fliegt die gefürchtete Tallii wie ein grauser Adler
Und weidet ihre blutigen Augen am Schmerz
der Sterblichen.
Emmii und Annii zum Schluß
Künden mit unheilvollem Schrei
Krieg, Hungersnot und Elend. (Maletzke 1997, 72f.)

[3] Angria ist eine Provinz im Königreich von Angria, gegründet von Warner Howard Warner. Vorbild dürfte Yorkshire sein aufgrund des Dialektes und die Hauptstadt ist von Moor umgeben (vgl. Brontë 2010, 605).

[4] Rückblick

Wir woben ein Netz in der Kinderzeit,
Ein Netz aus sonnigem Schein,
Eine Kindheitsquelle gruben wir,
Ein Wasser klar und rein.

Jung pflanzten wir ein Senfkorn ein,
Brachen das Mandelreis noch grün;
Wir sind nun erwachsen geworden, doch sie –
Verdorrten sie mitten im Blühn?

Sind sie erstickt und zu Tode ermattet,
Wurde zu Asche, was Feuer schien?
Denn das Leben ist dunkel umschattet
Und seine Freuden ziehn schnell dahin. (Brontë 1989, 7)


Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Black, Holly (2013). Die Puppenkönigin. München: cbj

Brontë, Charlotte (2016). Erzählungen aus Angria. Hgg. von Jörg Drews. Aus dem Englischen von Michael Walter und Jörg Drews. Frankfurt am Main: Insel-Verlag

Brontë, Charlotte, Branwell, Emily, Anne (1989). Angria & Gondal. Hgg. von Elsemarie Maletzke. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag

The Brontës (2010): Tales of Glass Town, Angria, and Gondal. Selected Writigs. Hg. von Christine Alexander. Oxford: Oxford University Press.

Champion, Jeanne (1990). Sturmhöhen. Das einsame Leben der Emily Brontë. München: Goldmann Verlag

Clarke, Pauline (2006). Die Zwölf vom Dachboden. Hamburg: Zeitverlag

Die Spielwarenindustrie - ein stetiger Fortschritt, in: DSZ 1912, Heft 12 vom 1. Juni 1912, S. 5-9.

Kinney, Jeff (2008). Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt! Köln: Baumhaus

Spark, Muriel (2003). In sturmzersauster Welt. Die Brontës. Zürich: Diogenes


Sekundärliteratur

Bachelard, Gaston (2007). Poetik des Raums (8. Auflage). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Drews, Jörg (2016). Nachwort. In Charlotte Brontë, Erzählungen aus Angria. Hgg. von Jörg Drews. Aus dem Englischen von Michael Walter und Jörg Drews (S. 265-288). Frankfurt am Main: Insel-Verlag

Fooken, Insa (2012). Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut (unter Mitarbeit von Robin Lohmann). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Fooken, Insa (2014). Mehr als ein Ding. Vom seelischen Mehrwert der Puppe. In Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 43-54). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Fooken, Insa, Mikota, Jana (Hg.) (2014). Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Kümmerling-Meibauer, Bettina (2004). Clarke, Pauline. In Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.). Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Band 1: A-G. (S. 224-226). Stuttgart: Metzler

Kümmerling-Meibauer, Bettina (2014). Das Puppenhaus in der Kinderliteratur: Miniaturwelten als Spiegelwelten. In Insa Fooken, Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen (S. 149-159). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Kuznets, Lois Rostow (1994). When toys come alive. Narratives of animation, metamorphosis, and development. New Haven and London: Yale University Press

Maletzke, Elsemarie (1997). Das Leben der Brontës. Eine Biographie. Frankfurt am Main: Fischer

Maletzke, Elsemarie (1989). Angria. Emigration ins göttliche Land der Gedanken. In Charlotte, Branwell, Emily, Anne Brontë. Angria & Gondal. Hgg. von Elsemarie Maletzke. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag

Stewart, Susan (1984). On longing: Narratives oft he miniature, the gigant, the souvenir, the collecion. Baltimore: Duke UP



About the author / Über die Autorin

Jana Mikota

Dr. phil., Oberstudienrätin im Hochschuldienst an der Universität Siegen; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Theorie des Kinderromans, Kinder- und Jugendliteratur der DDR, kulturwissenschaftliche Bedeutung von Puppen.

Jana Mikota

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