de:do denkste:<i> puppe</i>
denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.2 Nr.1 (2019) | Rubrik: Fokus


Flucht-Räume und Zufluchtsorte – Die Miniatur- und Puppenwelten des ‚Grafen von Kiedorf‘ als Inszenierung einer neuen Ordnung1

Lúcia Bentes



Focus: puppen als miniaturen – mehr als klein
Focus: dolls/puppets as miniatures – more than small



Abstract:
Am Beispiel der Rokoko-Miniatur- und Puppenwelt des (selbst ernannten) ‚Grafen von Kiedorf‘, dem in der DDR als Bühnenbildner und Miniaturist tätigen Manfred Kiedorf, werden Funktion, Wirkung und Formen der Auseinandersetzung mit dem Raum der Miniatur betrachtet. Als Quelle und Deutungsrahmen wird nicht so sehr die konkrete Miniaturwelt an sich zu Grunde gelegt, sondern ein literarischer Text des Autors Volker Handloik über diese exzentrische, mit Hintersinn und vielen Brechungen ausgestattete ‚Anti-Welt‘ und ihren Schöpfer. Die Analyse der vorliegenden ‚Bild-Text-Struktur‘ des Textes differenziert zwischen dem Diskurs des Erzählers und der Selbst-Präsentation des porträtierten Miniaturisten und arbeitet in der Verbindung beider Perspektiven die Funktion, Bedeutung und inszenatorische Wirkung dieses Gesamt-Ensembles einer Puppen- und Miniaturwelt heraus. Es handelt sich um eine alternative Welt, deren utopischer Entwurf aber letztlich nicht realisiert wird.

Schlagworte: Miniaturwelt; Rokoko; Graf von Kiedorf; Utopie; neue Ordnung

Abstract:
The example of the rococo miniature and doll worlds of the (self-proclaimed) 'Count of Kiedorf', the stage designer and miniaturist Manfred Kiedorf who lived and worked in the GDR, is used to examine the function, effect and forms of dealing with the space defined by miniatures. The referential source and frame of interpretation is not so much Kiedorf’s concrete miniature world itself, but a literary text by the author Volker Handloik about this eccentric 'anti-world' and its creator, which is endowed with deeper meaning and ironic refractions. The analysis of the text's ‘image-text structure’ differentiates between the discourse of the narrator and the self-presentation of the portrayed miniaturist. By combining these two perspectives, the function, meaning and staging effects of this overall ensemble of a miniature and doll world are revealed. It is an alternative world whose utopian design is ultimately not realized.

Keywords: miniature world, rococo, Count of Kiedorf, utopia, new order

Zitationsvorschlag: Bentes, L. Flucht-Räume Und Zufluchtsorte – Die Miniatur- Und Puppenwelten Des ‚Grafen Von Kiedorf‘ Als Inszenierung Einer Neuen Ordnung. de:do 2019, 2, 99-106. DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Copyright: Lúcia Bentes. Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:467-14632

Veröffentlicht am: 02.09.2019

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Einführende Anmerkungen zu Quellenmaterial und beteiligten Akteuren

Ziel dieses Beitrags ist es, die Inszenierung einer (neuen) Ordnung im Rahmen einer ungewöhnlich phantastischen Puppen- und Miniaturwelt zu untersuchen. Bezug genommen wurde dabei auf die Vorgaben von Gaston Bachelard (1957/2007) zur Poetik des Raums wie auch auf den ‚Call for Papers‘ für das Themenheft der Zeitschrift „de:do“ (vgl. CfP – Puppen als Miniaturen – mehr als klein 2018, o. S.), in dem davon ausgegangen wird, dass „Puppen und ihre Umwelten […] Bilder und Narrative“ erzeugen, denen „vielerlei Symbolik und Bedeutungsüberschuss“ zugeschrieben werden kann. Worum geht es? Es geht um das Miniatur-Werk Schlösser der gepriesenen Insel bzw. um die Rokoko-Königreiche Dyonien und Pelarien des Bühnenbildners und Miniaturisten Manfred Kierdorf, ein Werk, das er zusammen mit dem Jugendfreund Gerhard Bätz aus dem thüringischen Sonneberg über mehr als 50 Jahre geschaffen hat (vgl. Thüringer Landesmuseum Heidecksberg o.J.)2. Insbesondere soll hier im Folgenden das Selbstverständnis des Schöpfers dieser prunkvollen Miniaturwelt des ‚Grafen von Kiedorf‘ analysiert werden. Bereits in der Anfangsphase dieses Projekts haben sich beide Künstler, Kiedorf und Bätz, von der „goldenen Zeit“ des Barocks, insbesondere von der ästhetischen Bewegung des Rokokos inspirieren lassen (ebd.). 2006 erwarb das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg in Rudolstadt das Gesamtkunstwerk, das seit 2007 als Dauerausstellung dort gezeigt wird und die akribischen Kenntnisse der beiden Schöpfer über höfisches Zeremoniell, Architektur- und Kostümkunde des 18. Jahrhunderts dokumentiert (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1 (Rococo)

Abbildung 1: Rococo en Miniature © Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt; Foto: U. Fischer

Dabei geht es im Folgenden nicht so sehr um eine systemische Untersuchung dieser Miniaturwelt an sich, sondern um die Rezeption und Deutung von Anspruch, Umsetzung und Selbstverständnis ihres Schöpfers. Dafür wurde der literarisch-essayistische Text Das Reich der Grafen von Kiedorf von Volker Handloik3 (1998) analysiert, der in der 1998 in erster Auflage erschienenen Anthologie Die DDR wird 50. Texte und Fotografien (Handloik u. Hauswald, 1998) erschienen ist. Interessanterweise finden sich vielfältige ironische Brechungen nicht nur in diesem Essay sowie in den zahlreichen weiteren Texten über Alltag und Boheme-Leben in der DDR, sondern auch bereits im Titel der Anthologie, der augenzwinkernd mit Doppeldeutigkeit spielt: Im Jahr 1998 bestand die DDR nicht mehr und sie war ohnehin nur etwa vierzig Jahre alt geworden. Genau das macht den unterschwelligen Sound des hier herangezogenen Textes über die Beschreibung des Königsreichs Dyonien aus. Auch wenn Manfred Kiedorf als Schöpfer dieses exzentrisch-kreativen Projekts die Hauptfigur des Textes ist, geht es auch um die Figur des Erzählers im Text (Handloik), der sich von diesem Bühnenbildner und Miniaturist inspirieren und zu Reflexionen über Formen von künstlerischer Existenz und Widerständigkeit in der DDR hat anregen lassen. In ähnlicher Weise wird in diesem Zusammenhang auch der Nachruf auf Kierdorf von David Ensikat (2015) als weiterer Deutungsrahmen herangezogen.

Verborgene Orte und ‚Anti-Welten‘ – die Verwirklichung neuer Ordnungen?

Typographische, sprachliche und formale Merkmale

Dem Text ist ein Motto des österreichischen Schriftstellers Gustav Meyrink vorangestellt, das vom Kontrast zwischen einer unsichtbaren und einer sichtbaren Welt ausgeht. Der unsichtbaren Welt wird hier eine größere Kraft zugeschrieben, da für sie das Verb „durchdringen“ verwendet und somit die notwendige Macht zugeschrieben wird, um die sichtbare Welt zu beherrschen: „Es gibt eine unsichtbare Welt, die die sichtbare durchdringt. Gustav Meyrink“ (Handloik u. Hauswald 1998, 175).4 Im gesamten Text zeigt sich unmittelbar und durchgehend eine bestimmte ‚Bild-Text-Struktur‘, die im Folgenden kurz erläutert wird. Der zunächst normal gesetzte Text ist nachfolgend durch eine Reihe von Passagen mit Kursivschrift durchsetzt, die zur Betonung der Fiktivität der porträtierten Figur beitragen. In der Abfolge der verschiedenen Absätze sind es daher drucktechnische Elemente, die auf der optischen Ebene zur Unterscheidung zwischen dem Diskurs des Erzählers und der porträtierten Figur Manfred Kiedorf beitragen. Dabei ergänzen sich beide Varianten, vor allem in Bezug auf das Verständnis des Lebenswegs und der künstlerischen Laufbahn von Kiedorf. In jedem Fall sensibilisiert der Wechsel der Schriftarten, senkrecht oder kursiv, die Leser für die unterschiedlichen Themen, die in den jeweiligen Abschnitten angesprochen werden. Die sechs Textpassagen, die kursiv in der ersten Person Singular gefasst sind, drücken die persönliche Sichtweise von Kiedorf über sein erfundenes, irreales und fantastisches Reich aus. In ihnen beschreibt er die unterschiedlichen Räume seiner Miniaturwelt, die Figuren, ihre Funktionen und Biografien. Hierzu gehört auch ein Gedicht als letztes kursiv gefasstes Textstück, geschrieben in der Sprache „Ur-Pezianisch“ (ebd., 179), die von Kierdorf für sein Reich neu erfunden wurde. Man versteht von den fünf Zeilen dieses Gedichts allerdings nur die erste, weil sie zuvor bereits im Text übersetzt worden war (ebd., 176). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Kiedorf den Miterschaffer der Miniaturwelt und realen Freund aus seinem wirklichen Leben, Gerhard Bätz, nur ein einziges Mal erwähnt und zwar an der Stelle, an der er den Sprachgebrauch im Alltag und in der lyrischen Produktion in seinem Reich beschreibt: „Sie übermitteln der Außenwelt die höfischen Begebenheiten nicht in hochdeutsch, sondern in ur-pezianisch. Ihre pezianische Lyrik verstehen nur mein Freund, Gerhard Bätz, und ich“ (ebd.).

Die sieben Ausschnitte, die hingegen in der dritten Person Singular und in senkrechter Schriftart gefasst sind, teilen die Ansicht des Erzählers über das Lebens- und Kunstprojekt von Kiedorf mit. Sie enthalten verschiedene Arten von Informationen, die die eigenen Beschreibungen Kiedorfs ergänzen. Die Reihenfolge der Abschnitte, hervorgehoben auf typographischer Ebene, ist allerdings nicht chronologisch geordnet und könnte im Prinzip auch verändert werden. Einzelne Fragmente werden eher nebeneinandergestellt, so dass kein kontinuierlicher Lesefluss entsteht.

Räume als Schutz und Gegenwelt

Handloiks Text charakterisiert gleich zu Beginn den Raum, in dem Kiedorfs Projekt verortet ist. Angesichts des konkreten und begrenzten Raumes der Kiedorfschen Wohnung in der äußeren Welt und des scheinbar unendlichen Raums der anderen, inneren Welt des Miniaturreiches wird der Kontrast zwischen ‚klein’ und ‚groß’, ‚Sichtbarem’ und ‚Verstecktem’, ‚real’ und ‚fiktiv’ unmittelbar evident. Der reale Raum ist „[e]ine Hinterhofwohnung in Berlin-Mitte“ (ebd., 175) wenig belüftet, in der Kiedorf mit seiner Frau lebt. Der Raum ist dunkel und verborgen, mit stickiger Atmosphäre und steht im Gegensatz zu Kiedorfs alternativen Welt. Später im Text setzt Kiedorf diesen Raum mit dem Gefängnis gleich, in dem er drei Jahre am Ende der 1970er Jahren inhaftiert war, als er versucht hatte, aus der DDR zu flüchten: „Der Knast entläßt ihn in einen anderen Knast“ (ebd., 178).

Tatsächlich weist die neue Wohnung im Zentrum Berlins Ähnlichkeiten mit einem Gefängnis auf: „Er beginnt in eine der ebenso zahlreichen wie finanziell armseligen und sozial typischen DDR-Nischen zu schlüpfen, die in Berlin zu haben waren“ (ebd., 178). In dieser Lebensphase folgt er auch dem Leitsatz: „Beresheim nün Holz, net!“ („Fürchte dich nicht, Mensch!“; vgl. ebd., 178). Diese direkte Aufforderung, geschrieben in Kiedorfs erfundener Sprache Prezianisch (vgl. ebd., 179), veranlasst ihn, sein kreatives Projekt wieder aufzunehmen und an ihm weiter zu arbeiten, denn „Kiedorf baut an seinem Schloß ungestüm weiter, […]“ (ebd., 178). Man kann davon ausgehen, dass ein solcher Leitsatz, wie der hier auf Prezianisch mit Ausrufungszeichen versehene, eine subjektiv als hoch bedrohlich erlebte Außenwelt voraussetzt. Der daraus abgeleitete Grundsatz für das Leben in dieser Gesellschaft lautet: Lernen zu müssen, wie man leben soll, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die allzeit auftreten können. In diesem Zusammenhang bedeutet die Erfindung einer neuen Sprache die Möglichkeit, eine neue, andere Welt zu imaginieren und zu gestalten, die damit eine Art Schutz gegen die (feindliche) Außenwelt darstellt.

Inszenierungsstrategien und ihre Wirkungen

Kiedorf präsentiert sein künstlerisches Projekt dem Besucher (Handloik) und damit auch den Lesern und Zuhörern. Dafür verfügt er über ein Modell im Miniaturformat und nutzt die Inszenierung als das geeignestete Mittel, um sein kreatives Werk, das heißt, seinen Traum einer neuen Ordnung, vorzuführen. Kiedorf lädt den Besucher ein, in diesen Traum einzutreten, an dem er bereits seit dreißig Jahren arbeitet und weiter plant: „Kiedorf hat nicht das Modell einer realen Welt geschaffen, sondern einen dreidimensionalen Fortsetzungsroman. Einen Traum, in den er jeden, der mag, einlädt“ (ebd., 178). Er hat ein Reich erschaffen, das sich sowohl auf die Vergangenheit des späten Barocks bzw. des Rokokos bezieht als sich auch auf eine nicht festgelegte Zukunft projizieren lässt. Dabei könnten die diesem ‚Grafen‘ attestierten Bilder nicht schillernder und kontrastierender sein, wenn man überlegt, welch vielfältige Ausbildungen und beruf liche Tätigkeiten Kiedorf tatsächlich absolviert hat und wie er dann andererseits von Ensikat (2015) in dessen Nachruf beschrieben wird: „Er war ein Gott, ein Säufer, ein Genie“, er sah sich als Gulliver und bezeichnete sich als (Gott) „Pe” oder „M”. Die biografischen Angaben über Kiedorf und Bätz auf der Homepage des Thüringer Landesmuseum Heidecksberg (o.J.) ergänzen Handloiks Text in dieser Hinsicht sicherlich, da hier vor allem das eindrucksvolle handwerkliche Können dokumentiert wird.

Dabei verweist die Darstellung der Figur Kiedorf in Handloiks Text (1998) von Anfang an auf das Phänomen einer vieldeutigen Inszenierung. Trotz – oder wegen – der Zuschreibung göttlicher Eigenschaften, scheint die Figur des Künstlers auch immer wieder ironisch gebrochen. Kiedorf stellt sich als Gott mit Namen “Pe” vor, aber, im Gegensatz zu Gott, der die Welt erschaffen hat, lebt er in einer bescheidenen Wohnung und öffnet dem Besucher die Tür in einem einfachen Bademantel: „Im Bademantel öffnet Gott Pe die Tür, bittet huldvoll hinein, geleitet in die Gemächer“ (ebd., 175). Er übt Gesten aus, die einer Audienz angemessen sind: „Kiedorf machte eine gnadenreiche Geste“ (ebd.). Erst im nachfolgenden Absatz wird deutlich, dass es sich um einen Besucher handelt, der in Kiedorfs Wohnung eintritt. Nachdem der Erzähler das kreative Projekt im Wohnzimmer geortet hat, nennt er den Namen der Hauptfigur und weist ihn als Gott Pe und Manfred Kiedorf aus bzw. als Grafen von Kiedorf: „In diesem Reich ist Manfred Graf von Kiedorf Gott. Er ist Gott Pe“ (ebd.). In seinen eigenen Worten betont Kiedorf seinen hohen sozialen Status und räumt Zweifel aus: „Selbstverständlich bin ich der Herr von dem Ganzen hier“ (ebd.). Die Ablehnung der DDR als politische und soziale Realität und seine Hinwendung zu königstreuen Regierungen in Barock und Romantik spiegeln sich in der Gestaltung seines Reiches wider, das von realen Figuren aus der Barockzeit bewohnt wird. So verwundert es nicht, dass er sich mit einem barocken Schlossherrn vergleicht: „Wie ein barocker Schloßherrr strebe ich nach Vollkommenheit, [...]“ (ebd., 177). Passend dazu hat er sls Gott und Graf „[…] ein Ensemble daumengroßer Barockfigurinen“ (ebd., 175) als Untertanen.

Der Vergleich mit Gott liegt angesichts der Außergewöhnlichkeit seines Werkes und der Zeitdauer, die sein Projekt beansprucht, auf der Hand: „Seit mehr als drei Jahrzehnten bastelt er – wie der wahre Weltenschöpfer seit Urzeiten schon – am Leben seiner Untertanen“ (ebd., 176). Als genialer Erfinder steht er im Mittelpunkt seines Werkes: „Und er erdachte für das Land Dionien eine eigene Mythologie, in deren Mittelpunkt – natürlich – sich Kiedorf selbst befindet: als Gott Pe“ (ebd.). Aber es gibt auch viel Gegensätzliches bei ihm. Die Bekleidung in seiner Wohnung, tagsüber, steht im Kontrast zu der Kleidung, die er benutzt, wenn er nachts durch die Bars zieht. In seiner Selbstinszenierung wird er selber zu einer barocken Figur mitsamt espressiv artikulierter Gestik und prachtvoller Kleidung. Seine Requisiten scheinen aus der Unterhaltungsbranche zu kommen. Aber in beiden Welten, drinnen und draußen, präsentiert er ein Bild von sich selbst, das sich immer am Rande von Lächerlichkeit und Überzeichnung bewegt:

Tagsüber läuft er ein wenig schlampert in einem Bademantel durch die Wohnung, trägt eine dreifach geflickte Zelluloid-Brille und pafft krumme Virginias. Abends, wenn er sich in der Ostberliner Künstlerboheme herumtreibt, raucht er spendierte 100-Mark-Havannas, führt einen Frack spazieren, Hackenschuhe mit Goldbesatz, Prinzenhemd, Krawatte und dazu den dänischen Hausorden am Revers, einen Spazierstock mit Silberknauf – der dem Grafen Eszterházy gehört haben soll – und eine undefinierbare Stoffmütze mit Anklängen an Wagnersche Flanellschlappen [...] (ebd.).

Der Erzähler greift diese Beispiele auf, um den Einfallsreichtum von Kiedorf zu verdeutlichen, der unerlässlich ist, um diese Projekt zu realisieren Allerdings läuft er genau deswegen auch Gefahr, als unangepasst wahrgenommen und in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert zu werden, in einer Gesellschaft, die eine solche Art der Kreativität, die sich in Träumen und schrägen Visionen offenbart, nicht versteht: „Weniger kryptische Geister als Kiedorf sind in psychiatrischen Anstalten von ihren Träumen geheilt worden“ (ebd., 178). Letztlich stimmen aber Erzähler und Hauptfigur im Text angesichts dieser Art des Wahnsinns überein: „Er ist ein Narr unter Narren; er weiß es wohl [...] Er wird Kauz, barocker Bauherr und Pyromane des Geistes“ (ebd., 176).

Auseinandersetzung mit biographischen und zeitgeschichtlichen Prägungen

Die biographischen Informationen über Kiedorf, die der Erzähler im zweiten, in senkrechter Schrift verfassten Abschnitt vorstellt, zeichnen die Entwicklung des Lebens- und Berufswegs des Künstlers nach. Geboren in einem Flugzeug, das die Stadt Berlin 1936 überfliegt, aufgewachsen im heutigen Polen, in seiner Jugend die „fürstliche Boheme in Weimar“ (ebd., 175) erfahren – all das sind Aspekte, die seine besondere Beziehung zu den Ereignissen verdeutlichen könnten, die zwischen den beiden Weltkriegen geschehen sind. Die Verbindung mit dem späten Barock und der Romantik und der Glaube an die „Utopie von einer Welt der Aufklärung“ (ebd.,), die sich in seinem Miniatur-Projekt widerspiegeln, sind auch eine Form der Verarbeitung der Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Zur Zeit des im Text beschriebenen Besuchs lebt er mit seiner (damaligen) Frau Regina in der DDR (vgl. ebd., 177) und seine Unzufriedenheit mit dem politischen System der DDR ist offenkundig: „Wegen einer bizarren Fluchtgeschichte Ende der Siebziger wird er zu drei Jahren Knast verurteilt“ (ebd., 178). Ihm drohten Berufsverbot als Illustrator (von Bildgeschichten) und Grafikdesigner. Dabei waren es genau diese beruflichen Kompetenzen, die er brauchte, um sein utopisches Projekt durchzuführen. Er begibt sich auf eine andere Ebene. So befindet sich das Reich des Grafen von Kiedorf auf der Ebene des Traums und steht im Widerspruch zur realen Gesellschaft, in der sich die Figur Kiedorf machtlos und hilflos fühlt. Auf der Traumebene hingegen erlebt sich Kiedorf als Gott, der jegliche Entscheidungsbefugnis gegenüber seinen Untertanen, den Figuren seines Reiches, hat. Diese Souveränität sowie die von ihm ausgeübte Manipulation der Schicksale seiner Figuren zeigt Anklänge an die Kunstform des Marionettentheaters:

Der Traum von einer anderen Zeit und Wirklichkeit ist geblieben. Ich bin die Gottheit von denen, es ist ein wunderbares Gefühl, Gott zu spielen. Man kann die Menschen erhöhen, sie können in Ungnade fallen oder Huld erhalten. Nur die Königin darf nicht verspottet werden, das bedeutet Kerker, Grauenstein, ganz unten! Ich sage, wer wen heiratet, wer welches Metier ausübt, wie eben so die Laune ist (ebd., 177).

Obwohl der Erzähler in der Figur Kiedorf den Gott wahrnimmt, der unabhängig seine alternative, von verschiedenen Figuren bevölkerte Welt gestaltet, weiß er unterschwellig „in jeder stecke sicher etwas von seinem Ich“ (ebd., 177). So sind sie für die fiktive Gestalt des Gotts in Wirklichkeit, „Teile seiner rückwärtsgewandten Utopie“ (ebd.). Die Figuren somit als verlängerte Anteile des Künstlers zu deuten, könnte allerdings wiederum auf eine komplexe psychische Störung verweisen. Aber in der Darstellung des Erzählers wird von der Annahme einer psychopathologischen Ausprägung multipler Persönlichkeiten im Falle von Kiedorf Abstand genommen. Auch Kiedorf selbst lässt für sich eine übliche Schizophrenie mit Halluzinationen, Paranoia und Wahnvorstellungen nicht gelten: „Multi-Schizoität sei das, meint er, nicht Zweigeteiltheit, nein, Vielgeteiltheit“ (ebd.). Dadurch kann man Figuren Autonomie geben, so als ob sie ein eigenes Leben hätten. Die Aufgabenverteilung unter den Figuren im Reich von Dyonien ist dem entsprechend ein Ausdruck der Verselbstständigung jeder einzelnen Figur in Bezug auf ihren Erschaffer Kiedorf:

Nicht Kiedorf hat den neuen Marmorsaal entworfen, sondern der Hofarchitekt. Nicht Kiedorf hat die Gemälde gemacht, sondern der Hofmaler. Nicht Kiedorf hat die neue Ode an den König Talari geschrieben, sondern der Hofästhet Lobreich Eisendank. Was an der Residenz zu verbessern sei, hat der König in einem Erlaß erlassen, nicht Kiedorf hat dies beschlossen (ebd.).

Weltaneignung und Abgrenzung

Kiedorfs Einfallsreichtum zeigt sich im Erfinden zahlreicher Räume und räumlicher Anordnungen in seinen Schlössern. Im kleinen Wohnzimmer seiner (realen) Wohnung ist es ihm möglich, ein Gegen-Projekt im großen Maßstab zu entwickeln. Dabei wird in der großräumigen Gestaltung seiner Miniaturwelt der Gegensatz zwischen konkreten bzw. realen und abstrakten bzw. irrealen Räumen besonders deutlich. Seine alternative Welt befindet sich zweifellos auf einer imaginären Ebene, einer poetischen und fiktiven Ebene, die in räumlicher Hinsicht riesig und grenzenlos ist und den Raum öffnet – eine Nische in der DDR. „[…] da er nun ein besonderes Interesse an riesigen Räumen hat, auch wenn diese imaginär sind. [...] Er malt Transparente und Plakate. Kilometer von Transparenten habe er gemalt, damit hätte man das Rote Rathaus einwickeln können“ (ebd., 178). In Handloiks Text (1999) lädt Kiedorf den Leser in sein Reich ein, dem er den Namen Dyonien gegeben hat. Verschiedene Monumente sind Bestandteile dieses Reiches: drei Schlösser, ein Mausoleum, ein Tempel und eine Grotte. „Ich lade Sie ein zu einem Besuch ins Königreich Dionien mit seinen Schlössern Pyrenz, Diona, Schloss Grauenstein, dem Königlichen Mausoleum, dem Tempel des Lichts und der Grotte des Gruderich“ (ebd., 175). Die Erkundung des Raumes erfolgt über Kiedorf, begleitet vom Leser (Besucher). Während Kiedorf den Leser im Schloss herumführt, erläutert er die aufwendigen architektonischen Elemente des Barockstils. Die deiktischen Bezeichnungen verorten die verschiedenen Gebäude räumlich und unterstützen die Visualisierung des Raumes. Mittels Fantasie wird das Leben am Hof veranschaulicht und entspricht so dem Begriff des Raumes nach Bachelard (2007), in dem Erinnerung und Gedächtnis immer verbunden sind: „Wenn wir also die Bilder des Hauses ansprechen, müssen wir darauf bedacht sein, die Solidarität von Gedächtnis und Einbildungskraft nicht zu zerreißen; […]“ (ebd., 33).

Wir schreiten nun durchs Hauptportal. Hier, die Fassade mit seinem prunkvollen Entree. Ein Denkmal von Henrich VII., auch genannt der Große. [...] Von der Terrasse aus sehen wir die Kolonnaden – es sind eigentlich Wachthäuschen für die Posten, damit das Pulver in den Gewehren nicht feucht wird. Wir treten ins Innere des Schlosses, wo sich – sofern man nicht nur ein gutes Auge, sondern auch ein gehöriges Maß Phantasie mitbringt – das pralle höfische Leben offenbart (Handloik 1998, 175).

Der Außenwelt gegenüber hält Kiedorf seine Innenwelt aufrecht, eine innere Emigration, in die er freiwillig flüchtet und aus der heraus er sein utopisches Projekt entwickelt: „Während der Staat immer anfälliger für selbständiges Denken wird, wählt Kiedorf die innere Emigration“ (ebd., 176). Auch später besteht er darauf: „Diese Welt [die Außenwelt] war nicht die seine. Er hatte sich eine eigene geschaffen“ (ebd., 177). Dabei bewegt sich Kiedorf zwischen zwei Welten, zwei Lebensstilen, die sich grundlegend widersprechen: das häusliche Leben und das bohemische Leben, geäußert durch eine jeweilige Art der Kleidung, die seine soziale und künstlerische Selbstdarstellung unterstreichen. Das sind die Alternativen, die er wählt, um der Auseinandersetzung mit der politischen und sozialen Lage in der damaligen DDR auszuweichen. Die Begegnung mit der Realität ist für Kiedorf nur über Poetik und Fiktion möglich, beide ersetzen mitunter die Wirklichkeit: „‘Ich habe mich versteckt vor der Welt‘“ und „‘Meine Träume, versunken in einem Schloss‘“ (ebd., 176). Seine alternative Welt besteht außerhalb der realen Welt, in der er zwar lebt, die er aber nur erwähnt, wenn diese ihn auf irgendeine Weise verhindert, an seinem Projekt weiter zu arbeiten (vgl. ebd.). So hebt Kiedorf die Autonomie seines Projekts und die Schaffung seiner Phantasiewelt hervor (utopisch und mythisch), indem er sein Reich mit einem Planeten identifiziert, der in Wirklichkeit nicht existiert: „Mein Reich ist der Planet Centus, der zehnte Planet. Der Centus ist so klein, daß man ihn astronomisch nicht ausmachen kann, ein Staubkorn im All“ (ebd., 177).

Aber das intensive Gestalten seines Reiches setzt die totale Ablehnung der historischen und realen Welt der DDR voraus. Es entwickeln sich hier parallel zwei Formen von Zugehörigkeit und Anwesenheit, wobei Beziehungen zwischen Ereignissen hergestellt werden, die in beiden Welten stattfinden. Anstatt also in der Zeit des Kalten Krieges unmittelbar auf politischer und sozialer Ebene einzugreifen, entscheidet Kiedorf sich für eine künstlerische Transformation der Konfliktsituationen. Er kreiert kriegerische Schlachten im Barockzeitzeitalter und erfindet hier Figuren, Geschichten und Objekte für eine theatralische Inszenierung, in der der Konflikt zwischen Dyonien und einem angrenzenden Reich aufgeführt wird (ebd.).

Implizite Zusammenhänge und Bezüge zwischen der realen und der fiktiven Welt finden sich auch in einer künstlerischen Arbeit aus dem Jahr 1989, dem Zeitpunkt des Mauerfalls und des Endes der DDR. Mit der Erschaffung eines Harlekins in seiner Miniaturwelt, eines Akrobaten, inspiriert und nachempfunden der Figur aus der Commedia dell’arte im Italien des 16. Jahrhunderts, nimmt er Bezug auf aktuelles Zeitgeschehen. Der auf Händen tanzende Harlekin ist ein Symbol der Wende und des politischen und sozialen Wandels, der mit der deutschen (Wieder-)Vereinigung im Jahr 1989 einhergeht. Der Name des Harlekins stellt eine Verballhornung des Namens Gregor Gysi dar, des Vorsitzenden der Bundestagsgruppe der PDS im Jahr 1990.

Kiedorf reagiert wiederum auf die Zeitläufte. Er bastelt aus Zinn und Plasteline einen Harlekin mit Silberrandbrille. Kiedorf stellt ihn auf die Zinnen seines Schlosses und läßt ihn im Handstand tanzen. Er nennt ihn Gregor Mysi-Pedes. Dies war Kiedorfs letzter Streich, den er der Welt spielte, der er zu entfliehen wußte: Gregor Gysi/PDS (ebd., 178).

Kiedorf zieht jedoch den folgende Schluss: „[...] es sei besser, prunkvolle Zimmer zu bauen und sich in seiner Miniaturwelt höfischer Artigkeiten zu versenken“ (ebd.). Insofern erscheint ihm die Anfertigung von friedlichen Räumen sinnvoller als die Durchführung von Schlachten, die sich letztlich nur als Energieverschwendung erweisen.

Die Miniatur als Inszenierung einer neuen Ordnung

Die Tür in kleiner Dimension gibt Zugang zu einer großen Welt, die ein Schloss ist: „Graf Kiedorf […] öffnet erneut ein Türchen zu seiner Welt“ (ebd.). Dieser phantastische Raum der Miniatur, eine Konstruktion in Form eines Modells, ähnlich einem Puppenhaus, öffnet neue Dimension und einen unendlich weiterlaufenden Prozess, jenseits von Raum und Zeit. Nicht von ungefähr ist auch nach Bachelard (2007) die Miniatur untrennbar mit der Welt der Kindheit verbunden: „[…] die Miniaturen der Einbildungskraft versetzen uns ganz einfach in eine Kindheit zurück, in die Hingabe an die Spielsachen, die Realität der Spielsache“ (ebd., 156). Es ist ganz einfach, ins Innere dieses Miniaturschlosses zu gehen und die verschiedenen Räume zu durchlaufen. So geht auch Bachelard (2007) davon aus, dass die Miniaturräume in besonderer Weise die Phantasie anregen und den Zugang zur Welt und ihre Aneignung erleichtern: „Einmal im Innern der Miniatur, wird er ihre weitläufigen Gemächer kennenlernen“ (ebd., 156) und „Ich besitze die Welt um so besser, je geschickter ich sie zur Miniatur machen kann” (ebd., 157). Die Welt der Miniatur von Kiedorf ist eine dynamische, aber auch eine strukturierte und geschichtete Welt. Sowohl die Dienerinnen wie auch die Königin führen nach einem genauen Zeitplan die ihnen aufgrund ihres sozialen Status‘ zugeordneten Pflichten aus. Die Räume weisen Ähnlichkeiten mit Museumsgalerien auf, denn die Objekte haben einen künstlerischen Wert und repräsentieren Vergangenheit in Form von Trophäen, Büsten, Gemälden. In der Beschreibung der verschiedenen Objekte verweist Kiedorf ganz besonders auf den Wert der von ihm verwendeten kostbaren und edlen Materialien. Bemerkenswert sind zudem Räume, die wegen ihrer übertriebenen physischen Ausmaße oder der Fülle an Details auffallen: das Esszimmer ist riesig und die Möbel im Empfangszimmer öffnen einen unendlich erweiterten Raum mit zahlreichen Türen und Schubladen. Aber auch hier gibt es wiederum eine Reihe doppelbödiger Botschaften. So werden die Büsten großer Dichter mit lächerlich anmutenden Namen versehen und die Verwendung von Diminutiven verweist auf eine durchgängig miniaturisierte Welt, der immer auch etwas Abwertendes und Pejoratives anhaftet.

Im Grünen Salon hängt man soeben Bilder auf, die Wände sind noch ziemlich kahl. Es geht weiter durch das Treppenhaus mit Trophäen feindlicher Heere, Ahnen in Öl gemalt, Büsten schon ganz verstaubt. Und überall gegenwärtig: Höflinge, Personal, Dienerschaft. Jetzt sind wir im großen Speisesaal, grüner Marmor, silberne Reliefs, echte im übrigen. Es ist der größte Raum im Schloß mit einem kolossalen Deckengemälde, vierzehn Meter im Maßstab. Im Salon der Königin stehen die Büsten der großen Dichter von Igelshieb und von Sauerteig. Die Königin sitzt am Tisch und trinkt Kaffee. Wir gehen in das Empfangszimmer der Königin, ihr Ankleidezimmer – der Schrank hat dreiundzwanzig Schubfächer und beherbergt zahlreiche Perücken. Die Türen und Schubfächerchen der diversen Möbel lassen sich öffnen und verbergen noch manch winzige Überraschung (Handloif 1998, 178).

Fazit – die neue Ordnung als Utopie im Verborgenen

Die hier vorgestellte Miniatur- und Puppenwelt des „Grafen von Kiedorf“ ist Utopie und Zufluchtsort zugleich. Die hier opulent inszenierte Faszination für das prunkvolle Spätbarock und Rokoko spiegelt implizit die Ablehnung der DDR in ihrer politischen und sozialen Wirklichkeit wider. Kiedorf ist zutiefst unzufrieden mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR und baut sich eine alternative Welt, in der er, sich selbst ermächtigend, als Gottheit herrscht. Zwar gewährt er seinen erfundenen und erschaffenen Figuren eine gewisse Autonomie, bestimmt aber im Endeffekt selber deren Handeln, Bewegungen und hierarchische Beziehungen, die in den verschiedenen räumlichen Anordnungen seiner Miniatur-Schlösser ablaufen. Auch die Zuschreibung der jeweiligen Biografien und die Zuordnung ihrer Aufgabenfelder „am Hofe“ unterliegen seiner Kontrolle. Die (selbst erfundene) Sprache „Prezianisch“ wird nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben, selbst Lyrik wird in ihr verfasst. Jeder Miniatur und Puppe im Reich des Grafen ist eine eigene Geschichte zugeordnet und alle Geschichten zusammen erzeugen ein Narrativ, das auf eine soziale Ordnung verweist und die Möglichkeit der Wandlung von politischen Verhältnissen und sozialen Hierarchien denkbar macht. Der Kontrast zwischen dem unterdimensionierten Wohnzimmer des realen Manfred Kiedorf und der Größe des Reichs des Grafen von Kiedorf könnte kaum größer sein. Deutlich wird hier aber auch, dass die physische Dimension des Wohnzimmers irrelevant ist. An die Stelle des ‚Kleinen’, ‚Sichtbaren’ und ‚Realen’ treten das ‚Große’, ‚Versteckte’ und ‚Fiktive’. Der kleine, unscheinbare und versteckte Raum ist gewissermaßen die Voraussetzung für die Schaffung von Größe, eines innovativen Projekts, einer Utopie. Um seinen Standort aufzuwerten und zu stärken, nutzt der Erzähler einen deiktischen Ausdruck, ein Adverb des Ortes: „Hier: Das Wohnzimmer ist sein Olymp, und zwischen Anbauwand und Ofen liegt sein Reich“ (ebd., 175). Nur an diesem verborgenen bzw. versteckten Ort kann Kiedorf sein Projekt, seine „Anti-Welt“ verwirklichen: „‘Da mußte ich […] zu diesen Transparenten eine Anti-Welt schaffen. Natürlich war das im geheimen, im verborgenen.‘“ (ebd., 178).Die Miniaturwelt enthält demzufolge eine Reduktion, eine Verkleinerung tieferer Dimensionen, die auf einer rein oberflächlichen Ebene nicht wirklich verstanden werden können. Die Miniatur und ihre Puppen erlauben einen Einblick in etwas, was sich auf einer großen und realen Ebene verwirklichen kann. Sie machen sichtbar, was verborgen ist. Nach Kiedorf ist diese Miniatur- und Puppenwelt in Wahrheit ein politischer und sozialer Vorschlag, der umgesetzt werden könnte. Somit erschafft die Miniaturwelt des „Rococo en miniature – Die Schlösser der Gepriesenen Insel“ (vgl. Thüringer Landesmuseum Heidecksberg o.J.) zweifellos eine alternative Welt und veranschaulicht exemplarisch Lebensmodelle einer anderen, spätbarocken und utopischen Zeit, um Phantasien und die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen anzuregen. Das vorangestellte Motto von Meyrink geht – ähnlich wie Kiedorf – von der Kraft der unsichtbaren, verborgenen Welt gegenüber der sichtbaren aus. Am Ende aber verbleibt das Projekt der Miniatur- und Puppenwelten des Grafen von Kiedorf auf der utopischen Ebene, reale und irreale Welt sind unüberbrückbar. Anders gesagt: Die neue Ordnung findet eher im Verborgenen statt oder im Museum.


[1] Die Verfasserin bedankt sich für wertvolle Hinweise und hilfreiche Korrekturvorschläge in den Reviews sowie für die ermutigende Unterstützung bei der Abfassung der Endversion durch Insa Fooken. Der hier vorliegende Beitrag vertieft ein Thema, das auch in der Dissertation der Verfasserin bereits angesprochen wurde (vgl. Bentes 2017).

[2] Manfred Kiedorf wurde 1936 in Berlin geboren und verstarb dort 2015 (vgl. Kiedorf o.J.a, o.J.b).

[3] Volker Handloik wurde 1961 in Rostock geboren und arbeitete nach Ausbildungen zum Drucker, Rangierer, dem Studium der Kunstgeschichte als Autor und freier Journalist. 2001 kam er mit zwei anderen Journalisten in Afghanistan ums Leben (vgl. Handloik o.J.).

[4] Im Folgenden werden alle Zitate in der jeweils verwendeten Schriftart, senkrecht oder kursiv, übernommen.


Literaturverzeichnis

Bachelard, Gaston (1957/2007). Poetik des Raums (8. Auflage). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag (Titel der französischen Originalausgabe La poétique de l’espace, 1957).

Bentes, Lúcia (2017). Figuras e construções excêntricas na Literatura Alemã Contemporânea: histórias de encanto ou de desencanto. Dissertation. Doctor of Philosophy (Ph.D). Faculty of Social Sciences and Humanities. Languages, Literatures and Cultures. Literary Studies. Universidade Nova de Lisboa. Lisboa, Portugal, 27.09.2017.

CfP – „Puppen als Miniaturen – mehr als klein“ (2018). Zugriff am 30.08.2018 unter https://denkstepuppe. info/ausgaben/

Ensikat, David (2015). Nachruf auf Manfred Kiedorf (Geb.1936). Die drei Fluchten des Grafen Kiedorf. Der Tagesspiegel, 6.2.2015. Zugriff am 31.12.2018 unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/nachruf-auf-manfred-kiedorf-geb-1936-die-drei-fluchtendes- grafen-kiedorf/11326990.html

Handloik, Volker (1998). Das Reich des Grafen von Kiedorf. In Volker Handloik, Harald Hauswald (Hg.), Die DDR wird 50. Texte und Fotografien (S.175-179). Berlin: Aufbau Verlag.

Handloik, Volker (o.J.). Zugriff am 31.12.20018 unter http://de.wikipedia.org/wiki/volker_Handloik

Kiedorf, Manfred (o.J.a). Zugriff am 31.12.2018 unter http://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Kiedorf

Kiedorf, Manfred (o.J.b). Zugriff am 31.12. unter http://www.mosapedia.de/wiki/index.php/ Manfred_Kiedorf

Thüringer Landesmuseum Heidecksberg (o.J.). Zugriff am 31.12.2018 unter https://rococoenminiature. heidecksburg.de/pages/die-schoepfer.php



Über die Autorin / About the Author

Lúcia Bentes

in Deutschland geboren und aufgewachsen, promovierte im Bereich Sprache, Literatur und Kultur (2017) an der Neuen Universität Lissabon, Portugal (Universidade Nova de Lisboa – Faculdade de Ciências Socias e Humanas); Thema der Doktorarbeit (Übersetzung): Exzentrische Figuren und Bauten in der gegenwärtigen deutschen Literatur. Vorträge und Publikationen zu interdisziplinären Themen, beispielsweise zu Antagonismen im Bereich von Intimität, Weiblichkeit, Gefühlen. Ihre Forschungsinteressen befassen sich mit den Verbindungen zwischen Literatur und anderen Künsten. Sie arbeitet als Deutsch- und Englischlehrerin in Lissabon

Lucia Bentes

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