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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus


Mittelalterliche Cyborgs? Automaten als Menschen im mittelhochdeutschen und altfranzösischen Trojaroman (Benoît de Sainte-Maure/ Herbort von Fritzlar)

Ronny F. Schulz



Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings



Abstract:
Automaten spielen in der mittelalterlichen höfischen Literatur im französischsprachigen wie im deutschsprachigen Bereich eine wichtige Rolle. Gerade humanoide Automaten lenken den Blick aber auch auf Problematiken, wie sie uns auch in moderner Science-Fiction begegnen. Die vorliegende Arbeit untersucht den so genannten ‚Automatensalon‘ in zwei Troja-Romanen des 12. Jahrhunderts, Benoîts de Sainte-Maure Roman de Troie (um 1165) und Herborts von Fritzlar Liet von Troye (zwischen 1190-1200). In einer vertiefenden Betrachtung dieser artifiziellen Wesenheiten zeigt sich, dass moderne kulturwissenschaftliche Ansätze (z.B. Haraways „un/an/geeignete Andere“) besonders für die Interferenzen zwischen Mensch und Maschine und deren mögliche Wahrnehmung in mittelalterlichen Texten eine neue Perspektive aufwerfen.

Schlagworte: cabinets of humanoid automata; 12th century Troy-narratives; human-machine-interference

Zitationsvorschlag: Schulz, R. F. Mittelalterliche Cyborgs? Automaten Als Menschen Im Mittelhoch-Deutschen Und altfranzösischen Trojaroman (Benoît De Sainte-Maure/ Herbort Von Fritzlar). de:do 2020, 3, 18-27.
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Copyright: Ronny F. Schulz. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Veröffentlicht am: 20.10.2020

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Mittelalterliche Vorläufer möglicher Mensch-Maschinen-Interferenzen – ein kurzer Aufriss

Roboter gelten heutzutage gemeinhin als von Menschen geschaffene Maschinen, die in ihrer äußeren Erscheinung oft menschenähnlich wirken, weil sie beispielsweise über künstliche Arme, Beine oder sogar einen Kopf verfügen. Dennoch würde trotz der anhaltenden Diskussion um die Fortschritte künstlicher Intelligenz (KI) zum jetzigen Zeitpunkt niemand Robotern ernsthaft autonome menschliche Gedanken, Gefühle oder sogar ein Gewissen zuschreiben. Die Bezeichnung ‚Roboter‘ entstammt ursprünglich aus dem Bereich der Fiktion, aus Karel Čapeks Drama R.U.R. (1920). Schon hier begegnen uns Roboter als Entitäten, die wie Menschen agieren und die sich sogar gegen ihre Beherrscher*innen wenden. So neuartig diese Ideen für das 20. Jahrhundert – sowohl in fiktionaler Literatur als auch wissenschaftlichen Diskursen – mitunter schienen, so gab es Vorläufer schon in vormoderner Literatur, wenn auch unter anderen Voraussetzungen: ähnlich wie in den Kunst- und Wunderkammern der frühen Neuzeit (vgl. Schüchter 2019) dienten Automaten bereits schon an den mittelalterlichen Adelshöfen der Unterhaltung (vgl. Camille 1989, 244ff.) und wurden zudem auch in der Literatur thematisiert1. Hier sind es nicht nur künstliche Bäume, Schachautomaten oder singende Metallvögel, sondern auch menschenähnliche Gegner, die künstlich erzeugt wurden. Sie begegnen den Menschen sowohl als Antagonisten als auch als helfende Wesen. Gerade die humanoiden Automaten galten in mittelhochdeutschen und altfranzösischen Romanen als von Magiern geschaffene dämonisierte Wesen. Die damals von theologischer Seite geäußerte Kritik, es handele sich um vom Teufel belebte Automaten, scheint diese Figuren auf den ersten Blick abzugrenzen von unseren modernen fiktionalen Vorstellungen von Maschinen, die sich selbstständig weiterentwickeln können. Dennoch gibt es bereits in der mittelalterlichen Literatur Schilderungen, die den Fokus stärker auf technologische Komponenten bei diesem Thema legten (vgl. Berthelot 2015). Das hängt mit der Problematik des anders konzipierten mittelalterlichen Wissenschaftssystems zusammen: Wie Musik(wissenschaft) oder Medizin wurde auch die Magie als Kunst betrachtet – so im Lateinischen ars, was eine Lehnübertragung des altgriechischen technē ist (mit dem etymologischen Bezug zum modernen Wort ‚Technik‘). Folglich wurde das Erstellen eines humanoiden Automaten weniger als eine handwerkliche Fähigkeit angesehen, denn als Ausdruck einer wissenschaftlichen (intellektuellen) Tätigkeit.
In der mittelalterlichen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts wurden humanoide Automaten nicht nur dem Publikum vor Augen geführt, sondern auch ihre Funktionen diskutiert. Sowohl das Motiv der Unfehlbarkeit dieser Automaten, die z.B. bei Tugendproben zum Einsatz kamen (so in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Anfang des 14. Jahrhunderts), oder ihre Artifizialität wurden indirekt hinterfragt. In der Darstellung der Automaten wurde diese Künstlichkeit mit narrativen Mitteln teilweise kaschiert. So wurde entweder für die Rezipient*innen dieser Literatur nicht unbedingt deutlich, dass es sich nicht um Lebewesen handelte, oder auf der Figurenebene erkannten die handelnden menschlichen Figuren nicht, dass ihr Gegenüber ‚kein Mensch‘ war.
Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Im Prosalancelot, einer sehr nahen Bearbeitung des altfranzösischen Lancelot en prose aus dem 13. Jahrhundert, begegnen dem titelgebenden Helden in der aventiure der Dolorose Garde zwei kupferne Ritter, die ihm den Einlass in eine Höhle verwehren. Nur wenn Lancelot einen dort verborgenen Schrein öffnet, kann er den Zauber, der über diesem Ort liegt, brechen, und somit auch die ‚Schaltkreise‘ der künstlichen Eingangswächter unterbrechen. Nachdem ihm dies gelingt, heißt es lapidar „die zwen ritter die fur der thúr stunden die waren nyder gevallen und waren zurbrochen“ (Prosalancelot I 1995, 580). Durch die Bezeichnung ‚Ritter‘ werden diese (magischen) Automaten nicht mehr von dem Ritter Lancelot sprachlich differenziert, allein die Tatsache, dass sie zerbrechen, zeigt ihren ‚außermenschlichen‘ Status. In einem weiteren Artusroman des 13. Jahrhunderts, Diu Krône (um 1230) Heinrichs von dem Türlin, wird der Ritter Gawein von einem auf einen Baum stehenden Automaten angesprochen: „[Er] sach ez an / und wând, daz ez waer ein man, / der ûf den boum waer gestigen.“ (Henrich von dem Türlin 2012, 7088ff.; „[Er] sah es an und dachte, es handele sich um einen Mann, der auf einen Baum gestiegen wäre.“). Gerade die Fähigkeit des Gegenübers, sprechen zu können, lässt in diesem Fall den Ritter glauben, es handele sich um einen Menschen. Hinzu kommt die Distanz des Betrachters, da der Automat immerhin auf der Spitze eines Baumes steht; durch das Pronomen ‚es‘ und die vorangegangene Beschreibung der Konstruktion wird jedoch für das textexterne Publikum deutlich, dass der Protagonist mit einem Automaten konfrontiert wird.
Nach diesem kurzen einführenden Aufriss geht es im Folgenden um die humanen Automaten in Benoîts de Sainte-Maure Roman de Troie (um 1165) und in seiner deutschsprachigen Bearbeitung, Herborts von Fritzlar Liet von Troye (zwischen 1190–1200). Nach der diskursiven Beschreibung des Zimmers oder des Salons, in dem sich die Automaten befinden, ein so genannter ‚Automatensalon‘, werden die in den entsprechenden Textstellen aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Status‘ dieser menschenähnlichen ‚Wesen‘ diskutiert; dabei stellt sich das Problem, ob das Erzählen von Automaten bloße Effekthascherei sei oder nicht doch die Funktion hat, in der Fiktion ihren Status gegenüber den menschlichen Figuren zu verhandeln. Ziel des Beitrags ist es, unter Bezug auf moderne kulturwissenschaftliche Ansätze die Mensch-Maschinen-Interferenzen in den beiden mittelalterlichen Texten aus einer neuen Perspektive zu betrachten und zu hinterfragen.

Benoîts de Sainte-Maure „Roman de Troie“

Benoît de Sainte-Maure hat mit seinem altfranzösischen Trojaroman (RdT) ein rezeptionsstarkes Werk verfasst, das nicht nur im deutschsprachigen Bereich adaptiert wurde, sondern auch von Guido de Columnis für die lateinische Version des Stoffes, der Historia destructionis Troiae (1287; „Geschichte d er Zerstörung Trojas“), als eine Quelle herangezogen wurde.
Als Hector nach der achten Schlacht um Troja verwundet ist, schildert Benoît, wie er zur Heilung in ein Alabasterzimmer gebracht wird. Neben der kostbaren Ausstattung des Raumes mit Edelsteinen werden vier Säulen beschrieben, die drei Gelehrte geschaffen hätten: „Treis pöetes, saives autors, / Qui molt sorent de nigromance“ (RdT 14668f.; Übers., auch im Folgenden, R.F.S.: „Drei Schöpfer, weise Erfinder, die sich sehr gut in Nigromantie auskannten“). Auf den Säulen befinden sich vier Statuen. Diese repräsentieren zwei wunderschöne Jungfrauen und zwei Jünglinge; da sie schöner als alles bisher Gesehene seien, könne man die Statuen für Engel des Paradieses halten (vgl. RdT 14680). Die erste Figur zeigt einen Spiegel, in dem das höfische Verhalten und äußere Erscheinungsbild der Hineinblickenden wahrheitsgemäß sichtbar wird, sodass die Ankommenden ihre Fehler sogleich korrigieren können. Der Automat tritt hier als höfisches Korrektiv auf. Die zweite Staute ist eine höfische Tänzerin, die mit vier Messern jongliert. Auf einem goldenen Tisch vor ihr werden Kämpfe wilder Tiere sichtbar, aber auch höfische Vergnügungen, Zwerge und gefährliche Monster erscheinen. Auf der Erzählerebene wird mehrfach akzentuiert, dass es sich um ein großes Wunder handele:

Merveille senble a esgarder, / Car hon ne savreit porpenser / Que devienent aprés les jués. / Des arz e des secrez des ciels / Sot cil assez quis tresjeta / E qui l’image apareilla. / Qui esgarde la grant merveille, / Qui est qui tiel chose apareille, / Grant merveille est ce que puet estre, / Qu’ainc ne fist Dex cel home nestre / Quis esgarde, ne s’entroblit / De son pensé o de son dit[.]

(RdT 14741ff): Es scheint ein Wunder, dies anzuschauen, denn man kann sich nicht vorstellen, was sich aus diesen Spielen weiter noch entwickelt. Aus Künsten und den Geheimnissen des Himmels hat jener, der diese Skulpturen schuf, genug gewusst. Wer dieses große Wunder sah, fragte sich, wie es wohl funktioniere. Ein großes Wunder mag es sein, dass kein von Gott geschaffener Mensch es ansehen konnte, ohne zu vergessen, woran er dachte oder was er sagte. (vgl. auch RdT 14878ff.).

Die dritte männliche Statue spielt Musikinstrumente, gibt den Betrachtenden Jugend und Freude wieder. Noch nicht einmal der biblische David beherrsche die Instrumente mit dieser Kunstfertigkeit. Nach der musischen Darbietung wirft die Statue mit Blumen, sie bleibt permanent in Bewegung. Schließlich weist die letzte Statue die Besucher*innen des Zimmers durch Zeichen ein, gibt ihnen vor, was für sie das Beste zu sein scheint, und verbreitet Tag und Nacht Wohlgerüche (vgl. RdT 14776; 14854; 14866ff.).
Als Schöpfer dieser Statuen erscheinen bei Benoît „pöetes“ und „autors“, was auch mit „Dichtern“ und „Verfassern“ (von Literatur) übertragen werden könnte. Die Automaten werden also auf einer Metaebene als literarische Erfindungen eingeführt. Nigromantie2 wird in diesem Text demnach keineswegs negativ konnotiert (vgl. Benoît de Sainte-Maure 1998, Notes, 646), denn das Ensemble der künstlichen Figuren erscheint hier als Darstellung einer prächtigen Wunderkammer. Damit korrespondiert auch, dass die Statuen mit Paradiesengeln verglichen werden.
Hier findet eine mise en abyme3 des Erzählens statt: Wie die Magier die vier Bildsäulen mit den omnipotenten, permanent sich bewegenden Automaten schaffen, so schafft der Dichter seinen Text mit den Figuren. Die Statuen haben menschliche Fähigkeiten, diese jedoch in Perfektion; die literarischen Figuren gleichen Menschen, bestehen jedoch nur auf dem Pergament. Darüber hinaus wird auch eine gewisse Wertschätzung der Begriffe ‚Poet‘ und ‚Autor‘ deutlich, da die Bezeichnung ‚Schöpfer‘ im Christentum Gott vorbehalten bleibt, müssen die Erfinder wunderbarer Automaten andere Bezeichnungen erhalten, in diesem Fall wohl nicht zufällig Synonyme für Schriftsteller*innen, die ebenfalls die Fähigkeit besitzen, menschenähnliche Figuren hervorzubringen. Eine ähnliche Lesart findet sich bei Rockwell, der die Produktion des Textes mit der Erstellung der Automaten, die an das prächtige Troja erinnern, gleichsetzt, und somit die Legitimation des Schreibens über Troja auf der Metaebene in dem Automatenzimmer sieht (vgl. Rockwell 1997, 22f.).
Bisher wurde die Szene der chambre de beautés4 zum einen unter dem Aspekt der Memorialkultur gelesen (Rockwell 1997), zum anderen wurden die Automaten, wie bei Susanne Friede (2005), als der Didaxe dienend interpretiert. Friede kommt zu dem Fazit:

In Benoîts Roman de Troie sind es nicht mehr die Menschen, denen die Automaten untergeordnet sind, denen sie dienen, die sie schützen und deren Größe und Macht sie verherrlichen. Es sind vielmehr die Automaten in ihrer unerreichbaren Perfektion, an denen die Menschen gemessen werden. (Friede 2005, 24).

Diese „unerreichbare[] Perfektion“ zeige sich aber laut Friede nur in dem abgeschlossenen Raum des Zimmers, der offensichtlich der Zeit enthoben scheint. Damit rückt das Automatenzimmer in die Nähe einer Utopie (vgl. ebd., 24f.) oder eines Paradieses. Und es gibt einen weiteren Punkt, der für die hier geführte Diskussion noch stärker profiliert werden soll: Die Automaten sind nicht nur supranaturale Ideale, sie zwingen die Menschen auch zu Handlungen, d.h. zum Verweilen in dem Raum oder zum Verlassen desselben. Den Automaten kommt eine agency5 zu, sie werden zu Akteur*innen, auch im Sinne Latours, nur sind sie nicht „niedere Bedienstete […] an den Rändern des Sozialen“ (Latour 2014, 127), über die niemand spricht, sondern sie befinden sich im Zentrum der trojanischen Gesellschaft und sind in die dortigen Machtverhältnisse eingeschrieben. Sie halten diese Gesellschaft permanent in Bewegung, so wie sie sich selbst unaufhörlich bewegen; obwohl sie artifizielle Gebilde sind, kann man sie als eine Art Motor des trojanischen Hofes auffassen.
Neben der Fixiertheit der Automaten fällt aber noch ein weiterer Aspekt auf: Trotz der detaillierten Schilderung ihrer Funktionen und ihrer agency werden die Beschaffenheit und die Technik dieser Figuren nie näher beschrieben. Auch Elly R. Truitt konstatiert dieses Faktum und diskutiert die daraus resultierenden Probleme bei der Illustration dieser Szene in späteren Handschriften, die diese Automaten mal humanoid, mal engelähnlich präsentieren (vgl. Truitt 2015, 57f. u. dortige Abbildungen 5 u. 6). Als goldene Statuen, die durch mathematische Kunst geschaffen wurden („erant de auro quatuor ymagines collocate, mirabili arte mathematica institute“, Guido de Columnis 1936, 171), werden sie z. B. auch in der 120 Jahre später verfassten Version des Guido de Columnis geschildert, auch wenn er diesen Raum nicht näher darstellt.
Mit der nur angedeuteten Beschreibung der Beschaffenheit des Zimmers und seines Interieurs verbinden sich Anspielungen auf den Orient: So leuchtet der Alabasterraum von arabischem Gold (vgl. RdT 14632), was die Fremdheit dieser mittelalterlichen Wunderkammer akzentuiert, ebenso wie die Paradiesallusionen (vgl. z.B. RdT 14680), die wiederum auf eine mögliche überirdische Herkunft der Automaten verweisen. Durch diese Setzungen des Textes potenzieren sich die Dichotomien von „belebt/unbelebt“ zu „fremd/eigen“, „menschlich/außermenschlich“ sowie „weltlich/himmlisch“ und lassen eine eindeutige Zuordnung offen. Ihre Herstellung bleibt im Dunkeln, ihre Technik bleibt für das textexterne und das textinterne Publikum unsichtbar. Auch dass hier ein asymmetrisches Machtverhältnis vorliegt, das letztendlich zu Lasten der menschlichen Figuren geht, wird erst bei der kritischen Reflexion dieses Automatentheaters deutlich.

Herborts von Fritzlar „Liet von Troye“

Im Liet von Troye (LvT), der deutschsprachigen Bearbeitung des Trojaromans, erscheint das Zimmer, in dem Hector geheilt werden soll, wie ein „paradis“ (LvT 9227). Die Figuren sind Werke von vier Meistern, deren Kunst unbekannt ist (vgl. LvT 9270ff.). Es folgt die Beschreibung der Statuen:

Vf zwein phileren / Mohte man schowen / Zwo iunc frowen / Geworht von steine / Daz von fleische noch von beine / Schoner maget nie bequam / Vf dem andern alsam / Zwene iungelinge / So die svnne vf ginge / So enwere sie nimmer so klar / So ir varwe vnd ir har / Swer die bilde gesach / Swie wise er were er sprach / Daz in got hette daz leben / Vf dem steine gegeben / Obene noch vnden / Dehein man enkvnde / Deheine wis gemerken / Ob ez mensche solde werken / Wie er daz getete / Daz ein bilde hete / Ougen luter vnd clar / Stirne schone vnd offenbar / Wizze zene roten mvnt / Die vf der ersten sule stunt / Die was snel vnd gerat / Vnd sprach vnd trat / Nachtes vnd tegelich[.]
(LvT 9275ff.): Auf zwei Pfeilern konnte man zwei junge Damen sehen, aus Stein gebildet, so [schön], dass aus Fleisch und Blut ihnen nie eine junge Frau glich. Auf den anderen [Pfeilern] waren gleichsam zwei Jünglinge. Wenn die Sonne aufgeht, so ist sie niemals so hell wie ihre (Körper-)Farbe und ihr Haar. Wer auch immer die Statuen sah, so weise er auch sein möge, der meinte, dass ihnen Gott das Leben auf dem Stein eingehaucht hätte. Weder von oben noch von unten konnte niemand feststellen, auf welche Weise ein Mensch dies vollbracht hätte. Wie es diesem [wohl] gelang, dass eine Statue leuchtende und helle Augen hätte, eine schöne und hohe Stirn, weiße Zähne und ein roter Mund. Jene [Figur], die auf der ersten Säule stand, war schnell und gewandt und sprach und tanzte Tag und Nacht.

Die erste Figur gleicht einer Tänzerin (vgl. LvT 9303), die dritte Figur gleicht „[e]inem manne“ (LvT 9340). Obwohl sie auf Säulen stehen, scheinen sie doch hochbeweglich. Sie tanzen, werfen Messer oder streuen Blumen. Darüber hinaus verfügen diese bewegten Statuen auch über exzeptionelle Fähigkeiten. Hector, der zuvor fast tödlich verwundet wurde, wird geheilt, eine weitere Statue kann in die Zukunft schauen. Doch das anfängliche Staunen über die Artifizialität der Figuren und ihre Schöpfer schlägt um in eine Diabolisierung dieser Automaten:

Der tufel vz den bilden sprach / Vnd vor sagete swaz gescah / Manic wunder er treip / Daz man von im screip / Hin abe quam vns zoberlist / Die nigromancia geheizzen ist[.]
(LvT 9368ff.9:): Der Teufel sprach aus diesen Figuren und sagte voraus, was geschehen werde. Viele Wunder vollbrachte er, damit man über ihn schriebe. Auf die Erde kam die Zauberkunst, die Nigromantie genannt wird..

Auch wenn das Zimmer zuerst wie ein Paradies erscheint, erweist es sich – zumindest was die Prophetie betrifft – ex post als Täuschung des Teufels. Die Automaten bleiben in dieser mittelhochdeutschen Adaptation ebenfalls unkonkret bis auf die Tatsache, dass das Aussehen ihres Gesichts mitgeteilt wird. Dahinter verbirgt sich allerdings eine topische Schönheitsbeschreibung6 (die rhetorische descriptio personae), wie sie mit den leuchtenden Augen, den weißen Zähnen und dem roten Mund auch im höfischen Roman bei der Beschreibung von Frauen üblich ist.
Martin Zimmermann sieht „[e]ine pointiert negative Darstellung“ in der Beschreibung des Automatensalons bei Herbort und attestiert dem Erzähler eine „skeptische[] Distanz zu den mechanischen Elementen“ (Zimmermann 2011, 231). Auch wenn eine Umakzentuierung in der mittelhochdeutschen Bearbeitung stattfindet, ist das Geschilderte nicht zwangsläufig negativ, sondern der Charakter dieser Automaten wird eher kritisch diskutiert. Mit der Aussage, diese Steine wirken, als hätte Gott ihnen Leben eingehaucht, findet sich eine indirekte (und vielleicht unbewusste) Anspielung auf den Pygmalion-Mythos. Lediglich die Zukunftsweissagung erscheint als diabolische Gabe. Auch dass die Automaten und ihr menschliches Aussehen „dem reinen Amüsement der Zuschauer“ (ebd., 235) dienen würden, ist zu relativieren. Immerhin dienen sie dem Heilungsprozess Hectors (vgl. auch ebd.). Mit Verweis auf den Teufel wird vielmehr ein Topos bedient, der als Wahrheitsbeteuerung dient.
Die Funktion als Heiler*in suggeriert letztendlich wieder ein humanoides Wesen, sodass sich diese Automaten als Surrogate der Meister, die sie erschaffen haben, zu präsentieren scheinen. Die Fähigkeit dieser Automaten bei Benoît, Menschen den Aufenthalt im Zimmer vorzuschreiben oder ihr Gebaren oder Aussehen zu korrigieren, fällt bei Herbort fast weg. Lediglich das Messerspiel könne die Betrachter*innen auf immer an das Zimmer binden (vgl. LvT 9318ff) oder die zweite Statue vermag den Besucher*innen eine schöne (Körper-)Farbe zu verschaffen (vgl. LvT 9325ff.).

Faszinosum: Automaten und Menschen – Automaten wie Menschen

Die Automaten, die hier einem mittelalterlichen Publikum und auch uns als moderne Leser*innen vor Augen geführt werden, verbergen geschickt ihre Technik. Das Aussehen der zwei mechanischen Jünglinge und jungen Damen bleibt der Topik verpflichtet, die Schönheit wird bei Benoît bloß erwähnt, während Herbort das Gesicht des ersten weiblichen Automaten gemäß einer konventionellen descriptio personae schildert. Zimmermann konstatiert allein auf der Grundlage des Verhältnisses von zwei männlichen und zwei weiblichen Automaten „eine anscheinend gleichwertige Rollenverteilung von Mann und Frau“ (Zimmermann 2011, 233). Ob es hier allerdings um konventionelle Rollen geht, bleibt zu bezweifeln. Die Automaten reflektieren scheinbar die höfische Gesellschaft, aber noch mehr dienen sie als ihr Korrektiv. In beiden Szenen, sowohl der altfranzösischen als auch der mittelhochdeutschen Version, wird auf das Paradies angespielt, dementsprechend korreliert höfische Idealität mit paradiesischer Perfektion. Aus diesem Grund beziehen sich die weiblichen und männlichen Figuren auf das theologisch postulierte Hauptwerk der Schöpfung, auf Mann und Frau – es herrscht eine perfekte Symmetrie von zwei weiblichen und zwei männlichen Exemplaren. Eine detaillierte Schilderung der Technik, die die Automaten sich bewegen und sogar sprechen lässt, bleibt aus: Bei Benoît genügt der wiederholte Hinweis auf das ‚Wunderbare‘ und bei Herbort offensichtlich der Verweis auf den diabolischen Ursprung der Prophetie. Neben Mann und Frau als Automaten gibt es auch einen goldenen Adler und einen kleinen Satyr, die das Trocknen der Blüten, die der vierte Automat verstreut, durchführen (vgl. RdT 14817ff.). Der Satyr gilt in religiös deutenden Naturbüchern wie dem Physiologus und seiner Nachfolger als Hybridwesen aus Mensch und Tier (vgl. Bestiari tardoantichi e medievali 2018, 320, 432 u. 536). In dem von Naturgesetzen enthobenen Raum kommt es zu Grenzüberschreitungen zwischen Mensch, Tier und Automat. Evident wird, dass die hier präsentierten Automaten trotz einiger Anspielungen eben nicht mit Monstern gleichgesetzt werden können. Sie wirken wie Menschen, obwohl sie künstliche Wesen sind. Gerade in der Kontrastierung mit dem Satyr, der ebenfalls ein Automat zu sein scheint, wird dies offenbar. Alle diese Wesenheiten oszillieren somit zwischen Mensch und Automat.
Die Frage nach der Hybridität initiiert auch in Bezug auf die menschlichen Ritter(figuren) in der Literatur ein reizvolles Gedankenspiel. So hat Cohen (2003, 35ff.) anhand der Figur des Ritters aufgezeigt, dass dieser mit seinem Pferd und seinen Waffen zusammen ein Netzwerk bildet, eine „medieval identity machine“. Bewusst provokant spricht Wilkie in einem Gedankenexperiment vom Helden als „Cyborg“ und geht damit noch einen Schritt weiter: Liest man den Cyborg – in einem weiteren Sinne verstanden als Hybridwesen aus technologischen und biologischen Elementen – als Metapher, können auch die vormodernen Helden als hybride Kombinationen aus menschlichen Körpern und technischen Waffen oder anderen Hilfsmitteln gesehen werden.
Der Cyborg-Vergleich, auch wenn er auf den ersten Blick anachronistisch erscheint – wie Wilkie (2012, 1) selbst hervorhebt –, hinterfragt die Heldenfigur und weist sie sowohl physisch als auch in ihrem Handeln als eine transgressive Figur aus: „Heroes are both born and made. They preserve the integrity of their societies by sacrificing themselves to the shifting needs of violent confrontation, and in so doing become other – or illustrate by their exaggerated example, our own everyday alterity“ (ebd., 17).
Was ist jedoch schließlich dieses Andere, das die Automaten verkörpern? Was unterscheidet diese wie Menschen erscheinenden Weseneinheiten sowohl auf der Figurenebene als auch für die Rezipient*innen von den menschlichen Akteuer*innen? Die Automaten sind an ihren Raum, das Zimmer, gebunden; sie verfügen über Fähigkeiten, die auch in einer höfischen Gesellschaft anzutreffen sind. Dies findet sich allerdings in so hoher Perfektion, dass sie schon aus diesem Grund ‚außermenschlich‘ erscheinen. Die Frage nach der Differenz zwischen Automaten und Menschen lenkt den Blick auf ein weiteres Konzept, das sich – ebenso wie das Konzept des Cyborgs – zunächst nicht unmittelbar auf die beiden mittelalterlichen Texte anwenden lässt. Nimmt man diese Überlegungen aber als einer Art „Umweg“, erschließt sich ein anderes Verständnis der Texte. Konkret geht es um den von Trinh Minh-ha geprägten Terms des „un/an/geeigneten Anderen“, so wie er von Donna Haraway aufgegriffen wurde. Gerade ein moderner kulturwissenschaftlicher Ansatz wirft eine neue Perspektive auf die Konstellation Mensch-Automat. Wohl wissend, dass auch dieser Ansatz, wie Wilkies Denkmodell vom Cyborg, nur eine Metapher darstellt, bietet diese moderne Setzung doch einen willkommenen Kontrast zu den beiden mittelalterlichen Texten, vor deren Hintergrund jene in einem anderen Licht erscheinen können. Fokussiert die Forschung zur Fremdwahrnehmung in der germanistischen Mediävistik in erster Linie auf dem Verhältnis zwischen Christentum und Islam sowie den so genannten Monstern, bedarf es bei der Auseinandersetzung mit Automaten, die weder einer anderen Religion zugehörig sind, noch Mensch-Tier-Hybridwesen sind, eines anderen Instrumentariums. Es ist immerhin augenfällig, dass Automaten weder in Bestiarien (allegorisch deutenden Tierbüchern, die auch Monster aufführen) noch auf mappae mundi (Weltkarten) oder in mittelalterlichen Naturlehren aufgeführt werden, was auf ihre spezielle Andersartigkeit gegenüber Mensch und Tier verweist und weshalb sie auch unter diesen enzyklopädischen Formen nicht subsumiert werden können. Obwohl sie äußerlich Menschen oder Tieren und fast gleichzeitig Statuen ähneln, sind sie mit diesen inkommensurabel. Vor dieser Folie bietet sich ein Blick auf Haraways Konzept von ‚Andersheit‘ an, welche sie nicht vor dem Hintergrund (politisch) zugeordneter Begriffe wie Gender, Race oder Nation, die auch im Mittelalter in dieser Form noch nicht vorhanden sind, wissen möchte. Sie zieht deshalb den Begriff des „un/an/geeignete Anderen“ heran, der für sie:

Netzwerke der multikulturellen, ethnischen, rassischen, nationalen und sexuellen Akteur* innen […] [bezeichnet und] bezieht sich damit auf die geschichtliche Verortung derer, die sich nicht die Masken des „Selbst“ oder des „Anderen“ überstreifen konnten, die von den damals vorherrschenden westlichen Narrationen von Identität und Politik angeboten wurden (Haraway 2017, 51f.).

Da es Haraway in diesem Fall nicht um ‚Spiegelung‘ oder ‚Brechung‘ (z.B. des Konzepts des ‚Eigenen‘) geht, schlägt sie die Bezeichnung ‚Beugung‘ als adäquaten Begriff vor. Sie entwickelt somit eine mögliche Genese des Menschen, bei der sie von dem „un/an/geeigneten Anderen“ zum utopischen Raum kommt, der eine „feministische Allegorie“ wäre:

Die patriarchalen Narrationen des Westens erzählten, dass der physikalische Körper Ergebnis der ersten Geburt sei, während der Mensch/Mann das Produkt der heliotropen zweiten Geburt wäre. Demgegenüber könnte eine differenzielle, gebeugte feministische Allegorie die „un/an/geeigneten Anderen“ aus einer dritten Geburt in eine Science-Fiction-Welt mit Namen Anderswo entlassen. Das wäre ein Ort, der sich aus Überlagerungsmustern zusammensetzte. Die Beugung bringt nicht – wenngleich verschoben – „das Selbe“ hervor, wie Spiegelung und Brechung es tun. Die Beugung bildet die Überlagerung ab, nicht die Replikation, Spiegelung oder Reproduktion. Ein Beugungsmuster verzeichnet nicht den Ort, wo Differenzen auftreten, sondern den Ort, wo die Wirkungen der Differenzen erscheinen. (Haraway 2017, 52f.)

Diese Überlegungen, die sich in erster Linie mit der Problematik des westlichen (männlichen) Blickes im 20. und 21. Jahrhundert auseinandersetzen, erscheinen für die mittelalterliche Literatur zunächst abwegig, zumal ganz andere politische Mechanismen im Hintergrund der beiden hier behandelten Romane stehen. Dennoch sensibilisiert die hier angesprochene Frage nach der Erkenntnis dessen, was dargestellt wird – sowohl für das Verständnis von Texten des 21. als auch des 12. Jahrhunderts. Über den Ort zu sprechen, „wo Differenzen auftreten“, sei laut Haraway nur die „Illusion einer wesenhaften, festgelegten Position, während Letzteres [der ‚Ort, wo die Wirkungen der Differenzen erscheinen‘ – R.F.S.] uns dazu erzieht, genauer zu beobachten.“ (ebd.).
Haraways Position als Denkmodell für einen mittelalterlichen Text heranzuziehen, in dem Automaten auftreten, könnte bedeuten, die Automaten nicht als dämonische Schöpfung per se aufzufassen, sondern sie als Faktoren zu begreifen, die die menschliche (höfische) Ordnung stören. In der Interaktion mit menschlichen Figuren kommt es zu Interferenzen, welche wie bei Haraway aus moderner Sicht als Beugungsmuster interpretiert werden können. Das würde bedeuten, dass das Andere nicht zwangsläufig eine ‚Brechung‘ oder ‚Spiegelung‘ sei, um bei der Terminologie Haraways zu bleiben, sondern die Interferenzen zwischen menschlicher und außermenschlicher Existenz zu einem Beugungsmuster führen würden, mithin – wenn man bei diesem physikalischen Beispiel bleiben möchte – zu einem Kontakt, bei dem die Grenzen verschwimmen.
Bei Benoît wie bei Herbort liefert der Automatensalon erwartungsgemäß Stereotype: Weise Männer haben die Automaten geschaffen und – entsprechend dieser zweiten Schöpfung – sind auch die zwei menschlichen Geschlechter vertreten. Allerdings machen die verschiedenen Einflüsse auf die Gestaltung dieser Szene deutlich, dass sich hier verschiedene Diskurse überlagern. Zu diesen Einflussgrößen gehören sowohl der hintergründige theologische Diskurs als auch die Anspielungen auf die so genannten Wunder des Ostens, sowie weiterhin die orientalische Herkunft des Materials und schließlich auch die vorderhand fremde antike Thematik, die in die höfische europäische Kultur des Hochmittelalters narrativ integriert wird. Würde man noch auf die kritischen Erzählertöne ausgreifen und die Diabolisierung der Automaten thematisieren, wäre die Analyse abgeschlossen. Die Automaten bleiben menschenähnlich, doch fremd und bedrohlich. Das wiederum ist für Benoît ein reines Wunder, für Herbort hingegen ein moralisch äußerst verwerfliches Spektakel, wie es sich für ihn bei der prophezeienden Figur darstellt. Aus diesem Grund sollte der Fokus vor allem auf die Wirkungen der Differenzen gelegt werden. Jutta Eming hat im Nachzeichnen der Verwicklungen in der altfranzösischen Version des Automatenzimmers aufgezeigt, dass die Automaten „kulturelle Techniken [erinnern und bestätigen]“ (Eming 2006, 45) und somit die „Konstruktion von Männlichkeit“ (ebd., 45) für eine höfische literarische Figur nicht nur auf Gewaltsamkeit basiert, sondern eben auch auf diesen Kulturtechniken. Es bedarf also artifizieller Wesenheiten, um die höfischen (menschlichen) Ideale zu vermitteln und zu konservieren. Das repetitive Moment dieser Automaten ist ein weiterer Hinweis auf diese Funktion, da sie auf ‚Sich-Wiederholendes‘ im Sinne von ‚Lernen‘ und ‚Erinnern‘ verweisen. Intendiert ist mit der Einführung der Automaten somit auch, die Identität eines Helden zu klären und diese dem höfischen Publikum vor Augen zu führen.
Auch wenn die Technik dieser Automaten nach wie vor im Dunkeln bleibt, sind die Konsequenzen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine ergeben, außerordentlich. Die Lücke, die zwischen den Kämpfen durch den rekonvaleszenten Hector entsteht, wird gefüllt mit der Schilderung einer frühen Wunderkammer, die laut Merriam Sherwood (1947) „contains perhaps the most complicated automata of all“ (ebd., 568). Die Heilung des Helden hätte eine 300 Verse lange Erweiterung eigentlich nicht benötigt, dafür erweist sich das Zusammentreffen zwischen diesen zwei Spezies aber als folgenschwer. Hector, der fast getötet wurde (vgl. RdT 14533), wird geheilt, wofür es natürlich eines deus ex machina oder gar eines ganzen automatischen Heiler*innenstabs bedarf. Allerdings gibt das Folgende bei Herbort wiederum zu denken: Paris und Helena erhalten nach der Genesung Hectors das Zimmer und pflegen dort „suzze[] minne“ (LvT 9381; „angenehme Liebe“), sie bleiben zehn Jahre dort, „[d]o mvste in misselingen“ (LvT 9389; „bis es ihnen schlecht ergehen sollte“). Aus dem langen Aufenthalt des Liebespaares scheint hier, anders als bei Benoît, fast der Untergang Trojas zu resultieren.
Mit dem Automatenzimmer wird ein Gegenraum geschaffen, in dem das Koexistieren von Automat und Mensch auf den ersten Blick – zumindest temporär – problemlos erscheint. Die Automaten repräsentieren nicht bloß höfische Kultur, wie es für die historische Realität denkbar wäre, sie sind die ideale höfische Kultur. Sie regulieren Ein- und Auslass (bei Benoît) aus diesem exzeptionellen Bereich. Sie erziehen und heilen Menschen, was Letztere in ein Abhängigkeitsverhältnis bringt. So wie ihre Schaltkreise nicht sichtbar werden, so wird ihre strukturelle Macht über die Menschen nur indirekt greifbar. Mit der Zerstörung Trojas geht allerdings auch dieses Zimmer unter. Das, was als eine Art perpetuum mobile erschien, erweist sich als nicht von Dauer – was auch der Konzeption der beiden Troja-Texte entspricht. Die Automaten, über den Umweg einer modernen Theorie wie das „un/an/geeignete Andere“ gelesen, machen die Bedrohung der höfischen Gesellschaft durch eben jene evident. Unweigerlich führen sie zu Interferenzen zwischen Mensch und Automat und machen somit die Grenzen zwischen beiden Spezies durchlässig. Daraus resultiert letztlich auch die Veränderung der Machtverhältnisse, eine Problematik, die bei Benoît, der dieses Automatentheater in den Trojastoff einführt, vielleicht noch nicht bewusst ist, da hier wahrscheinlich eher noch poetologische Aspekte eine Rolle spielen. Herbort dagegen muss als Rezipient des Trojaromans bereits mit diesem Gefahrenpotential der Automaten umgehen. Es ist anzunehmen, dass er deshalb für die Dämonisierung optioniert und dieses Zimmer schließlich zum Liebesort von Paris und Helena macht, womit er das tragische Ende Trojas gedanklich vorwegnimmt.

Zum Schluss – Automaten im Anderswo?

Die Lektüre hat somit gezeigt, dass menschenähnliche Automaten, wie sie mittelalterliche Texte bevölkern, nicht zwangsläufig nur der Unterhaltung und dem Wunder dienen, sondern sich verschiedene Funktionen in den Automaten überlagern: Sie spiegeln nicht die höfische Gesellschaft, sondern inkorporieren sie. Ihre Menschenähnlichkeit macht sie, anders als ein bedrohlicher kupferner Ritterautomat, zu einem vermeintlichen Partner oder zu einer augenscheinlichen Partnerin. Doch durch ihre Kenntnisse und ihren Einfluss beherrschen sie das Zimmer, und ihr Einfluss geht darüber hinaus: Sie kontrollieren die perfekte höfische Gesellschaft, die diese Perfektion letztlich ihnen verdankt. Aus diesem Grund treten die menschlichen Figuren, sofern sie wie Hector, Paris und Helena namentlich genannt werden, in den Hintergrund; die Leser*innen erhalten keine genaueren Informationen über deren Aufenthalt, außer dass sie geheilt wurden oder sich dort liebten. Die Identität der Automaten konstruiert sich durch die Interaktion mit den menschlichen Figuren, diese aber unterwerfen sich ihrem Diktat derart, als stünden vor ihnen menschliche Herrscher*innen. Dieser Problematik stellen sich auch die mittelalterlichen Texte und versuchen, wie im konkreten Fall von Benoît de Sainte-Maure und Herbort von Fritzlar, darauf adäquat zu reagieren. In gewisser Weise können die hier skizzierten mittelalterlichen Helden als vorweggenommene Metaphern der Cyborgs in moderner Science-Fiction gelesen werden. Zu erinnern wäre hier nur, als ein Beispiel unter vielen, an die Blade Runner Filme (1982 und 2017), die noch wesentlich weiter gehen und den Replikanten (künstlichen Menschen) und sogar menschenähnlichen Hologrammen humane Handlungen und Emotionen zuschreiben. Auch in diesem Fall sind die Grenzen zwischen Mensch und Maschine fließend, sodass sich weniger die Frage danach stellt, was die menschenähnlichen Figuren von den menschlichen trennt, als vielmehr, was sie verbindet.


[1] Vgl. u.a. die basalen Überblickswerke von Ernst (2003a, 2003b) Friedrich (2003) und Zimmermann (2011).

[2] Nigromantie ist im 12. Jh. noch als Synonym zur Magie zu betrachten und somit nicht nur im Sinne der späteren Totenbeschwörung.

[3] Ein Bild im Bild, das sich selbst enthält.

[4] „Zimmer der Wunder (eigentl. Schönheiten)“.

[5] Gerade der Begriff der agency findet in der germanistischen Mediävistik verstärkt Resonanz in den letzten Jahren, da sich „unter [ihm] all diejenigen Ding-Eigenschaften subsumieren lassen, die mit den Aspekten der Wirkmächtigkeit und der Widerständigkeit von Dingen zu tun haben“, der Terminus bietet sich an, „den Literaturwissenschaftler für die Bedeutung von Dingen gerade auch in vormodernen Texten zu sensibilisieren“, wie Mühlherr in dem einschlägigen Band zu „Dingkulturen“ ausführt (vgl. Mühlherr 2016, Zitat: 6f.).

[6] Topisch meint hier ein fixiertes Schema in der mittelalterlichen Literatur, das festlegt, wie z.B. die Schönheit einer Frau gemäß der zeitgenössischen Rhetorik beschrieben wird, was erwähnt werden muss und worüber nicht gesprochen werden darf.

Literaturverzeichnis

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Über den Autor / About the Author

Ronny F. Schulz

Studium der Älteren Deutschen Philologie und Philosophie an der Technischen Universität Berlin sowie Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion zur „Wahrnehmung des Neuen in der Literatur des 16. Jahrhunderts“ (veröffentlicht 2018). Seit 2014/2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte u.a.: Kulturwissenschaftliche Mediävistik, deutsch-romanische Literaturbeziehungen, Mythenrezeption, Lyrik.

Ronny Schulz

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