de:do denkste:<i> puppe</i>
denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus


Die Gliederpuppe – vom Hilfsmittel zur Projektionsfigur. Eine Untersuchung der Gliederpuppe im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/79) von Edgar Degas

Miriam Koban



Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings



Abstract:
Die Gliederpuppe unterliegt im 19. Jahrhundert einem Bedeutungswandel. Diente sie seit der Renaissance vorwiegend als Atelierhilfe, kam sie in der beginnenden Moderne vermehrt als Bildmotiv zum Einsatz. Durch ihre Eigenschaft als Stellvertreterin des Menschen stellt sie eine Projektionsfläche dar, auf die sich gesellschaftliche Diskurse übertragen lassen. Im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/79) von Edgar Degas greifen mehrere Deutungsebenen ineinander, die sich rund um Degas’ Malerkollegen und dessen achtlos an die Wand geworfene Gliederpuppe auftun. In der Bild-Szene spiegeln sich nicht nur das Verhältnis zwischen Maler und Modell, sondern gleichermaßen das zwischen Mann und Frau und den damit verknüpften zeitgenössischen Diskursen von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Der Puppe ist als leblos-belebtes Wesen insbesondere die Komponente des Unheimlichen zu eigen. Ihre Vielschichtigkeit und Ambivalenz lassen sich in Degas’ Gemälde auf subtile Weise analysieren.

Schlagworte: Gliederpuppe; Modell; Weiblichkeit; unheimlich; Malerei; 19. Jahrhundert

Zitationsvorschlag: Koban, M. Die Gliederpuppe – Vom Hilfsmittel Zur Projektionsfigur.: Eine Untersuchung Der Gliederpuppe Im Gemälde Porträt Von Henri Michel-Lévy (1878/79) Von Edgar Degas. de:do 2020, 3, 38-47. DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Copyright: Miriam Koban. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Veröffentlicht am: 20.10.2020

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Die Gliederpuppe als Stellvertreterin des Menschen

Abbildung 1: Edgar Degas, Porträt von Henri Michel-Lévy, 1878/1879

Abbildung 1: Edgar Degas, Porträt von Henri Michel-Lévy, 1878/1879

"Tout est relation dans un tableau“ – so beschrieb Edgar Degas (1834–1917) die eigenen Werke (Halévy 1960, 63). Er war ein Maler, der sich weniger für die spontanen Eingebungen und das lockere Arrangement interessierte als für die Verbindungen, die er zwischen den Figuren und Objekten auf seinen Leinwänden schloss.
Im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/1879) (vgl. Abbildung 1) trifft der Rezipierende auf ein komplexes Beziehungsgeflecht, das sich zwischen Degas’ Malerkollegen Henri Michel-Lévy (1844–1914) und dessen Utensilien in seiner Kunstwerkstatt auftut.
Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Gliederpuppe, die Degas prominent in die rechte Ecke gesetzt hat. Die auf den ersten Blick gewöhnliche Atelierszene lässt bei eingehender Betrachtung vielschichtige Deutungsebenen zu, die auf die Puppe und ihre Eigenschaft als Projektionsfigur gesellschaftlicher und künstlerischer Diskurse zurückgeführt werden können. Dabei wird das Verhältnis zwischen Frau und Mann, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Mensch und Maschine verhandelt. So manifestiert sich in der Puppe ein Teil der Hoffnungen und Ängste, die die europäische Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts zu Beginn der Moderne umtreibt. Dem menschlichen Körper nachempfunden, nimmt die Gliederpuppe dabei eine Stellvertreterfunktion ein. Die Übersetzung des Begriffs in andere Sprachen macht dies deutlich: Während das deutsche Wort Gliederpuppe vornehmlich den künstlerischen Werkstattbehelf beschreibt, ist der italienische Begriff manichino offener. Er ist dem Niederländischen mannekijn ähnlich, was Männchen bzw. kleine menschliche Figur bedeutet (Peppel 2008, 25). Aus demselben Wortstamm speist sich das französische mannequin. In jenen Sprachregionen bezeichnet der Begriff sowohl den künstlichen Körper von Schneiderbüsten, Glieder- oder Schaufensterpuppen
als auch das aus Fleisch und Blut bestehende menschliche Modell (ebd., 27). Diese Ambivalenz macht die Gliederpuppe zu einem Übergangsobjekt, das den Menschen sowohl repräsentiert als auch auf das Fehlen des Menschen hinweist. Sie markiert eine Leerstelle und füllt sie gleichzeitig aus (ebd., 122).

Die Gliederpuppe als Untersuchungsgegenstand

Obwohl die Gliederpuppe bis heute als Hilfsmittel im Atelier existiert, stiess sie in der kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung erst vor Kurzem auf erhöhtes Interesse. Lange Zeit wurde sie weder in Studien zu Künstlermodellen noch in Untersuchungen zu Werkstätten und Ateliers zentral behandelt. Auch in der Geschichte der Mode und der Puppenhistorie fristete sie ein Schattendasein. In historischen Abhandlungen über künstlerische Praktiken wird sie selten erwähnt und von Seiten der Kunstschaffenden erfuhr sie eher geringe Aufmerksamkeit. Auch als Bildmotiv wurde sie bis ins 19. Jahrhundert nur vereinzelt eingesetzt. Erst im Realismus erfuhr die Puppe einen Bedeutungswandel und hielt motivisch Einzug ins künstlerische Werk.
Das verstärkte Interesse in der jüngeren Vergangenheit zeigte sich beispielsweise in der großen Ausstellung Puppen, Körper, Automaten, in der Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora (1999) die Gliederpuppe im Kontext der Moderne ausstellten und ihren komplexen Symbolgehalt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive beleuchteten. Darauf aufbauend befassen sich eine Reihe weiterer Publikationen und Ausstellungen mit dem Thema (Glieder-)Puppen: So arbeitet Stefanie Dathe (2011) die Puppe als Projektionsfigur in der Kunst heraus. Jane Munro (2014) bezeichnet sie als Silent Partners in der gleichnamigen Ausstellung, die die Gliederpuppe in den wissenschaftlichen Diskurs einbindet und sie gleichwertig neben Abhandlungen über Schaufensterpuppen, Automaten, Effigien und Spielzeugpuppen setzt. Und nicht zuletzt leistet Markus Rath (2016) eine umfassende historische Aufarbeitung der Gliederpuppe als bewegliche Figur in Menschengestalt. Zurecht betont allerdings Claudia Peppel (2008) in ihrer Arbeit über den Manichino, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gliederpuppe besonders in der Malerei befangener zeigte: Während das (nicht lebendige) Modell in der Architektur und der Bildhauerei durch die Epochen hinweg selbstverständlicher Gegenstand der Forschung war, blieb es in der Malerei weitestgehend unthematisiert – möglicherweise aus Respekt vor der Dekonstruktion des künstlerischen Genies? So umgebe nach Peppel die Gliederpuppe häufig „eine Aura des Unbehagens [und] der Furcht vor einem Verlust an Originalität“ (ebd., 94f.).

Edgar Degas und das Puppenmotiv als Untersuchungsgegenstand

Die meisten der jüngst erschienenen Publikationen und Abhandlungen über Puppen in der Kunst nehmen Bezug auf Edgar Degas’ Porträt von Henri Michel-Lévy. Anders verhält es sich mit dem umfangreichen schriftlichen Korpus über Edgar Degas. Da oftmals nur ein Teilaspekt von Degas’ Werk behandelt wird, sind die Arbeiten, die das zu untersuchende Gemälde thematisieren, relativ überschaubar. Zu ihnen gehört die Publikation Portraits by Degas (1962) von Jean Sutherland Boggs, die das besagte Atelierbild ikonografisch analysiert, aber noch davon ausgeht, nicht Michel-Lévy, sondern Paul Cezanne vor sich zu haben; ein Missverständnis, das erst von Theodore Reff in der Publikation The Artist’s Mind (1976) aufgeklärt wird. Reffs Hauptaugenmerk liegt dabei auf Degas’ Umgang mit räumlichen Strukturen und dem Interesse an der Person Henri Michel-Lévys. Auch Werner Hofmann (2007) befasst sich mit dem Gemälde und interpretiert das Bild im Kontext eines von Degas entwickelten Realismus, der mehr als anderswo eine unverschleierte Sicht auf die moderne Gesellschaft wiedergebe. Der Aufsatz Täuschungsmanöver von Beate Söntgen (1998) wiederum setzt die weibliche Puppe in Bezug zu Konzepten des Unheimlichen und des radikal Anderen und lässt damit Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen der im Bild gemalten Gliederpuppe und Degas’ Darstellung von Frauen zu.
Generell findet sich in Degas’ Gemälde ein ganzes Spektrum von Paradigmen, mit denen die Puppe in Verbindung gebracht werden kann. Als Hilfsmittel, künstliches Wesen und Projektionsfigur ist sie ambivalent und fungiert als Platzhalterin komplexer gesellschaftlicher Diskurse. Sie büßt weder ihre Funktion als Werkstattattribut ein, noch wird sie ausschließlich auf diese Funktion reduziert. Im Bild ist sie beides zur selben Zeit: sowohl Atelierhilfsmittel als auch Substitut für einen Menschen. Es ist davon auszugehen, dass Degas, als scharfsinniger Beobachter seiner Lebenswelt, die Puppe als prädestiniertes Motiv wählte, um Aussagen über gewisse Tendenzen der modernen Lebenswelt zu machen. Laut Growe verstand es Degas, „das Programm der Modernität“ (Growe 1988, 355) konsequent zu realisieren. Für Growe war Degas ein Maler, der die fundamentale Differenz seiner Zeit gegenüber der gesamten Tradition erkannte und darzustellen verstand. Von der Aufklärung bis weit ins 19. Jahrhundert galt ein Kunstwerk dann als gelungen, wenn die einzelnen Teile so zusammenwirkten, dass sie als ausgewogen und harmonisch empfunden wurden. Dies änderte sich mit der Industrialisierung und dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt. Sie brachten sozio-ökonomische Veränderungen mit sich, die sich im rasanten Wachstum der Großstädte und in neuen Formen der Arbeit und Lebensführung äußerten. Die Lebenswirklichkeit, in der sich Degas wiederfand, galt als beschleunigt, fragmentarisch und überfordernd. So sah sich Degas dazu veranlasst, das „ Abstoßende und Hässliche des modernen Lebens“ (ebd.) zum Stoff seiner Arbeit zu machen. Seine Darstellungen waren nicht geschönt oder poetisch, an der idealen Repräsentation war er nicht interessiert. Dem Kunstkritiker und engen Freund Edmond Duranty zufolge gelang es Degas mit seiner Kunst, das „Clair-obscur social“ (Duranty 1876/1946, 43) auszudrücken – also den Fokus auf die Darstellung der „gesellschaftlichen Randzonen und ihrer Bewohner“ (Hofmann 2007, 10) zu legen.
Dies unterschied den Maler von zeitgenössischen Strömungen wie dem Impressionismus. Obwohl der Maler 1874 an der ersten exposition des peintres impressionnistes teilnahm und vorwiegend im Kreis der Impressionisten verkehrte, überschritt Degas’ Kunst das bloße Verlangen nach der „spontanen Wiedergabe der von farbigen Lichteinwirkungen“ (ebd., 9f) erfüllten Umgebung. Mit der Widergabe einer Wirklichkeit, die von Dissonanzen und Konflikten geprägt war, grenzte sich Degas auch von den Traditionen der akademischen Malerei ab. Er lehnte die etablierte Hierarchie der Bildgattungen ab und tauschte heroische Darstellung gegen Motive des modernen Lebens. Sein Blick richtete sich auf „Milieu und Kleidung, auf die Berufsgesten und das Freizeitverhalten des urbanen Individuums“ (ebd.). Dabei waren Frauen sein favorisiertes Motiv.
Formal trat Degas für exzentrische Kompositionen ein. Er ließ die von Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert in seinem Traktat De pictura (Alberti 1435/1436, Sinisgalli 2011) begründete Auffassung von der Malerei als einem „offenen Fenster“ hinter sich. Stattdessen konzentrierte er sich auf das asymmetrische Arrangement, die flächige Raumwiedergabe und die leere Bildmitte. Degas’ Figuren ragen oftmals über den Bildrand hinaus, wenden sich von den Betrachtenden ab und verblüffen durch ihre rohe, unmittelbare Natürlichkeit. Degas’ Anteil an den revolutionären Ansprüchen, die Kunstschaffende der Moderne an die Wiedergabe ihrer Zeit hatten, bezog sich auch auf den Bildinhalt (Hofmann 2007, 10). In der Tatsache, dass und in der Art und Weise, wie Degas die Puppe im Porträt von Henri Michel-Lévy darstellte, liegt die Besonderheit des Bildes und lädt zu einer näheren Untersuchung im Kontext der Puppenthematik ein. Degas’ Gemälde bildet den Auftakt für die Gliederpuppe als eigenständigem Bildmotiv, das einige Dekaden später bei Kunstschaffenden wie Giorgio de Chirico, Man Ray, Hannah Höch oder Hans Bellmer zum fixen Bestandteil ihres visuellen Repertoires wurde.

Funktionen und Varianten der Gliederpuppe – von der Werkstatthilfe zum Sprung ins Bild

Wie gelang nun der Gliederpuppe der Sprung aus der Werkstatt ins Bild? Durch den Blick in die Vergangenheit lassen sich nicht nur ihre Spezifika in Abgrenzung zu anderen Puppenarten ausmachen, sondern auch und vor allem ihr Bedeutungswandel von der Werkstattgehilfe hin zur Projektionsfigur.

Die Gliederpuppe und ihre Funktion im Atelier

Abbildung 2: Gliedermann, 2. Hälfte 16. Jhd

Abbildung 2: Gliedermann, 2. Hälfte 16. Jhd.

Die Gliederpuppe wird allgemein beschrieben als eine der Gestalt eines nackten Menschen nachgebildete Puppe, deren Kugelgelenke sich durch im Inneren gespannte Saiten bewegen lassen (vgl. Abbildung 2).
Meist ist sie aus Holz gefertigt, von schlanker Gestalt und seit ihrem Aufkommen in drei Größen erhältlich: im Handflächenmaß, als armlange und als lebensgroße Figur (Peppel 2008, 114f). Die ersten Gliederpuppen tauchten bereits im 15. Jahrhundert in den Ateliers der Kunstschaffenden auf. Als Hilfsmittel dienten sie in erster Linie für Studien des Faltenwurfs und für Figurenarrangements auf der Suche nach der optimalen Bildkomposition. In ihrer „zweipoligen Natur aus Bewegung und Verharren“ (Rath 2016, 539) lagen außerdem weitere Vorteile: Durch ihre Beweglichkeit bot sie einerseits ein ganzes Spektrum an flexiblen Körperhaltungen. Andererseits konnte sie statisch in einer Pose verharren und war deshalb für langwierige Studien besonders geeignet.
Ihre Funktion als menschlicher Kleiderständer machte sie für das Ausführen von Drapierungen von der Renaissance bis heute unentbehrlich. Fra Bartolomeo griff um 1500 in einer Studie für die Figur des Christus in Das Jüngste Gericht (1499/1500, vgl. Abbildung 3) (ebd., 292ff.) gleichermaßen auf sie zurück wie Paul Cezanne knapp 400 Jahre später für die Bekleidung von Ismael in einer Studie zum Bildthema Hagar in der Wüste (ca. 1882-5).
Aber nicht nur bekleidet war sie den Künstlerinnen und Künstlern von Nutzen. Durch ihre Bewegbarkeit erleichterte sie die Übertragung von perspektivischen Verkürzungen auf die Fläche und diente dabei als Ersatz für das Aktmodell (Peppel 2008, 95). Der Rückgriff auf die Gliederpuppe hatte in der Neuzeit vor allem moralisch-religiöse Gründe: Die Zurückhaltung gegenüber dem Nackten war im gesellschaftlichen Leben der Renaissance nach wie vor vorhanden und lockerte sich erst im 19. Jahrhundert. Ihr Gebrauch ist im klösterlichen Kontext vor dem Hintergrund des Zölibats und der autark strukturierten Ordensgemeinschaften ebenfalls nachvollziehbar. Außerdem verkörperten menschliche Aktmodelle mit ihren individuellen Körperformen oft nicht das angestrebte Ideal. Bis ins 17. Jahrhundert waren an den Akademien außerdem nur männliche Aktmodelle geduldet, weshalb die Gliederpuppe den verbotenen Zugang zum weiblichen Geschlecht kompensieren musste (ebd., 100).
Trotz ihrer Flexibilität stellte die Gliederpuppe aber nicht den einzigen Ersatz für den menschlichen Körper im Künstleratelier dar. Ihr zur Seite standen weitere Behelfsmodelle wie etwa Abgüsse von antiken Statuen, die die Vorlage für die idealen weiblichen Körperformen lieferten, und sogenannte Écorchés – die Gehäuteten. Dabei handelte es sich um anatomische Modelle ohne Haut, die die einzelnen Muskelgruppen hervortreten ließen und den Kunstschaffenden so die Möglichkeit gaben, den Körper anatomisch-wissenschaftlich zu erfassen. Im 18. Jahrhundert wurde die hölzerne Gliederpuppe zudem häufig von Stopfpuppenmodellen – den Vorläufern heutiger Schaufensterpuppen – abgelöst (ebd., 114f).

Abbildung 3: Fra Bartolomeo, Studie für die
Figur des Christus in Das Jüngste Gericht,
1499/1500

Abbildung 3: Fra Bartolomeo, Studie für die Figur des Christus in Das Jüngste Gericht, 1499/1500

Die Gliederpuppe als Kunstkammerobjekt

Es werden zwei Typen von Gliederpuppen unterschieden (vgl. Weixlgärtner 1954). Die einfachen, ohne individuelle Merkmale gehaltenen, italienischen Modelle, die um 1500 in Umlauf kamen und sich beständig hielten. Und die, etwa um 1530 im süddeutschen Raum entstandenen, stilisierten Modelle, die dem Monogrammisten IP und dessen Umfeld zugeschrieben werden (um 1525, vgl. Abbildung 4).

Die Figuren traten meistens paarweise als Mann und Frau in Erscheinung. Sie waren kunstvoll geschnitzt, wiesen individualisierte Züge auf und waren bis in die Zehen- und Fingerspitzen hinein beweglich (ebd., 37ff). Es existieren allerdings nur Mutmaßungen über die Verwendung dieser Puppen. Während sie für Weixlgärtner in den Kontext der Kunstkammerobjekte gehören, argumentiert Peppel für eine zusätzliche Funktion als Ateliermodelle (Peppel 2008, 132).
Den widersprüchlichen Meinungen zum Trotz ist man sich in der kunsthistorischen Forschung einig, dass es sich bei den raffiniert angefertigten Gliederpuppen um bemerkenswerte Ausnahmen handelt. Denn bildliche Zeugnisse, auf denen das Modell als solches erkennbar ist, sind kaum zu finden. Dieses Missverhältnis erklärt sich aus dem Zweck ihrer Verwendung. Als Künstlerbehelf tritt die Gliederpuppe ausschließlich als Vorzeichnung in Erscheinung, die in der Endausführung meistens zu einer menschlichen Figur ausgearbeitet wird (ebd.). Dass die Gliederpuppe dennoch ein nicht wegzudenkendes Hilfsmittel gewesen ist, zeigt das Zeichenlehrbuch Van’t Light der Teken en Schilderkonst (1643/44) des Zeichners und Kupferstechers Crispijn van de Passe der Jüngere. Darin widmete er der Gliederpuppe und ihrem Gebrauch ein ganzes Kapitel (vgl. Eschenburg 2001, 142f.). Im Abschnitt über ihre Herstellung gab van de Passe außerdem Auskunft darüber, dass die Gliederpuppe in den meisten Fällen nicht vom Künstler selbst, sondern von dafür ausgebildeten Holzschnitzern angefertigt wurde. Dafür findet sich in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts ein herausragendes Beispiel. In Werner van den Valckerts Porträt eines Schreiners (1624; vgl. Abbildung 5) posiert ein Schnitzmeister in feiner Robe vor seinem raffiniert angefertigten Gliedermann.
Die Anatomie wurde mit Ausnahme des Unterleibs bis ins Detail ausgearbeitet. Trotz der Werkzeuge zu Füßen der Puppe handelt es sich bei der Darstellung wohl kaum um eine Momentaufnahme des soeben vollendeten Herstellungsprozesses, da Raspeln oder Holzspäne fehlen. Rath geht davon aus, dass es sich bei der kleinen Holzfigur um das Meisterstück des Kunstschnitzers handelt. Van der Valckert würde mit dem Bild einen Einblick in dessen Handwerksgilde geben, die der Gliederpuppe als besonders schwierig auszuführendes Objekt offensichtlich eine hohe Bedeutung beigemessen haben (Rath 2016, 346ff.).

Abbildung 4: Umkreis des Monogrammisten IP, Gliedermann und Gliederfrau, um 1525

Abbildung 4: Umkreis des Monogrammisten IP, Gliedermann und Gliederfrau, um 1525

Die Gliederpuppe im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/1879)

Der Sprung zu Degas knapp 250 Jahre später und der Vergleich zwischen den beiden Gemälden macht den Unterschied der Darstellung der Gliederpuppe deutlich. Bei van der Valckert wird sie stolz präsentiert, bei Degas liegt sie achtlos und in verdrehter Haltung in der Ecke. In jenem Bild ist sie explizit männlich, im anderen wird sie in Frauenkleidern gezeigt. Außerdem wandelt sich ihre Materialität vom ursprünglich aus Holz gefertigten Objekt zu einer Mischform, deren Rumpf aus einem Metallgerüst geformt und mit einer weichen, meist aus einem Seidenstrumpf oder Lederfutteral bestehenden, Hülle überzogen wurde (Peppel 2008, 26). Die sogenannte Stopfpuppe war ab Ende des 18. Jahrhundert in bekannten Manufakturen wie der von Paul Huot in Paris erhältlich und bei Künstlern zunehmend beliebt (Munro 2014, 31ff).
Bei Michel-Lévy war die Puppe bis kurz vor der Entstehung des Porträts noch als Modell zum Einsatz gekommen. Man erkennt sie, in die rosafarbene Robe und den Strohhut gehüllt, als weibliche Figur in der riesigen Landschaftsszene rechts neben dem Maler. Dieser blickt, gegen ein an der Wand hängendes Bild gelehnt, nachdenklich dem Betrachtenden entgegen. Vor ihm steht ein aufgeklappter Künstlerkasten, auf welchem Palette und Pinsel liegen. Die Situation vermittelt indes eine beunruhigende Passivität: Im Gegensatz zu herkömmlichen Malerdarstellungen ist Michel-Lévy nicht während der Arbeit oder mit seinem vollendeten Werk wiedergegeben, sondern posiert ausdruckslos, mit halb verschattetem Gesicht, die Hände in den Hosentaschen. Zwar lenken die Bilddiagonalen das Auge fest auf den Maler, doch wirkt das Bild statisch, einem Stillleben ähnlich (Munro 2014, 135).

Abbildung 5: Werner van den Valckert,
Porträt eines Schreiners, 162

Abbildung 5: Werner van den Valckert, Porträt eines Schreiners, 1624

Exkurs: Zur Beziehung zwischen Henri Michel-Lévy und Edgar Degas

Wer war der Maler, den Degas in seinem Atelier porträtierte und dem er die Gliederpuppe als ambivalente Figur, die in der Regel als Ersatz für etwas stand, so unvermittelt an die Seite stellte?
Über Henri Michel-Lévy ist wenig bekannt. Reff (1976) zufolge bewegte sich Michel-Lévy im Kreis der Impressionisten; mit Degas teilte er ein Atelier. Von Michel-Lévys OEuvre ist kaum etwas erhalten. Nichtsdestotrotz konnte Reff das Gemälde, auf dem die Gliederpuppe als weibliche Figur abgebildet ist, identifizieren. Der Maler zeigte es unter dem Titel Die Regatten (ca. 1878) kurze Zeit nach Fertigstellung jener Atelierszene im Pariser Salon (ebd., 125ff). Das Querformat rechts erinnert an Manets Frühstück im Grünen (1863). Mit der Entscheidung, Michel-Lévy im Kontext dieser beiden Aussenszenen darzustellen, charakterisierte Degas seinen Malerkollegen als konventionellen, sowohl den Impressionisten als auch der akademischen Malerei nahestehenden Künstler.
Degas hingegen pflegte im Gegensatz zu Michel-Lévy einen gänzlich anderen Umgang mit der Bildkomposition. Er gab die allgemein favorisierte Totalansicht und präzise Raumtiefe zugunsten eines bühnenbildartigen Ausschnitts auf, in dem sich die räumlichen Komponenten wie Paravents in das Bild schieben. Im Porträt von Henri Michel-Lévy ist alles „Fragment“ (Hofmann 2007, 100): die Puppe am Boden, der aufgeklappte Farbkasten, die beiden Leinwände hinter dem stehenden Mann. Ihre Skizzenhaftigkeit und die schemenhaft angelegte körperliche Modellierung verstärken diesen Eindruck. Inmitten dieses klaustrophobischen Raumgefüges findet sich der Maler wieder, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, gefangen zwischen seinen eigenen Kreationen. Er nimmt keinen Anteil an den Vergnügungen und der Geselligkeit, die sich rundherum in seinen Gemälden abspielen (Reff 1976, 129). Degas stellt den Künstler als vereinsamten Menschen dar, dessen Eigenschaft als Schöpfender erschöpft zu sein scheint. Die Szene bildet die Antithese zum Mythos des Pygmalion, in dem sich der antike Bildhauer aus Enttäuschung von seinen Erfahrungen mit Frauen in eine von ihm geschaffene Skulptur verliebt. Pygmalion bittet die Göttin Venus, sein Werk lebendig werden zu lassen, was diese auch tut. Der Mythos bietet die Ursprungsmatrix für die Verlebendigung eines künstlich erschaffenen Menschen (Eschenburg 2001, 13f; Stoichita 2011). In Degas’ Gemälde hingegen scheint die Puppe weit davon entfernt, lebendig zu werden. Sie ist nicht Muse, nicht Gefährtin; im Gegenteil: Sie fungiert als vollkommen vom Maler abhängiges Wesen, über das er frei verfügen kann. Zwar ist die Beziehung zwischen Maler und Puppe durch die Bilddiagonale hin zum Gemälde an der Wand gegeben und die Verlebendigung der Puppe dem Bild quasi eingeschrieben, doch passiert dies auf einer rein formalen Ebene, nicht aber auf einer psychologischen.
Möglicherweise liegt in der leblos dargestellten Gliederfrau auch eine persönliche Kritik an derartigen künstlerischen Hilfsmitteln. In den historischen Quellen finden sich keine Indizien über eine regelmäßige Verwendung von Gliederpuppen. Alice Michel beschrieb 1919 in ihren Aufzeichnungen über ihre Zeit als Modell Degas’ Atelier als ein Sammelsurium von Staffeleinen, Modellierblöcke, Tischen, Sesseln, Wandschirmen und Bilderrahmen; die Erwähnung einer Gliederpuppe fehlt (Michel 1919/1988, 144f).
Degas bevorzugte das lebendige Modell, auch wenn sein Verhältnis zu ihm – wie generell zu Frauen – bisweilen ambivalent blieb. Er behandelte sie mit einer Mischung aus Rüdheit und Verehrung. Über die Protagonistin in Alice Michels Essay geriet er ins Fluchen – „Verdammt nochmal! Posieren Sie heute aber schlecht!“ (ebd., 143) –, während er seinem Lieblingsmodell Emma Dobigny 1869 schmeichelnd schrieb: „Du kommst nicht mehr, kleine Dobigny [?] Versuche doch, mir irgendeine Seance einzurichten“ (Degas 1869/1988, 84).
Die sanften Worte standen im Kontrast zu dem, was Degas seinen Modellen an Posen abverlangte. Um die von ihm für seine Kunst beanspruchte Authentizität zu erreichen, liess er sie sich als Wäscherinnen, Büglerinnen, Badende oder Tänzerinnen oftmals qualvoll verrenken. Man kann also davon ausgehen, dass Degas seine Modelle nach seinem Belieben formte – als lebendige Gliederpuppen.

Gliederpuppen und Automaten als Figuren des Unheimlichen

Die Gliederpuppe stellt als Bildmotiv in Degas’ Werk eine Exotin dar. Sie taucht weder davor, noch danach jemals wieder auf. Welche weiteren Interpretationen lässt sie zu? „Je heftiger die Darstellung des Menschen problematisiert wurde, desto leichter griff man zu diesen Stellvertretern unserer Spezies“ konstatiert Peppel (2008, 78). Im Kontext kollektiver Ängste vor dem Künstlichen und Andersartigen, haftet der Puppe die Komponente des Unheimlichen an. Sie fungiert als künstlich erschaffenes menschliches Double, ein Thema, das in der romantischen Literatur seit Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder bespielt wurde – etwa in Der Sandmann (1816) von E. T. A. Hoffmann – und teilweise auch in die Kunst einfloss.
In den literarischen Werken steht häufig die Automate, eine der Gliederpuppe verwandte Figur, im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um mechanische, sich bewegende und sprechende Maschinen in Menschengestalt, deren Konstruktion der technische Fortschritt des 18. Jahrhunderts ermöglicht hatte. Die Automaten wurden als dem Menschen verwandt angesehen. Bereits René Descartes (1596- 1650) verglich den menschlichen Körper mit einem durch Räder und Gewichte angetriebenen Uhrwerk. Der Arzt Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) ging noch weiter. Einem humanistischen Weltbild folgend schrieb er in L‘Homme Machine (1748), dass Menschen im Grunde genommen beseelte Maschinen seien, deren ausgefeilte innere Mechanik für das Fortleben verantwortlich sei (Braun 2014, 61). Anfangs konzentrierte sich das Interesse für die Automaten vorwiegend auf die Mechanik und täuschende Lebensechtheit. Dabei waren kaum geschlechtsspezifische Tendenzen zu erkennen. Dies änderte sich mit ihrer Vereinnahmung durch die Literatur der Romantik – der Automatenmensch wurde weiblich und zum Objekt dichterischer männlicher Phantasie (Hille 1999, 304). Ihr Hauptattribut lag in der Fähigkeit der Täuschung, die sich speziell im weiblichen Kunstmenschen ausdrückt (Söntgen 1999, 125ff.) Als Doppelgängerin (vgl. Rank 1925/1993) stellte sie das negative Pendant zum positiven Menschen aus Fleisch und Blut dar. Dabei irritiert sie oftmals durch die unscharfe Grenze zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit und erzeugt deshalb eine „Atmosphäre des Unheimlichen und der Bedrohung“ (Neuhaus 2014, 207).
Das deutsche Wort unheimlich als Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut wurde von Sigmund Freud (Freud 1919/1970, 244) als ein Charakteristikum für den künstlich gefertigten Menschen herangezogen. Freud beruft sich dabei unter anderen auf Ernst Jentsch, der bereits 1906 konstatiert hatte, dass das Unheimliche dann zum Vorschein komme, wenn „Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens [herrschen würden] und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei“ (Jentsch 1906, 197). Darüber hinaus liegt die unheimliche Komponente für Freud nicht nur in der Verwechslung von echten und künstlichen Menschen, sondern vor allem in der zwanghaften Wiederholung kindlicher Ängste. Söntgen fasst Freuds Theorie folgendermaßen zusammen: Das Unheimliche am Kunstmenschen fördere die eigenen kindlichen Ängste vor „Identitätsverlust, Zerstückelung und Fragmentierung“ (Söntgen 1999, 127). Demnach sei das Unheimliche – gemäß Freud – nicht das bedrohlich Fremde, sondern das Vertraute, das „als Verdrängtes in zwanghafter Wiederholung zurückkehrt“ (ebd.).

Abbildung 6: Edgar Degas, Interieur (Die Vergewaltigung), um 1870

Abbildung 6: Edgar Degas, Interieur (Die Vergewaltigung), um 1870

Die Gliederpuppe als Stellvertreterin der bürgerlichen Frau

Wird nun die weibliche Gliederpuppe in Degas’ Gemälde als Pendant zur Automate gesehen und im Kontext des Unheimlichen betrachtet, drängt sich die Verbindung zu vorherrschenden Geschlechterdiskursen und der Rolle der Frau im 19. Jahrhundert auf. Dabei sind Aspekte von Verlangen und Lust genauso ausschlaggebend wie die der Misogynie und der damit verbundenen Degradierung der Frauen zu Objekten.
Gemäss Hille kann man davon ausgehen, dass der im bürgerlichen Zeitalter veränderte Blick auf den menschlichen Körper dazu beigetragen hat, die Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit als biologisch bedingte Gegensätze zu definieren (Hille 1999, 305). Die natürliche Frau stand dem Männlichen diametral und in gewisser Weise fremd gegenüber. Die Irritation darüber konnte durch die lebensechte Puppe und die perfekt konstruierten Automate kompensiert werden. Ihrem Schöpfer dient die weibliche Puppe vor allem den eigenen narzisstischen Bestrebungen: „Als komplementäres Anderes entworfen und nach dem Ideal der Vollkommenheit gebildet, nährt sie dessen Illusion eigener Ganzheit und Identität“ (ebd., 125). Die Täuschung über ihre Vollkommenheit kann jedoch nicht ewig aufrechterhalten werden, sodass die Illusion von Ganzheit und somit die narzisstischen Projektionen des Schöpfers allmählich zerbrechen.
Diesen Prozess führt uns Degas im Bild Porträt von Henri Michel-Lévy vor Augen.

Abbildung 7: Edgar Degas,
Drei Dirnen auf einem Sofa, 1879

Abbildung 7: Edgar Degas, Drei Dirnen auf einem Sofa, 1879

Die Frustration über die Auflösung des weiblichen Ideals zeigt sich in der gewaltsamen Inbesitznahme der Puppe von Seiten des Malers. Die Erkenntnis über die Unvollkommenheit der künstlichen Frau wirkt auf das Bild der echten Frau zurück, sodass sich Paradigmen von Weiblichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit unauflöslich ineinander verschränken. Die Brutalität, mit der die Gliederpuppe in die Ecke geworfen wurde, veranlasst Hofmann zum Vergleich mit Degas Bild Interieur (Die Vergewaltigung) (um 1870, vgl. Abbildung 6).
Michel-Lévy lehnt an der Wand wie nach vollbrachter Tat. Seine Körperhaltung ähnelt der des Mannes in Die Vergewaltigung. In beiden Bildern geht es um einen Gewaltakt, „der als Vorfall nicht stattfindet“ (Hofmann 2007, 59). Die Frau, beziehungsweise die Puppe, wendet dem Mann den Rücken zu, in der Gewissheit, ihm rettungslos ausgeliefert zu sein. Schmid beschreibt die Szene in Die Vergewaltigung als „die Kehrseite der Leidenschaft“ (Schmid, 388), als die Inbesitznahme des weiblichen Geschlechts. Auch der Maler Michel-Lévy nahm eine Frau in Besitz, benutzte und verbrauchte sie für seine Zwecke. Der Malakt wurde zum Sexualakt. Degas hält die Kontrolle über das künstliche Geschöpf fest, zeigt die Puppe als Modell und malt sie gleichzeitig als Porträt.

"In der weggeschobenen Puppe bringt Degas die von männlicher Willkür definierte Rolle der Frau auf den äußersten Punkt der körperlichen Zerstörung und geistigen Entmündigung“ (ebd.). Hofmann interpretiert die Misshandlung sowohl als eine psychische wie auch eine physische, welche die bürgerliche Frau als soziales Konstrukt insgesamt treffen würde. Um dies aufzuzeigen, griff Degas zur ambivalenten Figur der Gliederpuppe.

Abbildung 8: Edgar Degas,
Das Warten II, 1879

Abbildung 8: Edgar Degas, Das Warten II, 1879

Fazit – Gesellschaftskritik durch die Gliederpuppe?

Metaphorische Darstellungen von Weiblichkeitsbildern der höheren sozialen Schichten sagen zugleich etwas über die der unteren aus. Nochlin und Poster gehen davon aus, dass in den Strukturen bürgerlicher Familien das lustvolle Sexualleben zwischen Ehepartnern nicht vorgesehen war: „Among the bourgeoisie, women were viewed as asexual beings, as angelic creatures beyond animal lust […] Prostitution was required by bourgeois males“ (Nochlin & Poster 1978/1999, 163). Durch die Puppe bildet Degas nicht nur die misshandelte bürgerliche Frau ab, sondern auch ihr Gegenstück: die Dirne. In dieselbe Zeit, in der das Bildnis von Michel-Lévy und seiner Gliederfrau entstand, fällt etwa Degas 40-blättrige Serie der Bordell-Monotypien (1876–1885, vgl. Abbildungen 7 und 8), die nackte, sich in derben Posen zur Schau stellende Prostituierte zeigen.
Mit nüchternem Blick und ohne zu werten, zeigt Degas hier die Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf, in der Dirnen zur Befriedigung der männlichen Begehren in gleichem Maße verfügbar sein mussten wie Frauen der gehobenen Schichten. So war Degas stets an einem differenzierten, ungeschönten Bild von Frauen interessiert. Dabei mischte sich in ihre bildliche Wiedergabe eine psychologische Dimension, in der es ihm gelang, individuelle Charakterzüge gleichermaßen abzubilden wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus der sie kamen. Durch den Rückgriff auf die Gliederpuppe schaffte es Degas auf subtile Weise, die Stellung der Frau im bürgerlichen Milieu zu thematisieren. Der Künstler übte jedoch keine Kritik; als sensibler Beobachter seiner Gegenwart führt er uns mithilfe der Puppe nüchtern und ohne moralisch zu werten den gesellschaftlichen Diskurs und seine Widersprüchlichkeiten vor Augen.


Literaturverzeichnis

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List of Figures

Abbildung 1: Edgar Degas, Porträt von Henri Michel-Lévy, 1878/1879, Öl auf Leinwand, 40 × 28 cm, Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian ©Calouste Gulbenkian Foundation, Lisbon. Calouste Gulbenkian Museum - Founder’s Collection. Foto: Catarina Gomes Ferreira

Abbildung 2: Gliedermann, 2. Hälfte 16. Jhd., Eschenholz/Pockholz, Höhe 61 cm, Göteborg, Göteborgs Kunstmuseum.

Abbildung 3: Fra Bartolomeo, Studie für die Figur des Christus in Das Jüngste Gericht, 1499/1500 Kohlezeichnung, London, British Museum.

Abbildung 4: Umkreis des Monogrammisten IP, Gliedermann und Gliederfrau, um 1525, Lindenholz, Höhe 23 cm, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum.

Abbildung 5: Werner van den Valckert, Porträt eines Schreiners, 1624, Öl auf Holz, 82,2 × 57,3 cm, Louisville, The Speed Art Museum.

Abbildung 6: Edgar Degas, Interieur (Die Vergewaltigung), um 1870, Öl auf Leinwand, 81 × 116 cm, Philadelphia, The Philadelphia Museum of Fine Arts.

Abbildung 7: Edgar Degas, Drei Dirnen auf einem Sofa, 1879, Monotypie, 27,8 × 20,6 cm. wikicommons: Götz, Adrieni (1986). Edgar Degas. Pastelle, Ölskizzen, Zeichnungen. Ausstellungskatalog: Kunsthalle Tübingen. Köln: DuMont.

Abbildung 8: Edgar Degas, Das Warten II, 1879, Monotypie schwarz auf Chinapapier, 21,6 × 16,4 cm, Paris, Musée national Picasso. Foto: René-Gabriel Ojéda.



Über die Autorin / About the Author

Miriam Koban

BA in Visueller Kommunikation (Zürcher Hochschule der Künste) und BA in Kunst- und Zeitgeschichte (Universität Fribourg). Zuvor tätig als Buchgestalterin im Verlag Hier und Jetzt, Verlag für Schweizer Kultur und Geschichte. Miriam Koban ist Seniorassistentin im MA Design der Hochschule der Künste Bern und Tutorin für Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Fribourg. Beschäftigung mit Aspekten der kollaborativen Gestaltung im zeitgenössischen Grafikdesign und Publikation mehrerer Beiträge, u. a. in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte und im Katalog zur Ausstellung «Discoteca Analitica» im Fri Art, Kunsthalle Fribourg. Sie lebt in Zürich.

Miriam Koban

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