denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus
Miriam Koban
Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings
Abstract:
Die Gliederpuppe unterliegt im 19. Jahrhundert einem Bedeutungswandel. Diente
sie seit der Renaissance vorwiegend als Atelierhilfe, kam sie in der beginnenden
Moderne vermehrt als Bildmotiv zum Einsatz. Durch ihre Eigenschaft als Stellvertreterin
des Menschen stellt sie eine Projektionsfläche dar, auf die sich gesellschaftliche
Diskurse übertragen lassen. Im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/79)
von Edgar Degas greifen mehrere Deutungsebenen ineinander, die sich rund um Degas’
Malerkollegen und dessen achtlos an die Wand geworfene Gliederpuppe auftun. In der
Bild-Szene spiegeln sich nicht nur das Verhältnis zwischen Maler und Modell, sondern
gleichermaßen das zwischen Mann und Frau und den damit verknüpften zeitgenössischen
Diskursen von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Der Puppe ist als leblos-belebtes Wesen
insbesondere die Komponente des Unheimlichen zu eigen. Ihre Vielschichtigkeit und
Ambivalenz lassen sich in Degas’ Gemälde auf subtile Weise analysieren.
Schlagworte: Gliederpuppe; Modell; Weiblichkeit; unheimlich; Malerei; 19. Jahrhundert
Zitationsvorschlag: Koban, M. Die Gliederpuppe – Vom Hilfsmittel Zur Projektionsfigur.: Eine Untersuchung Der Gliederpuppe Im Gemälde Porträt Von Henri Michel-Lévy (1878/79) Von Edgar Degas. de:do 2020, 3, 38-47. DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594
Copyright: Miriam Koban. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594
Veröffentlicht am: 20.10.2020
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Abbildung 1: Edgar Degas, Porträt von Henri Michel-Lévy, 1878/1879
"Tout est relation dans un tableau“ – so beschrieb Edgar Degas (1834–1917)
die eigenen Werke (Halévy 1960, 63). Er war ein Maler, der sich weniger
für die spontanen Eingebungen und das lockere Arrangement interessierte
als für die Verbindungen, die er zwischen den Figuren und Objekten auf
seinen Leinwänden schloss.
Im Gemälde Porträt von Henri Michel-Lévy (1878/1879) (vgl. Abbildung 1)
trifft der Rezipierende auf ein komplexes Beziehungsgeflecht, das sich zwischen
Degas’ Malerkollegen Henri Michel-Lévy (1844–1914) und dessen Utensilien in
seiner Kunstwerkstatt auftut.
Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Gliederpuppe,
die Degas prominent in die rechte
Ecke gesetzt hat. Die auf den ersten Blick gewöhnliche
Atelierszene lässt bei eingehender
Betrachtung vielschichtige Deutungsebenen
zu, die auf die Puppe und ihre Eigenschaft als
Projektionsfigur gesellschaftlicher und künstlerischer
Diskurse zurückgeführt werden können.
Dabei wird das Verhältnis zwischen Frau
und Mann, Natürlichkeit und Künstlichkeit,
Mensch und Maschine verhandelt. So manifestiert
sich in der Puppe ein Teil der Hoffnungen
und Ängste, die die europäische Gesellschaft
des späten 19. Jahrhunderts zu Beginn der
Moderne umtreibt. Dem menschlichen Körper
nachempfunden, nimmt die Gliederpuppe dabei
eine Stellvertreterfunktion ein. Die Übersetzung
des Begriffs in andere Sprachen macht
dies deutlich: Während das deutsche Wort
Gliederpuppe vornehmlich den künstlerischen
Werkstattbehelf beschreibt, ist der italienische Begriff manichino offener. Er ist
dem Niederländischen mannekijn ähnlich, was Männchen bzw. kleine menschliche
Figur bedeutet (Peppel 2008, 25). Aus demselben Wortstamm speist sich das
französische mannequin. In jenen Sprachregionen bezeichnet der Begriff sowohl
den künstlichen Körper von Schneiderbüsten, Glieder- oder Schaufensterpuppen
als auch das aus Fleisch und Blut bestehende menschliche Modell (ebd., 27).
Diese Ambivalenz macht die Gliederpuppe zu einem Übergangsobjekt, das den
Menschen sowohl repräsentiert als auch auf das Fehlen des Menschen hinweist.
Sie markiert eine Leerstelle und füllt sie gleichzeitig aus (ebd., 122).
Obwohl die Gliederpuppe bis heute als Hilfsmittel im Atelier existiert, stiess sie in
der kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung erst vor Kurzem auf erhöhtes
Interesse. Lange Zeit wurde sie weder in Studien zu Künstlermodellen noch in Untersuchungen
zu Werkstätten und Ateliers zentral behandelt. Auch in der Geschichte
der Mode und der Puppenhistorie fristete sie ein Schattendasein. In historischen Abhandlungen
über künstlerische Praktiken wird sie selten erwähnt und von Seiten der
Kunstschaffenden erfuhr sie eher geringe Aufmerksamkeit. Auch als Bildmotiv wurde
sie bis ins 19. Jahrhundert nur vereinzelt eingesetzt. Erst im Realismus erfuhr die
Puppe einen Bedeutungswandel und hielt motivisch Einzug ins künstlerische Werk.
Das verstärkte Interesse in der jüngeren Vergangenheit zeigte sich beispielsweise
in der großen Ausstellung Puppen, Körper, Automaten, in der Pia Müller-Tamm und
Katharina Sykora (1999) die Gliederpuppe im Kontext der Moderne ausstellten und
ihren komplexen Symbolgehalt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive beleuchteten.
Darauf aufbauend befassen sich eine Reihe
weiterer Publikationen und
Ausstellungen mit dem Thema (Glieder-)Puppen: So arbeitet Stefanie Dathe (2011)
die Puppe als Projektionsfigur in der Kunst heraus. Jane Munro (2014) bezeichnet
sie als Silent Partners in der gleichnamigen Ausstellung, die die Gliederpuppe in den
wissenschaftlichen Diskurs einbindet und sie gleichwertig neben Abhandlungen über
Schaufensterpuppen, Automaten, Effigien und Spielzeugpuppen setzt. Und nicht zuletzt
leistet Markus Rath (2016) eine umfassende historische Aufarbeitung der Gliederpuppe
als bewegliche Figur
in Menschengestalt. Zurecht betont allerdings Claudia
Peppel (2008) in ihrer Arbeit über den Manichino, dass sich die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Gliederpuppe besonders in der Malerei befangener
zeigte: Während das (nicht lebendige) Modell in der Architektur und der Bildhauerei
durch die Epochen hinweg selbstverständlicher Gegenstand der Forschung war, blieb
es in der Malerei weitestgehend unthematisiert – möglicherweise aus Respekt
vor
der Dekonstruktion des künstlerischen Genies? So umgebe nach Peppel die Gliederpuppe
häufig „eine Aura des Unbehagens [und] der Furcht vor einem Verlust an
Originalität“ (ebd., 94f.).
Die meisten der jüngst erschienenen Publikationen und Abhandlungen über Puppen
in der Kunst nehmen Bezug auf Edgar Degas’ Porträt von Henri Michel-Lévy.
Anders verhält es sich mit dem umfangreichen schriftlichen Korpus über
Edgar Degas. Da oftmals nur ein Teilaspekt von Degas’ Werk behandelt wird,
sind die Arbeiten, die das zu untersuchende Gemälde thematisieren, relativ überschaubar.
Zu ihnen gehört die Publikation Portraits by Degas (1962) von Jean
Sutherland Boggs, die das besagte Atelierbild ikonografisch analysiert, aber noch
davon ausgeht, nicht Michel-Lévy, sondern Paul Cezanne vor sich zu haben; ein
Missverständnis, das erst von Theodore Reff in der Publikation The Artist’s Mind
(1976) aufgeklärt wird. Reffs Hauptaugenmerk liegt dabei auf Degas’ Umgang
mit räumlichen Strukturen und dem Interesse an der Person Henri Michel-Lévys.
Auch Werner Hofmann (2007) befasst sich mit dem Gemälde und interpretiert
das Bild im Kontext eines von Degas entwickelten Realismus, der mehr als anderswo
eine unverschleierte Sicht auf die moderne Gesellschaft wiedergebe. Der
Aufsatz Täuschungsmanöver von Beate Söntgen (1998) wiederum setzt die weibliche
Puppe in Bezug zu Konzepten des Unheimlichen und des radikal Anderen
und lässt damit Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen der im Bild gemalten
Gliederpuppe und Degas’ Darstellung von Frauen zu.
Generell findet sich in Degas’ Gemälde ein ganzes Spektrum von Paradigmen,
mit denen die Puppe in Verbindung gebracht werden kann. Als Hilfsmittel,
künstliches Wesen und Projektionsfigur ist sie ambivalent und fungiert als
Platzhalterin komplexer gesellschaftlicher Diskurse. Sie büßt weder ihre Funktion
als Werkstattattribut ein, noch wird sie ausschließlich auf diese Funktion
reduziert. Im Bild ist sie beides zur selben Zeit: sowohl Atelierhilfsmittel als
auch Substitut für einen Menschen. Es ist davon auszugehen, dass Degas, als
scharfsinniger Beobachter seiner Lebenswelt, die Puppe als prädestiniertes Motiv
wählte, um Aussagen über gewisse Tendenzen der modernen Lebenswelt zu
machen. Laut Growe verstand es Degas, „das Programm der Modernität“ (Growe
1988, 355) konsequent zu realisieren. Für Growe war Degas ein Maler, der die
fundamentale Differenz seiner Zeit gegenüber der gesamten Tradition erkannte
und darzustellen verstand. Von der Aufklärung bis weit ins 19. Jahrhundert galt
ein Kunstwerk dann als gelungen, wenn die einzelnen Teile so zusammenwirkten,
dass sie als ausgewogen und harmonisch empfunden wurden. Dies änderte
sich mit der Industrialisierung und dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt. Sie brachten sozio-ökonomische Veränderungen mit sich, die sich
im rasanten Wachstum der Großstädte und in neuen Formen der Arbeit und Lebensführung
äußerten. Die Lebenswirklichkeit, in der sich Degas wiederfand,
galt als beschleunigt, fragmentarisch und überfordernd. So sah sich Degas dazu
veranlasst, das „
Abstoßende und Hässliche des modernen Lebens“ (ebd.) zum
Stoff seiner Arbeit zu machen. Seine Darstellungen waren nicht geschönt oder
poetisch, an der idealen Repräsentation war er nicht interessiert. Dem Kunstkritiker
und engen Freund Edmond Duranty zufolge gelang es Degas mit seiner
Kunst, das „Clair-obscur social“ (Duranty 1876/1946, 43) auszudrücken –
also den Fokus auf die Darstellung der „gesellschaftlichen Randzonen und ihrer
Bewohner“
(Hofmann 2007, 10) zu legen.
Dies unterschied den Maler von zeitgenössischen Strömungen wie dem Impressionismus.
Obwohl der Maler 1874 an der ersten exposition des peintres impressionnistes
teilnahm und vorwiegend im Kreis der Impressionisten verkehrte,
überschritt Degas’ Kunst das bloße Verlangen nach der „spontanen Wiedergabe
der von farbigen Lichteinwirkungen“ (ebd., 9f) erfüllten Umgebung. Mit der Widergabe
einer Wirklichkeit, die von Dissonanzen und Konflikten geprägt war,
grenzte sich Degas auch von den Traditionen der akademischen Malerei ab. Er
lehnte die etablierte Hierarchie der Bildgattungen ab und tauschte heroische Darstellung
gegen Motive des modernen Lebens. Sein Blick richtete sich auf „Milieu
und Kleidung, auf die Berufsgesten und das Freizeitverhalten des urbanen Individuums“
(ebd.). Dabei waren Frauen sein favorisiertes Motiv.
Formal trat Degas für exzentrische Kompositionen ein. Er ließ die von
Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert in seinem Traktat De pictura (Alberti
1435/1436, Sinisgalli 2011) begründete Auffassung von der Malerei als einem
„offenen Fenster“ hinter sich. Stattdessen konzentrierte er sich auf das asymmetrische
Arrangement, die flächige Raumwiedergabe und die leere Bildmitte.
Degas’ Figuren ragen oftmals über den Bildrand hinaus, wenden sich von den
Betrachtenden ab und verblüffen durch ihre rohe, unmittelbare Natürlichkeit. Degas’
Anteil an den revolutionären Ansprüchen, die Kunstschaffende der Moderne
an die Wiedergabe ihrer Zeit hatten, bezog sich auch auf den Bildinhalt (Hofmann
2007, 10). In der Tatsache, dass und in der Art und Weise, wie Degas die
Puppe im Porträt von Henri Michel-Lévy darstellte, liegt die Besonderheit des
Bildes und lädt zu einer näheren Untersuchung im Kontext der Puppenthematik
ein. Degas’ Gemälde bildet den Auftakt für die Gliederpuppe als eigenständigem Bildmotiv, das einige Dekaden später bei Kunstschaffenden wie Giorgio de
Chirico, Man Ray, Hannah Höch oder Hans Bellmer zum fixen Bestandteil ihres
visuellen Repertoires wurde.
Wie gelang nun der Gliederpuppe der Sprung aus der Werkstatt ins Bild? Durch den Blick in die Vergangenheit lassen sich nicht nur ihre Spezifika in Abgrenzung zu anderen Puppenarten ausmachen, sondern auch und vor allem ihr Bedeutungswandel von der Werkstattgehilfe hin zur Projektionsfigur.
Abbildung 2: Gliedermann, 2. Hälfte 16. Jhd.
Die Gliederpuppe wird allgemein beschrieben als
eine der Gestalt eines nackten Menschen nachgebildete
Puppe, deren Kugelgelenke sich durch im Inneren
gespannte Saiten bewegen lassen (vgl. Abbildung 2).
Meist ist sie aus Holz gefertigt, von schlanker
Gestalt und seit ihrem Aufkommen in drei Größen
erhältlich: im Handflächenmaß, als armlange
und als lebensgroße Figur (Peppel 2008, 114f). Die
ersten
Gliederpuppen tauchten bereits im 15. Jahrhundert
in den Ateliers der Kunstschaffenden auf.
Als Hilfsmittel dienten sie in erster Linie für Studien
des Faltenwurfs und für Figurenarrangements
auf der Suche nach der optimalen Bildkomposition.
In ihrer „zweipoligen Natur aus Bewegung und
Verharren“
(Rath 2016, 539) lagen außerdem weitere
Vorteile: Durch ihre Beweglichkeit bot sie einerseits
ein ganzes Spektrum an flexiblen Körperhaltungen.
Andererseits konnte sie statisch in einer Pose
verharren
und war deshalb für langwierige Studien
besonders
geeignet.
Ihre Funktion als menschlicher Kleiderständer
machte sie für das Ausführen von Drapierungen
von der Renaissance bis heute unentbehrlich. Fra Bartolomeo griff um 1500 in einer Studie für die Figur des Christus in Das
Jüngste Gericht (1499/1500, vgl. Abbildung 3) (ebd., 292ff.) gleichermaßen auf sie
zurück wie Paul Cezanne knapp 400 Jahre später für die Bekleidung von Ismael
in einer Studie zum Bildthema Hagar in der Wüste (ca. 1882-5).
Aber nicht nur bekleidet war sie den Künstlerinnen
und Künstlern von Nutzen. Durch
ihre Bewegbarkeit erleichterte sie die Übertragung
von perspektivischen Verkürzungen auf
die Fläche und diente dabei als Ersatz für das
Aktmodell (Peppel 2008, 95). Der Rückgriff
auf die Gliederpuppe hatte in der Neuzeit vor
allem moralisch-religiöse Gründe: Die Zurückhaltung
gegenüber dem Nackten war im
gesellschaftlichen Leben der Renaissance nach
wie vor vorhanden und lockerte sich erst im 19.
Jahrhundert. Ihr Gebrauch ist im klösterlichen
Kontext vor dem Hintergrund des Zölibats und
der autark strukturierten Ordensgemeinschaften
ebenfalls nachvollziehbar. Außerdem verkörperten
menschliche Aktmodelle mit ihren
individuellen Körperformen oft nicht das angestrebte
Ideal. Bis ins 17. Jahrhundert waren
an den Akademien außerdem nur männliche
Aktmodelle geduldet, weshalb die Gliederpuppe
den verbotenen Zugang zum weiblichen Geschlecht
kompensieren musste (ebd., 100).
Trotz ihrer Flexibilität stellte die Gliederpuppe aber nicht den einzigen Ersatz
für den menschlichen Körper im Künstleratelier dar. Ihr zur Seite standen
weitere Behelfsmodelle wie etwa Abgüsse von antiken Statuen, die die Vorlage
für die idealen weiblichen Körperformen lieferten, und sogenannte Écorchés – die
Gehäuteten. Dabei handelte es sich um anatomische Modelle ohne Haut, die die
einzelnen Muskelgruppen hervortreten ließen und den Kunstschaffenden so die
Möglichkeit gaben, den Körper anatomisch-wissenschaftlich zu erfassen. Im 18.
Jahrhundert wurde die hölzerne Gliederpuppe zudem häufig von Stopfpuppenmodellen
– den Vorläufern heutiger Schaufensterpuppen – abgelöst (ebd., 114f).
Abbildung 3: Fra Bartolomeo, Studie für die Figur des Christus in Das Jüngste Gericht, 1499/1500
Es werden zwei Typen von Gliederpuppen unterschieden (vgl. Weixlgärtner 1954). Die einfachen, ohne individuelle Merkmale gehaltenen, italienischen Modelle, die um 1500 in Umlauf kamen und sich beständig hielten. Und die, etwa um 1530 im süddeutschen Raum entstandenen, stilisierten Modelle, die dem Monogrammisten IP und dessen Umfeld zugeschrieben werden (um 1525, vgl. Abbildung 4).
Die Figuren traten meistens paarweise als Mann und Frau in Erscheinung. Sie
waren kunstvoll geschnitzt, wiesen individualisierte Züge auf und waren bis in
die Zehen- und Fingerspitzen hinein beweglich (ebd., 37ff). Es existieren allerdings
nur Mutmaßungen über die Verwendung dieser Puppen. Während sie für
Weixlgärtner in den Kontext der Kunstkammerobjekte gehören, argumentiert
Peppel für eine zusätzliche Funktion als Ateliermodelle (Peppel 2008, 132).
Den widersprüchlichen Meinungen zum Trotz ist man sich in der kunsthistorischen
Forschung einig, dass es sich bei den raffiniert angefertigten Gliederpuppen
um bemerkenswerte Ausnahmen handelt. Denn bildliche Zeugnisse, auf
denen das Modell als solches erkennbar ist, sind kaum zu finden. Dieses Missverhältnis erklärt sich aus dem Zweck ihrer Verwendung. Als Künstlerbehelf tritt die
Gliederpuppe ausschließlich als Vorzeichnung in Erscheinung, die in der Endausführung
meistens zu einer menschlichen Figur ausgearbeitet wird (ebd.). Dass
die Gliederpuppe dennoch ein nicht wegzudenkendes Hilfsmittel gewesen ist,
zeigt das Zeichenlehrbuch Van’t Light der Teken en Schilderkonst (1643/44) des
Zeichners und Kupferstechers Crispijn van de Passe der Jüngere. Darin widmete
er der Gliederpuppe und ihrem Gebrauch ein ganzes Kapitel (vgl. Eschenburg
2001, 142f.). Im Abschnitt über ihre Herstellung gab van de Passe außerdem Auskunft
darüber, dass die Gliederpuppe in den meisten Fällen nicht vom Künstler
selbst, sondern von dafür ausgebildeten Holzschnitzern angefertigt wurde. Dafür
findet sich in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts ein herausragendes
Beispiel.
In Werner van den Valckerts Porträt eines Schreiners (1624;
vgl. Abbildung 5) posiert ein Schnitzmeister in feiner Robe vor seinem raffiniert
angefertigten Gliedermann.
Die Anatomie wurde mit Ausnahme
des Unterleibs bis ins Detail
ausgearbeitet. Trotz der Werkzeuge
zu Füßen der Puppe handelt es sich
bei der Darstellung wohl kaum um
eine Momentaufnahme des soeben
vollendeten Herstellungsprozesses,
da Raspeln oder Holzspäne fehlen.
Rath geht davon aus, dass es sich
bei der kleinen Holzfigur um das
Meisterstück des Kunstschnitzers
handelt. Van der Valckert würde mit
dem Bild einen Einblick in dessen
Handwerksgilde geben, die der
Gliederpuppe als besonders schwierig
auszuführendes Objekt offensichtlich
eine hohe Bedeutung beigemessen
haben (Rath 2016, 346ff.).
Abbildung 4: Umkreis des Monogrammisten IP, Gliedermann und Gliederfrau, um 1525
Der Sprung zu Degas knapp 250 Jahre später und der Vergleich zwischen den
beiden Gemälden macht den Unterschied der Darstellung der Gliederpuppe deutlich.
Bei van der Valckert wird sie stolz präsentiert, bei Degas liegt sie achtlos
und in verdrehter Haltung in der Ecke. In jenem Bild ist sie explizit männlich, im
anderen wird sie in Frauenkleidern gezeigt. Außerdem wandelt sich ihre Materialität
vom ursprünglich aus Holz gefertigten Objekt zu einer Mischform, deren
Rumpf aus einem Metallgerüst geformt und mit einer weichen, meist aus einem
Seidenstrumpf oder Lederfutteral bestehenden, Hülle überzogen wurde (Peppel
2008, 26). Die sogenannte Stopfpuppe war ab Ende des 18. Jahrhundert in bekannten
Manufakturen wie der von Paul Huot in Paris erhältlich und bei Künstlern
zunehmend beliebt (Munro 2014, 31ff).
Bei Michel-Lévy war die Puppe bis kurz vor der Entstehung des Porträts
noch als Modell zum Einsatz gekommen. Man erkennt sie, in die rosafarbene
Robe und den Strohhut gehüllt, als weibliche Figur in der riesigen Landschaftsszene
rechts neben dem Maler. Dieser blickt, gegen ein an der Wand hängendes
Bild gelehnt, nachdenklich dem Betrachtenden entgegen. Vor ihm steht ein aufgeklappter
Künstlerkasten, auf welchem Palette und Pinsel liegen. Die Situation
vermittelt indes eine beunruhigende Passivität: Im Gegensatz zu herkömmlichen
Malerdarstellungen ist Michel-Lévy nicht während der Arbeit oder mit seinem
vollendeten Werk wiedergegeben, sondern posiert ausdruckslos, mit halb verschattetem
Gesicht, die Hände in den Hosentaschen. Zwar lenken die Bilddiagonalen
das Auge fest auf den Maler, doch wirkt das Bild statisch, einem Stillleben
ähnlich (Munro 2014, 135).
Abbildung 5: Werner van den Valckert, Porträt eines Schreiners, 1624
Wer war der Maler, den Degas in seinem Atelier porträtierte und dem er die Gliederpuppe
als ambivalente Figur, die in der Regel als Ersatz für etwas stand, so
unvermittelt an die Seite stellte?
Über Henri Michel-Lévy ist wenig bekannt. Reff (1976) zufolge bewegte
sich Michel-Lévy im Kreis der Impressionisten; mit Degas teilte er ein Atelier.
Von Michel-Lévys OEuvre ist kaum etwas erhalten. Nichtsdestotrotz konnte
Reff das Gemälde, auf dem die Gliederpuppe als weibliche Figur abgebildet ist,
identifizieren. Der Maler zeigte es unter dem Titel Die Regatten (ca. 1878) kurze
Zeit nach Fertigstellung jener Atelierszene im Pariser Salon (ebd., 125ff). Das Querformat rechts erinnert an Manets Frühstück im Grünen (1863). Mit der Entscheidung,
Michel-Lévy im Kontext dieser beiden Aussenszenen darzustellen,
charakterisierte Degas seinen Malerkollegen als konventionellen, sowohl den Impressionisten
als auch der akademischen Malerei nahestehenden Künstler.
Degas hingegen pflegte im Gegensatz zu Michel-Lévy einen gänzlich anderen
Umgang mit der Bildkomposition. Er gab die allgemein favorisierte Totalansicht
und präzise Raumtiefe zugunsten eines bühnenbildartigen Ausschnitts auf, in dem
sich die räumlichen Komponenten wie Paravents in das Bild schieben. Im Porträt
von Henri Michel-Lévy ist alles „Fragment“ (Hofmann 2007, 100): die Puppe am
Boden, der aufgeklappte Farbkasten, die beiden Leinwände hinter dem stehenden
Mann. Ihre Skizzenhaftigkeit und die schemenhaft angelegte körperliche Modellierung
verstärken diesen Eindruck. Inmitten dieses klaustrophobischen Raumgefüges
findet sich der Maler wieder, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand,
gefangen zwischen seinen eigenen Kreationen. Er nimmt keinen Anteil an den Vergnügungen
und der Geselligkeit, die sich rundherum in seinen Gemälden abspielen
(Reff 1976, 129). Degas stellt den Künstler als vereinsamten Menschen dar, dessen
Eigenschaft als Schöpfender erschöpft zu sein scheint. Die Szene bildet die Antithese
zum Mythos des Pygmalion, in dem sich der antike Bildhauer aus Enttäuschung
von seinen Erfahrungen mit Frauen in eine von ihm geschaffene Skulptur verliebt.
Pygmalion bittet die Göttin Venus, sein Werk lebendig werden zu lassen, was diese
auch tut. Der Mythos bietet die Ursprungsmatrix für die Verlebendigung eines
künstlich erschaffenen Menschen (Eschenburg 2001, 13f; Stoichita 2011). In Degas’
Gemälde hingegen scheint die Puppe weit davon entfernt, lebendig zu werden. Sie
ist nicht Muse, nicht Gefährtin; im Gegenteil: Sie fungiert als vollkommen vom
Maler abhängiges Wesen, über das er frei verfügen kann. Zwar ist die Beziehung
zwischen Maler und Puppe durch die Bilddiagonale hin zum Gemälde an der Wand
gegeben und die Verlebendigung der Puppe dem Bild quasi eingeschrieben, doch
passiert dies auf einer rein formalen Ebene, nicht aber auf einer psychologischen.
Möglicherweise liegt in der leblos dargestellten Gliederfrau auch eine persönliche
Kritik an derartigen künstlerischen Hilfsmitteln. In den historischen Quellen
finden sich keine Indizien über eine regelmäßige Verwendung von Gliederpuppen.
Alice Michel beschrieb 1919 in ihren Aufzeichnungen über ihre Zeit als Modell
Degas’ Atelier als ein Sammelsurium von Staffeleinen, Modellierblöcke, Tischen,
Sesseln, Wandschirmen und Bilderrahmen; die Erwähnung einer Gliederpuppe
fehlt (Michel 1919/1988, 144f).
Degas bevorzugte das lebendige Modell, auch wenn sein Verhältnis zu ihm – wie
generell zu Frauen – bisweilen ambivalent blieb. Er behandelte sie mit einer
Mischung
aus Rüdheit und Verehrung. Über die Protagonistin in Alice Michels Essay
geriet er ins Fluchen – „Verdammt nochmal! Posieren Sie heute aber schlecht!“
(ebd., 143) –, während er seinem Lieblingsmodell Emma Dobigny 1869 schmeichelnd
schrieb: „Du kommst nicht mehr, kleine Dobigny [?] Versuche doch, mir
irgendeine Seance einzurichten“ (Degas 1869/1988, 84).
Die sanften Worte standen im Kontrast zu dem, was Degas seinen Modellen
an Posen abverlangte. Um die von ihm für seine Kunst beanspruchte Authentizität
zu erreichen, liess er sie sich als Wäscherinnen, Büglerinnen, Badende oder Tänzerinnen
oftmals qualvoll verrenken. Man kann also davon ausgehen, dass Degas
seine Modelle nach seinem Belieben formte – als lebendige Gliederpuppen.
Die Gliederpuppe stellt als Bildmotiv in Degas’ Werk eine Exotin dar. Sie taucht
weder davor, noch danach jemals wieder auf. Welche weiteren Interpretationen
lässt sie zu? „Je heftiger die Darstellung des Menschen problematisiert wurde,
desto leichter griff man zu diesen Stellvertretern unserer Spezies“ konstatiert
Peppel (2008, 78). Im Kontext kollektiver Ängste vor dem Künstlichen
und Andersartigen,
haftet der Puppe die Komponente des Unheimlichen an. Sie
fungiert als künstlich erschaffenes menschliches Double, ein Thema, das in der
romantischen Literatur seit Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder bespielt
wurde – etwa in Der Sandmann (1816) von E. T. A. Hoffmann – und teilweise auch
in die Kunst einfloss.
In den literarischen Werken steht häufig die Automate, eine der Gliederpuppe
verwandte Figur, im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um mechanische, sich
bewegende und sprechende Maschinen in Menschengestalt, deren Konstruktion
der technische Fortschritt des 18. Jahrhunderts ermöglicht hatte. Die Automaten
wurden als dem Menschen verwandt angesehen. Bereits René Descartes (1596-
1650) verglich den menschlichen Körper mit einem durch Räder und Gewichte
angetriebenen Uhrwerk. Der Arzt Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) ging
noch weiter. Einem humanistischen Weltbild folgend schrieb er in L‘Homme
Machine
(1748), dass Menschen im Grunde genommen beseelte Maschinen
seien, deren ausgefeilte innere Mechanik für das Fortleben verantwortlich sei
(Braun 2014, 61). Anfangs konzentrierte sich das Interesse für die Automaten vorwiegend auf die Mechanik und täuschende Lebensechtheit. Dabei waren
kaum geschlechtsspezifische Tendenzen zu erkennen. Dies änderte sich mit ihrer
Vereinnahmung durch die Literatur der Romantik – der Automatenmensch wurde
weiblich und zum Objekt dichterischer männlicher Phantasie (Hille 1999,
304). Ihr Hauptattribut lag in der Fähigkeit der Täuschung, die sich speziell im
weiblichen Kunstmenschen ausdrückt (Söntgen 1999, 125ff.) Als Doppelgängerin
(vgl. Rank 1925/1993) stellte sie das negative Pendant zum positiven Menschen
aus Fleisch und Blut dar. Dabei irritiert sie oftmals durch die unscharfe Grenze
zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit und erzeugt deshalb eine „Atmosphäre
des Unheimlichen und der Bedrohung“ (Neuhaus 2014, 207).
Das deutsche Wort unheimlich als Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut
wurde von Sigmund Freud (Freud 1919/1970, 244) als ein Charakteristikum
für den künstlich gefertigten Menschen herangezogen. Freud beruft sich dabei
unter
anderen auf Ernst Jentsch, der bereits 1906 konstatiert hatte, dass das Unheimliche
dann zum Vorschein komme, wenn „Zweifel an der Beseelung eines
anscheinend
lebendigen Wesens [herrschen würden] und umgekehrt darüber, ob
ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei“ (Jentsch 1906, 197). Darüber hinaus
liegt die unheimliche Komponente für Freud nicht nur in der Verwechslung
von echten und künstlichen Menschen, sondern vor allem in der zwanghaften
Wiederholung kindlicher Ängste. Söntgen fasst Freuds Theorie folgendermaßen
zusammen: Das Unheimliche am Kunstmenschen fördere die eigenen kindlichen
Ängste vor „Identitätsverlust, Zerstückelung und Fragmentierung“ (Söntgen
1999, 127). Demnach sei das Unheimliche – gemäß Freud – nicht das bedrohlich
Fremde, sondern das Vertraute, das „als Verdrängtes in zwanghafter Wiederholung
zurückkehrt“ (ebd.).
Abbildung 6: Edgar Degas, Interieur (Die Vergewaltigung), um 1870
Wird nun die weibliche Gliederpuppe in Degas’ Gemälde als Pendant zur Automate
gesehen und im Kontext des Unheimlichen betrachtet, drängt sich die Verbindung zu
vorherrschenden Geschlechterdiskursen und der Rolle der Frau im 19. Jahrhundert
auf. Dabei sind Aspekte von Verlangen und Lust genauso ausschlaggebend wie die
der Misogynie und der damit verbundenen Degradierung der Frauen zu Objekten.
Gemäss Hille kann man davon ausgehen, dass der im bürgerlichen Zeitalter
veränderte
Blick auf den menschlichen Körper dazu beigetragen hat, die
Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit als biologisch bedingte Gegensätze zu definieren
(Hille 1999, 305). Die natürliche Frau stand dem Männlichen diametral
und in gewisser
Weise fremd gegenüber. Die Irritation darüber konnte durch
die lebensechte Puppe und die perfekt konstruierten Automate kompensiert werden.
Ihrem Schöpfer dient die weibliche Puppe vor allem den eigenen narzisstischen
Bestrebungen: „Als komplementäres Anderes entworfen und nach dem
Ideal der Vollkommenheit gebildet, nährt sie dessen Illusion eigener Ganzheit
und Identität“ (ebd., 125). Die Täuschung über ihre Vollkommenheit kann jedoch
nicht ewig aufrechterhalten werden, sodass die Illusion von Ganzheit und somit
die narzisstischen Projektionen des Schöpfers allmählich zerbrechen.
Diesen Prozess führt uns Degas im Bild Porträt von Henri Michel-Lévy vor
Augen.
Abbildung 7: Edgar Degas, Drei Dirnen auf einem Sofa, 1879
Die Frustration über die Auflösung des weiblichen Ideals zeigt sich in der
gewaltsamen Inbesitznahme der Puppe von Seiten des Malers. Die Erkenntnis
über die Unvollkommenheit der künstlichen Frau wirkt auf das Bild der echten
Frau zurück, sodass sich Paradigmen von Weiblichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit unauflöslich ineinander verschränken. Die Brutalität, mit der die
Gliederpuppe in die Ecke geworfen wurde, veranlasst Hofmann zum Vergleich
mit Degas Bild Interieur (Die Vergewaltigung) (um 1870, vgl. Abbildung 6).
Michel-Lévy lehnt an der Wand wie nach vollbrachter Tat. Seine Körperhaltung
ähnelt der des Mannes in Die Vergewaltigung. In beiden Bildern geht
es um einen Gewaltakt, „der als Vorfall nicht stattfindet“ (Hofmann 2007, 59).
Die Frau, beziehungsweise die Puppe, wendet dem Mann den Rücken zu, in der
Gewissheit, ihm rettungslos ausgeliefert zu sein. Schmid beschreibt die Szene in
Die Vergewaltigung als „die Kehrseite der Leidenschaft“ (Schmid, 388), als die
Inbesitznahme des weiblichen Geschlechts. Auch der Maler Michel-Lévy nahm
eine Frau in Besitz, benutzte und verbrauchte sie für seine Zwecke. Der Malakt
wurde zum Sexualakt. Degas hält die Kontrolle über das künstliche Geschöpf
fest, zeigt die Puppe als Modell und malt sie gleichzeitig als Porträt.
"In der weggeschobenen Puppe bringt Degas die von männlicher Willkür definierte Rolle der Frau auf den äußersten Punkt der körperlichen Zerstörung und geistigen Entmündigung“ (ebd.). Hofmann interpretiert die Misshandlung sowohl als eine psychische wie auch eine physische, welche die bürgerliche Frau als soziales Konstrukt insgesamt treffen würde. Um dies aufzuzeigen, griff Degas zur ambivalenten Figur der Gliederpuppe.
Abbildung 8: Edgar Degas, Das Warten II, 1879
Metaphorische Darstellungen von Weiblichkeitsbildern der höheren sozialen
Schichten sagen zugleich etwas über die der unteren aus. Nochlin und Poster gehen
davon aus, dass in den Strukturen bürgerlicher Familien das lustvolle Sexualleben
zwischen Ehepartnern nicht vorgesehen war: „Among the bourgeoisie, women
were viewed as asexual beings, as angelic creatures beyond animal lust […] Prostitution
was required by bourgeois males“ (Nochlin & Poster 1978/1999, 163). Durch
die Puppe bildet Degas nicht nur die misshandelte bürgerliche Frau ab, sondern
auch ihr Gegenstück: die Dirne. In dieselbe Zeit, in der das Bildnis von Michel-Lévy
und seiner Gliederfrau entstand, fällt
etwa Degas 40-blättrige Serie der Bordell-Monotypien
(1876–1885, vgl. Abbildungen 7 und
8), die nackte, sich in derben Posen zur Schau
stellende Prostituierte zeigen.
Mit nüchternem Blick und ohne zu werten,
zeigt Degas hier die Widersprüche der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf, in
der Dirnen zur Befriedigung der männlichen
Begehren in gleichem Maße verfügbar sein
mussten wie Frauen der gehobenen Schichten.
So war Degas stets an einem differenzierten,
ungeschönten Bild von Frauen interessiert.
Dabei
mischte sich in ihre bildliche Wiedergabe
eine psychologische Dimension, in der es
ihm gelang, individuelle Charakterzüge gleichermaßen
abzubilden wie die gesellschaftlichen
Verhältnisse, aus der sie kamen. Durch
den Rückgriff auf die Gliederpuppe schaffte es
Degas auf subtile Weise, die Stellung der Frau
im bürgerlichen Milieu zu thematisieren. Der
Künstler übte jedoch keine Kritik; als sensibler
Beobachter seiner Gegenwart führt er uns mithilfe
der Puppe nüchtern und ohne moralisch
zu werten den gesellschaftlichen Diskurs und
seine Widersprüchlichkeiten vor Augen.
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Abbildung 1: Edgar Degas, Porträt von Henri Michel-Lévy, 1878/1879, Öl auf Leinwand, 40 × 28 cm, Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian ©Calouste Gulbenkian Foundation, Lisbon. Calouste Gulbenkian Museum - Founder’s Collection. Foto: Catarina Gomes Ferreira
Abbildung 2: Gliedermann, 2. Hälfte 16. Jhd., Eschenholz/Pockholz, Höhe 61 cm, Göteborg, Göteborgs Kunstmuseum.
Abbildung 3: Fra Bartolomeo, Studie für die Figur des Christus in Das Jüngste Gericht, 1499/1500 Kohlezeichnung, London, British Museum.
Abbildung 4: Umkreis des Monogrammisten IP, Gliedermann und Gliederfrau, um 1525, Lindenholz, Höhe 23 cm, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum.
Abbildung 5: Werner van den Valckert, Porträt eines Schreiners, 1624, Öl auf Holz, 82,2 × 57,3 cm, Louisville, The Speed Art Museum.
Abbildung 6: Edgar Degas, Interieur (Die Vergewaltigung), um 1870, Öl auf Leinwand, 81 × 116 cm, Philadelphia, The Philadelphia Museum of Fine Arts.
Abbildung 7: Edgar Degas, Drei Dirnen auf einem Sofa, 1879, Monotypie, 27,8 × 20,6 cm. wikicommons: Götz, Adrieni (1986). Edgar Degas. Pastelle, Ölskizzen, Zeichnungen. Ausstellungskatalog: Kunsthalle Tübingen. Köln: DuMont.
Abbildung 8: Edgar Degas, Das Warten II, 1879, Monotypie schwarz auf Chinapapier, 21,6 × 16,4 cm, Paris, Musée national Picasso. Foto: René-Gabriel Ojéda.
BA in Visueller Kommunikation (Zürcher Hochschule der Künste) und BA in Kunst- und Zeitgeschichte (Universität Fribourg). Zuvor tätig als Buchgestalterin im Verlag Hier und Jetzt, Verlag für Schweizer Kultur und Geschichte. Miriam Koban ist Seniorassistentin im MA Design der Hochschule der Künste Bern und Tutorin für Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Fribourg. Beschäftigung mit Aspekten der kollaborativen Gestaltung im zeitgenössischen Grafikdesign und Publikation mehrerer Beiträge, u. a. in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte und im Katalog zur Ausstellung «Discoteca Analitica» im Fri Art, Kunsthalle Fribourg. Sie lebt in Zürich.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address:
miriam.koban@unifr.ch