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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus


Studien des Verfalls. Die poetische Funktion der Puppenfiguren im Werk von Hans Bellmer und Paul Wühr

Janneke Meissner



Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings



Abstract:
Die Darstellungen von Puppen in zwei Fotografie-Serien des surrealistischen Künstlers Hans Bellmer sowie die Puppenfiguren im Prosawerk Das falsche Buch des postmodernen Schriftstellers Paul Wühr antworten in ihrer poetischen Funktion auf den Verfall weltlicher Einheitsvorstellungen. Dabei sind die Positionen von Bellmer und Wühr hinsichtlich der ihren Puppenfiguren zugeschriebenen poetischen Wirksamkeit konträr. Wirken die zerstörten Puppenkörper Bellmers in ihrer Fragmentarität und Inszenierung als „Poesie-Erreger“ angesichts einer als nicht mehr intakt erfahrbaren Wirklichkeit, negieren Wührs Puppen jeglichen schöpferischen performativen Akt durch Entsprachlichung und fungieren als „Poesie-Ersticker“. Jedoch bedarf es auch nach Wühr der Fragmentarisierung und Dekonstruktion, so wie sie sich in Bellmers Fotografie- Serien darstellt, um Poesie überhaupt betreiben zu können.

Schlagworte: Paul Wühr; Hans Bellmer; Puppen; zerstörte Körper; poetische Funktion

Zitationsvorschlag: Meissner, J. Studien Des Verfalls. Die Poetische Funktion Der Puppenfiguren Im Werk Von Hans Bellmer Und Paul Wühr. de:do 2020, 3, 64-72. DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Copyright: Janneke Meissner. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Veröffentlicht am: 20.10.2020

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Und nach ihr, im Sand, in denselben vielleicht geflogen, reckte sich Jeannes Sockelköpfchen, soweit es der eingezogene Gummi erlaubte, hoch zu einer Frage, [...]. Bedrohliche Leere. (Wühr 1985, 271f.)

Das vorangestellte Zitat ist dem Kapitel Sehr impertinentes Eintreffen meiner Pseudos im Sandkasten des 1983 erschienenen Hauptwerks in Prosa Das falsche Buch des postmodernen Schriftstellers Paul Wühr entnommen. Es erzählt von einer im Sand sitzenden Puppe. Achtlos in den Kasten geworfen, gestattet ihr die Konstruktion ihres Körpers keine freien Bewegungen, als Gefangene ihrer Gestalt ist sie umgeben von einer bedrohlichen Leere. Leser*innen, die an dieser Stelle bereits auf Seite 271 des Falschen Buchs angelangt sind, kennen die Figur der Jeanne jedoch als eine durch und durch andere: mit Bewegungslust und Wortgewandtheit hat sie sich bislang durch die Geschichten des Textes gespielt, völlig ungebunden scheint ihr die Beschreibung ihrer selbst in keiner Weise gerecht zu werden. So liegt die Vermutung nahe, Jeanne hier symbolhaft in ihrer Funktion als Puppe zu deuten, die gleichsam eine poetische ist – und neben ihr auch die anderen „Pseudos“, die Protagonisten des Textes, ereilt. Nach deren Beschreibung, die einhergeht mit einem Stillstand der sonst wuchernden Handlung, endet das Kapitel mit dem Aufruf der Autor-Figur, fortzufahren: „Mein Auftritt. Ad sum. Es geht wieder weiter“ (ebd., 272).
Wührs Puppen stellen somit einen Gegenentwurf zu seinen sonst schöpferisch- tätigen, die Handlung sprachlich vorantreibenden Figuren dar. In ihrer (entsprachlichten) Poetizität antworten sie, so lautet die in diesem Beitrag entwickelte These, auf den Verfall weltlicher Einheitsvorstellung. Verfall wird, allerdings auf umgekehrtem Weg, auch durch die Darstellungen von Puppen in zwei Fotografie-Serien des surrealistischen Künstlers Hans Bellmer evoziert, in denen sich die fotografierten Puppenkörper bis zur Unkenntlichkeit destruiert zeigen.
Beide Darstellungen negieren das Prinzip eines pars pro toto – die zerstörten Körper und arrangierten Glieder bei Bellmer verweisen auf die Unmöglichkeit von Ganzheitsvorstellungen, die Wühr ohnehin schlichtweg ablehnt, so dass bei letzterem im Sinne eines postmodernen Partikularisierungsbestrebens ein partes pro partes stehen müsste. Der gleichsam fragmentarische und serielle Charakter beider Werke tritt in dieser Negierung zutage. Durch Dichotomien aufgewiesen, agieren Bellmers Puppen in ihrer Destruktion als „Poesie-Erreger“, während Wührs Puppen den Prozess eines poetischen Fortschreibens stoppen, liegt der genannten Negierung das Verständnis einer als partikular zu begreifenden Welt zugrunde.

Hans Bellmers Puppenspiele: Fotografien inszenierter (De-)Konstruktion

Hans Bellmer1 schuf im Berlin der 1930er Jahre mit dem Bau zweier weiblicher Puppen Exponate des Surrealismus. Einzig die zweite von ihnen, eine im Dezember 1937 fertiggestellte Gliederpuppe, wurde als solche ausgestellt.2 In erster Linie dienten die Puppen Bellmer als unheimlich entfremdete Darstellerinnen zweier Fotografie-Serien, die in verschiedenen Print-Medien erschienen.3 Beide, die Medialität der Fotografien, sowie die Darstellung der Puppenkörper, zeugen in ihrer Fragmentarität, Anordnung und Inszenierung von gestalterischer Überlagerung der (De-)Konstruktion, die sich ersehnten Ganzheitsvorstellungen verschließt. Haftet der Puppe zumeist durch ihr mimetisches Erscheinungsbild eine idealisierte und/oder reduktionistisch stilisierte Menschlichkeit an, findet sich diese bei Bellmers Darstellungen bis zur Unkenntlichkeit destruiert. Von der Forschung vor allem unter Aspekten der Gestaltung von Weiblichkeit, wie auch einer männlich ästhetisierten Begierde betrachtet, verschiebt sich hier der Blick auf die anatomische Partikularität der Puppen und kontextualisiert sie zudem zeithistorisch. Als zergliederte Gestalten stellen sie einen Gegenentwurf zu einer Gesellschaft dar, die im Begriff ist, sich zu einer Totalität zu formen. Dabei deuten sie gleichsam Tod, Schrecken und Zerstörung des nahenden Zweiten Weltkrieges voraus. Diese Überlegungen werden im Folgenden an den die Fotografie-Serien begleitenden Texten Bellmers („Schrift“), an den Puppenkörpern selbst(„ Körper“) und schließlich an den seriellen Fotografien („Bild“) veranschaulicht.

Schrift

Die von Bellmer auf nur wenigen Seiten verfassten Prosatexte Erinnerungen zum Thema Puppe und Die Spiele der Puppe gehen den Fotografie-Serien voran; sie verhandeln zwei Erweckungserlebnisse des Künstlers, die ihn zum Bau der Puppen anregten. Deren erstes gründet in Bellmers Auffinden von mit Kindheitserinnerungen besetzten Objekten auf dem Dachboden des Elternhauses. Diese sind eng in ein sprachliches Erfassen der durchlebten Vergangenheit verwoben. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erinnern, die gleichsam die Möglichkeiten der Phantasie hinterfragt, kulminierte im Bau der ersten Puppe. Die zweite Erweckung hingegen erfuhr Bellmer im Zuge der Entdeckung des Kardan-Gelenks, eines bewegbaren Kugelgelenks. Dieses erlaubte es ihm, eine die Gesetze der menschlichen Anatomie verlassende Neuschöpfung der Puppe zu realisieren, deren Glieder zu variierenden Buchstaben eines „Körper-Alphabets“ angeordnet werden konnten.
Bellmers Texte verhalten sich als ästhetisches Pendant zu den Puppen und ihren fotografischen Abbildungen, die bereits das Prinzip der Collage, die „Idee des Zerlegens und erneuten Zusammensetzens“ (Käufer 2006, 43) vorwegnehmen und durch ihr anagrammatisches Potenzial Eindeutigkeit verweigern (ebd., 44). Einer assoziativen Struktur folgend, brechen in Ausführung begriffene Gedanken Bellmers immer wieder ab, metaphorisch geladene Begriffe erfahren Umdeutungen bis hin zum Sinnverlust. Versuche „sprachlicher Besitzergreifung“ (Bellmer 1983, 11) fassen ins Leere, an ihre Stelle tritt als einzig verbleibende einende Kraft die Phantasie. Hierin schreiben sich Bellmers Texte in die écriture automatique, die Schreibpraxis der Surrealisten, ein. In dieser wird die freie Assoziation zum formalen operativen Prinzip des Hervorbringens von Texten. Literatur entsteht aus verstümmelten Satzfetzen und Wortfolgen, „[d]ie Sprache ist zu nicht mehr und nicht weniger als zum Unbewußten des Menschen geworden“ (Karpenstein-Eßbach 2013, 48), das sich hin zum „Unheimlichen“ drängt.
Reflektiert Bellmer zu Beginn der Erinnerungen die schöpferische Macht der Sprache, die sich aus dem Studieren eines Konversationslexikons erhebt und dem kindlichen „Spielen ein ganz neues Gesicht“ (Bellmer 1983, 9) zu verleihen vermag, verkommt diese Macht angesichts unerfüllt gebliebener Wünsche des nun erwachsenen Bellmers zu „Buchstabe[n] des Unaussprechbaren“ (ebd., 11). Erst in der Gestaltung und Beseelung der Puppe als Projektion des Ichs, da sie „nur von dem lebte, was man in sie hineindachte“ (12), entsteht durch die Nachahmung der textuellen Struktur in einem Prozess des „Gelenk an Gelenk [F]ügen[s]“ (13), eine neue Möglichkeit des Ausdrucks in der Sprache der Kunst. Bellmer endet die Erinnerungen mit der Frage: „Sollte nicht das die Lösung sein?“ (ebd.). Sie soll es sein. Denn in der Anatomie des Bildes, ein Die Spiele der Puppe weiterführender Text, schreibt Bellmer schließlich von einem „Vergnügen der Sprache“ (95), das in der Lust an der Division, Subtraktion und Multiplikation, wie auch an der Vertauschbarkeit wirke – eine Lust an der Konstruktion und Dekonstruktion des „Körper-Alphabets“ zugleich.

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Abbildung 1: Aus der Serie „Die Puppe / Zehn Konstruktions- Dokumente“; Quelle: Bellmer (1983, 18); (c) VG Bild Kunst, Bonn 2020.

Körper

1933 begann Bellmer mit dem Bau der ersten Puppe, über die in dem Begleittext eines Katalogs anlässlich seines 70. Geburtstages zu lesen ist, sie sei „das Opfer einer organisierten Verwüstung der menschlichen Anatomie durch einen hemmungslos ästhetischen Willen“ (Glaser 1970, 15). Diese Verwüstung basiert aber noch (!) auf der Möglichkeit eines anatomisch-korrekten Äußeren: An ein lebensgroßes Holz-Metall-Skelett können hohle Gipsschalen angebracht werden, die der Puppe graduell ein plastisches Äußeres verleihen – ihre ‚Ummantelung’ bleibt jedoch meist unvollständig (vgl. Abbildung 1).

Es handelt sich hier um die zweite Fotografie der ersten Serie. Auf dieser sind das starre Holz-Metall- Skelett der noch bewegungslosen Puppe erkennbar, um das sich bereits einzelne Gipsschalen, Versatzstücken gleich, schließen. Die Fotografie hebt die Simultaneität von Innerem und Äußerem, von Konstruktion wie Dekonstruktion der Bellmerschen Puppe hervor, gewährt Einblick in ihr prozessuales Entstehen (vgl. Bellmer 1983, 18).

Eine simultane Innen- und Außenansicht der Puppenanatomie wird als Facette eines Spiels zwischen Kunst und Realität, Leben und Tod gesetzt (Käufer 2006, 61). So eröffnet die Fotografie-Serie eine Darstellung des Puppenskeletts, die sich auf den folgenden Abbildungen durch das Hinzufügen von Gipsschalen dem weiblichen Körper angleicht. Dieser gestalterische Annäherungsprozess aber stoppt abrupt – die vierte und fünfte Fotografie zeigen den Torso umgeben von arrangierten Elementen des in Einzelteile zerlegten Puppenkörpers.

Der Körper, er gleicht einem Satz –, der uns einzuladen scheint, ihn bis in seine Buchstaben zu zergliedern, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält (Bellmer 1983, 95).

Das tatsächliche Wesen des Körpers als symbolischer Stellvertreter der Sprache offenbart sich erst in seiner Zergliederung und Montage. Hier entfaltet er sein anagrammatisches Potenzial, hier können seine Glieder als Buchstaben des „Körper-Alphabets“ neu gelesen werden. Bellmers Puppenkörper implizieren ein „Gefügtes“, dessen Struktur hinsichtlich seiner differentiellen Bestandteile entzifferbar ist. Es zeigen sich willkürliche Signifikanten, die nur innerhalb geordneter Systeme eine symbolische Ordnung ergeben, Sinn produzieren (Schade 1990, 279). Bellmer selbst erklärte sich mit dem Entwurf seiner ersten Puppe zum (De-)Konstrukteur von Menschlichkeit – und Sinngefügen. Innerhalb der zehn in der ersten Serie Die Puppe abgedruckten Fotografien bleiben diese Sinngefüge oszillierend.
1935 übernahm Bellmer Kopf, Hände und Beine der ersten Puppe für die Konstruktion der zweiten, die auf die Entdeckung des Kardan-Gelenks hin erfolgte (Käufer 2006, 86). Er fertigte zudem weitere Körperteile an, deren Zentrum fortan die aus dem Kardan-Gelenk hervorgegangene Bauchkugel bildete. Durch letztere erlangte die Puppe ein „exzentrische[s] Bewegungspotenzial“ (ebd., 93). Gleichsam avancierte die Bauchkugel zum bedeutungsstiftenden Ort, der einen Austausch von Zeichen ermöglichte. Wurde bei der ersten Puppe die menschliche Anatomie auf den Abbildungen zwar „organisiert verwüstet“, fielen jegliche anatomischen Gesetze mit dem Bau der zweiten Puppe dem „hemmungslos ästhetischen [Gestaltungs-]Willen“ Bellmers vollends zum Opfer (Glaser 1970, 15). Die Bauchkugel diente als zentrales Gelenk, um das sich jegliche Glieder ordnen ließen. Daran orientierte sich, Peter Gendolla (1992) zufolge, die zweite Puppe ausschließlich. Gendolla begreift dieses Bauchzentrum mit Bellmers Worten als ein Amalgam (Bellmer 1983, 13) – und in Anlehnung an in Kleists Über das Marionettentheater ausgeführter Idee der „Grazie“, als eine „materialisierte Metapher“ (Gendolla 1992, 220f.).
Sechs der fünfzehn Fotografien der zweiten Serie bilden zwei durch die Bauchkugel verbundene Beinpaare ab, die sich einander gegenüber befinden. Auf anderen Abbildungen ist sie von lose angeordneten Elementen umgeben, keines der Bilder zeigt einen intakten Körper. Den bizarren Neuordnungen der Puppenglieder, entstanden durch Multiplikations-, Inversions- und Ersetzungsstrukturen, ist eine „semantische Befreiung“ und Neukodierung implizit ( Müller-Tamm u. Sykora 1999, 84). Bellmer selbst schreibt in Die Spiele der Puppe, dass das „beste Spielzeug“ als reich an Möglichkeiten und Zufällen definiert sei, so dass es nichts von einem „immer gleichen Funktionieren“ wisse (Bellmer 1983, 29). Seine zweite Puppe verspricht nun genau dies: sie ‚erhitzt’ sich in ihrer Zergliederung an dem Gedanken ihrer „eigenen, unbekannten Fortsetzungen wie an einer Verheißung“ (ebd.), ist ergo durch ihre prozessuale Unabgeschlossenheit gekennzeichnet.

Bild

Als künstlerische Erfüllung von Bellmers theoretisch-philosophischer wie praktischer Beschäftigung mit der Puppe präsentieren sich die zwei bereits genannten Fotografie-Serien.4 Im Format der Serie angelegt, findet sich das Prinzip der Sequenz, das Bellmer mit jenem des Fragments kontrastiert. Wurde bislang aufgezeigt, dass sowohl die vorangestellten Texte wie auch die Konstruktion der Puppen den Charakter fragmentarischer Collagen tragen, wird dieser Aspekt in den Fotografien um das Element der seriellen Fortsetzung ergänzt. Hierin liegt eine durch die Betrachter*innen evozierte Forderung – die Partikularität der Bilder, die durch ihre Ausschnitthaftigkeit ihren fragmentarischen Inhalt verdoppelt, fordert zu einer gedanklichen Fortführung und Vervollständigung auf (Käufer 2006, 73ff.). Der Schnitt, den die Fotografie setzt, schafft hingegen die Gegenwart eines Offs, einer unheimlichen Struktur, die die Versuche, eine Referenz auf ein „Vorher“ oder ein „Ganzes“ herzustellen, stets zum Scheitern verurteilt (ebd.).Gleichsam verdoppelt die mediale Inszenierung der Puppen das Moment einer Entfremdung, sodass sie als die „Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks” (Benjamin 2019, 24) verbleiben.
Vergegenwärtigt jede Fotografie das Vergangene, verweist der serielle Charakter von Bellmers Fotografien zudem auf eine Wiederholung unabgegoltener historischer Auseinandersetzungen. Hier drängt sich Freuds Konzept des „Unheimlichen“ als Verhängnisvolles, Unentrinnbares auf, als der „Moment der Wiederholung des Gleichartigen“ (Freud 1970, 259), der das sonst Harmlose und Gewöhnliche in den Bereich des Unheimlichen überführt. Neben diesen Moment tritt die Inszenierung von Bellmers Puppen, die auf den Fotografien in Bereiche des menschlichen Alltagslebens verortet werden: Vor Türrahmen sitzend, an Treppengeländer lehnend, auf Laken oder Tücher gebettet, neben einem gedeckten Tisch arrangiert oder in einen lichten Wald versetzt, nehmen die Puppen Orte des menschlichen Lebens ein, die häufig selbst Schwellen oder Übergänge symbolhaft repräsentieren. Die repetitive Darstellung der Puppenglieder, die in einem häuslichen oder in die nächtliche Natur verhafteten Kontext inszeniert werden, lässt die Puppe als seelenlosen Wiedergänger in solchen Bereichen wachen, die gemeinhin mit Schutz oder Ruhe konnotiert werden (vgl. Abbildung 2).

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Abbildung 2: Aus der Serie „die Spiele der Puppe“; Quelle: Bellmer (1983, 57); (c) VG Bild Kunst, Bonn 2020.

Gezeigt wird ein in rötliches Licht getauchter weiblicher Puppenkörper aus Bellmers zweiter Serie. Mehr an einem Treppengeländer lehnend, als auf der Treppe sitzend, nackt, in sich verdreht und versunken, mit geöffneter ausgestreckter Hand, markiert er mit dem Zentrum des Bildes eine Schwelle, die nicht überschritten werden sollte (vgl. Bellmer, 1983, 57).

Dies führt zu einem weiteren Effekt des Unheimlichen, den Freud auf ein Verwischen der Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit zurückführt, darauf, „wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt“ ( ebd., 267). Die Inszenierung der Puppen und Puppenglieder in vermeintlich vertrauter Umgebung entfaltet die von Freud analysierte unheimliche Wirkung in einem Moment der Bedeutungsübertragung, einem Bruch von Sehgewohnheiten. Indem sie menschliche Lebensräume besetzen, verweisen Bellmers Puppen auf den Einzug des Bedrohlichen, Finsteren, Unheimlichen und darüber hinaus auf die Zersetzung der als Ganzheit und Einheit wahrgenommenen Welt.
Letztlich begann Bellmer mit dem Bau der ersten Puppe, nachdem er im Herbst 1933 seine Tätigkeit als Werbegrafiker niedergelegt hatte – mit ausdrücklichem Hinweis darauf, dass jede Erwerbstätigkeit schließlich nur den Nationalsozialisten zugutekommen würde (Gendolla 1992, 214). Hierin schließt sich Bellmer nicht nur dem surrealistischen Bestreben von Negation und Flucht aus der Realität an, seine Puppen lösen ebenso Verfahren ästhetischer Verschiebungen aus. Diese können einerseits konstruktiv als Trauma-Bewältigung, die durch virtuelle „künstliche Erregungsherde“ (Bellmer 1983, 73) Schmerz reduzieren, gelesen werden (Gendolla 2004). Andererseits aber auch dekonstruktiv als Verweis auf Prozesse historischer Unabgegoltenheit, die durch ästhetische „displacements“ die unheimliche Wiederkehr des Unterdrückten evozieren ( Foster 1995, 20f.). Diese Prozesse können auf individuelle traumatische Erlebnisse zurückgeführt werden, wie auch auf jene des „industrial capitalism“ (ebd., 125), die wiederholt werden, weil sie nicht rücknehmbar sind (ebd., 30). Bellmers Puppenfotografien evozieren Bilder von verstümmelten Körpern auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges ebenso wie sie faschistische Körperkonzeptionen ablehnen – „a physical [female] unconscious“ tritt an Stelle der „outline of the self“, die den faschistischen männlichen Körper von außen gestaltet (ebd., 110, 120).

„Poesie-Erreger“: Die poetische Funktion von Bellmers Puppen

Beide Fotografie-Serien Bellmers zeugen durch die Puppen als zerstörte Projektionsflächen des Ichs von der völligen Zersetzung simulierter Menschlichkeit. In den Darstellungen der Puppen bedienen sie sich einem Verfahren, das die gestalterische Überlagerung der Destruktion auf mehreren Ebenen der Verfremdung herbeiführt. Zeigen beide Serien auf einer ersten Ebene Abbildungen zergliederter Puppenkörper, werden diese Destruktionen durch die von den Fotografien erzeugten Cuts auf einer weiteren Ebene verdoppelt. Schließlich erfährt die abgebildete Puppe der zweiten Serie durch die vorgenommenen Handkolorierungen der Fotografien eine weitere, dritte Verfremdungsebene. Die Puppendarstellungen rufen hierin binäre Kategorien auf, zwischen denen häufig nicht unterschieden werden kann: Sie sind zugleich konstruiert wie destruiert, menschlich wie unmenschlich, lebendig wie tot, natürlich wie künstlich und verbleiben hierin in einer Sphäre des Ambigen.
Zwischen diese Dichotomien verortet Bellmer die Betrachter*innen seiner Fotografie-Serien und ruft sie in ihrem Deutungsbemühen zu einem poetischen (Gedanken-)Spiel mit dem „Poesie-Erreger“, der Puppe, auf: „Das Spiel gehört zur Gattung Experimental-Poesie: das Spielzeug könnte ‚Poesie-Erreger’ heißen“ (Bellmer 1983, 29). Die zuvor aufgezeigten Analogien zwischen Sprache und Puppe, Wörtern eines Textes und den Puppengliedern als Buchstaben des „Körper-Alphabets“, kulminieren in dieser Aussage Bellmers, die das Spiel auf die Ebene der poetischen Sprache hebt. Dort, wo durch gezielten Einsatz rhetorischer Mittel des Künstlers neue (sprachliche) Zugänge zur Welt entstehen, lässt Bellmer seine Betrachter*innen mit der Puppe als diesen Prozess verursachenden Moment des „Poesie-Erregers“ spielen. Die Puppen stellen für ihn einen Auslöser der Phantasie dar, eines experimentellen Spiels der Gedanken. Durch das Erwecken der Phantasie, die sich zwischen den Dualismen der Abbildungen spielhaft bewegt, die die zerstörten Puppenkörper einzig wieder zu einem sinnhaft Ganzen fügen kann, sollen hier binäre Deutungskategorien überwunden werden: „Der Gegensatz ist nötig,“ schreibt Bellmer, „damit die Dinge seien und sich eine dritte Wirklichkeit forme“ (Bellmer 1983, 83).

Der Text als methodisch unbestimmtes Sinngefüge: Paul Wührs „Falsches Buch“

Paul Wührs5 Hauptwerk in Prosa, das 1983 veröffentlichte Falsche Buch, antwortet auf Vorstellungen von Einheit und Ganzheit, indem es sie verwirft. Diese Programmatik des Textes findet sich auf all seinen Ebenen wieder – strukturell gliedert es sich in fünf Teile und 352 Kapitel, die fragmentarische Fortsetzungsgeschichten bilden. Ihm vorangestellt findet sich ein neunzehnseitiges Inhaltsverzeichnis, das die „fortlaufende Einheit und ununterbrochene Zusammengehörigkeit“ des Textes zwar suggeriert und die These einer einheitlichen Konzeption des Werkes, so könnte man meinen, verstärkt (Nelles 1991, 281f.). Diese Suggestion wird jedoch durch den wuchernden Inhalt des Textes gesprengt, der gerade keine Ganzheit oder Einheit abbilden will, deren metaphorische Übertragung für die von Wühr strikt abgelehnte Totalität steht. Ihr wird ein methodisches Unbestimmt-Bleiben entgegengesetzt, eine Poetik des „Falschen“, die Wührs Text auf allen Ebenen vereinnahmt:

was wir auf keinen Fall zulassen dürfen / ist die Richtigkeit unserer Falschheit / Sie macht uns am schlimmsten zu schaffen / weil wir das Richtige / die Einheit / das Ganze / so lieben wie jeder Mensch / Würden wir nämlich / Falsche werden / wie man ein Richtiger wird / kämen wir nie aus dem Gegensatz heraus / der Falsche doch nur / zu Gegenrichtigen machen würde (Wühr 1985, 123),

Die Ablehnung des Ganzen impliziert demnach die Ablehnung von Zuschreibungen, von Bestimmungen und Determinationen aller Art. An ihre Stelle tritt die Vermittlung des Ambigen, Undeutbaren. So speist sich die in den Fortsetzungsgeschichten erzählte Handlung durch ein Schwellen der Sprache. Diese ist schöpferischer Akt der Poesie, die im Falschen Buch die westliche Kulturgeschichte auf eine falsche Weise „erzählt“. Derart füllt sich der Schauplatz, die Münchener Freiheit, im Zuge der fortlaufenden Handlung mit Personen der Geistes-, Kulturund Wissenschaftsgeschichte, die durch frei erfundene Figuren, „Kopfgeburten“ der Autor-Figur, kontrastiert werden. Letztere sind in ständiger Vermehrung begriffen und weder geschlechtlich, noch in ihrer Zugehörigkeit zu Mensch- oder Tierreich festgelegt. Die Münchener Freiheit selbst entfremdet sich von ihrer in der Realität verhafteten Gestalt, indem weitere Orte und Gebäude hier ebenso hinzu erzählt werden, wie etwa das Forum (Romanum), ein Wikingerschiff, der Fidus Tempel oder die Raubritterburg Stein – die Fiktion überschreibt hier immer weiter, immer ungenauer und darin immer falscher die der Realität entnommene Vorlage. In diesen Überschreibungen setzt sich die Handlung fort, deren Anlass stets ein Aufruf zum Spiel für die erfundenen Figuren ist. Indem sie spielen, verhandeln die Figuren den kulturellen Traditionsbestand, überschreiben die bekannte( n) Geschichte(n) hin zur Ungenauigkeit, in der sich nicht mehr zurechtgefunden werden kann. Ihr Handeln ist performativ, ist programmatisch, denn es dient der Poetik des Falschen. Dieser performative Akt aber wird in den Auftritten der erfundenen Figuren als Puppen unterbrochen.

„Poesie-Ersticker“ – Wührs Puppen

In Wührs Falschem Buch werden die erfundenen Figuren in nur sechs der 352 Fortsetzungsgeschichten als Puppen beschrieben.6 Obwohl sie somit in der austreibenden Handlung quantitaiv keine zentrale Stellung einnehmen, lohnt sich ihre differenzierte Betrachtung dennoch. Denn Wührs Puppen erfüllen zwei Funktionen, die aufschlussreich für das Verständnis des intrikaten Textes sind: Zum einen tritt mit ihrer Beschreibung als passive Objekte („Puppen im Handkorb“) eine Pause des Geschehens ein und zum anderen werden durch ihre Belebung („Handpuppen“) Positionen von Vertretern der christlichen Kirche zu Zeiten des Nationalsozialismus’ metaphorisch und mimetisch wiedergegeben. In beiden Fällen aber kommt die falsche poetische Fortschreibung des Geschehens zur Ruhe.

Puppen im Handkorb

Mit den Puppen in der Wüste lautet das Kapitel, das den ersten Teil des Falschen Buchs abschließt. Darin werden die erfundenen Figuren zum ersten Mal durch die im Text präsente Autor-Figur als Puppen beschrieben und angesprochen: „das Herz hängt so schwer am Gehirn; sein Gewicht pendelt drohend die Zeit“ spricht sie zu ihnen. Die Autor-Figur greift dabei eine These auf, die unter anderem in Kleists Über das Marionettentheater entwickelt wird. Diese eint Körper und Seele im Nichtmenschlichen indem sie besagt, dass einzig die Marionetten-Seele im „Schwerpunkt der Bewegung“ (Kleist 1810) sitze, die ihr die Grazie verschaffe, die der Mensch durch den Sündenfall und das Erlangen der Fähigkeit zur Reflexion eingebüßt habe. Davon ausgehend stellt Wühr die Trias Gehirn – Herz – Zeit auf. Das Herz aber, als symbolischer Sitz der Emotionen, bewegt hier „drohend“ Denken und Leben.
Die Beschreibung der Figuren in dieser Szene, die die anschaulichste und gleichsam die einzige des Textes darstellt, in der die Figuren schlafen, bleibt fragmentarisch. So wird über die erfundene Figur Nathalie lediglich verlautet, dass sie eine „aufgeleimte Echthaarperücke“ (Wühr 1985, 145) und Glasaugen trage, während es von der ebenfalls von der Autor-Figur erdachten Rosa heißt, dass ihre Beine aus Mischmasché gefertigt seien, und sich in ihrem aufgestickten Gesicht „das Garn in ein Grinsen“ (ebd.) verziehe. Die Sockelköpfe aller Puppen wackeln im Schlaf, die Autor-Figur hingegen reflektiert: „Wie werden wir sein müssen, [...], um die Einsätze Richtiger nicht in Bestätigungen der großen und ganzen Ordnung entarten zu lassen? Falsch“ (ebd.). Einer Bestätigung des Großen und Ganzen, der Ordnung, oder: des Systems hält Wühr das bereits skizzierte „Falsche“ entgegen. Dieses ist, knapp gefasst, das Partikulare, Feingliedrige; das Chaos oder die Entropie. Und das durch und durch Friedfertige (Wühr 1985, 89). Es ist ein Prinzip, das durch Poesie operiert, über die Wühr in einem 1988 in Wien gehaltenen Vortrag sagte: „Sie erzählt etwas auf. Sie löst. Sie zerstreut. Sie hält nicht zusammen, sie unterhält auseinander.“ (Wühr 2002, 14). Die falsche Poetik, die Wühr entwirft, agiert durch eine semantische Vermehrung der Stoffe des kulturellen Traditionsbestandes, das heißt, durch die bereits genannten Überschreibungen. Mit dem Ziel eines Lösens von konnotativ „starr“ besetzten Positionen durch ein stets reflektierendes Denken. Indem die Autor-Figur des Falschen Buchs aber in der gerade umrissenen Szene ihr Spielzeug an die warme Haut drückt, ist sie „selber wie selbiges ganz verleimt, ganz und gar versteift, ausgestopft, eine aufgemalte Ruhe im starren Gesicht, [...], unbeweglich die Zunge“ (ebd., 146). Sie nähert sich an die hier schlafenden Puppen an, die sprachlos außerhalb der sich aus Sprache schöpfenden Poesie stehen.
Dies geht einem postmodernen Diskurs der Entsprachlichung voraus, wie ihn der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt. Ihm zu Folge schließen Puppen als Synonyme des postmodernen Menschen die Negativität des Anderen aus, ohne die eine Gesellschaft zu einem wuchernden, ununterscheidbaren Gleichen, zu einer formlosen Masse, verkommt (Han 2016, 9ff.). Zugleich sind Wührs Puppen, in Anlehnung an Gendolla, als Vexierbild zweckentbundener kultureller Reproduktion deutbar. Schreibt dieser über den Spielautomaten, dass dessen Produkt „sein Spiel [sei], zwecklose Reproduktion einer Vorlage aus der Geschichte, Kunst, Musik, Literatur“ (Gendolla 1992, 45f.), so gilt dies hier auch für Wührs Puppen. In ihrem Schlaf und in ihrer Sprachlosigkeit können die Figuren ihre üblichen Spiele nicht treiben, die, nach der Poetik des Falschen verfahrend, auf eine Neuverhandlung des kulturellen Traditionsbestandes und darin dem Erschaffen von Handlungen, dem Fortschreiben des Textes, aus sind.

Handpuppen

War Bellmers Bau der Puppen auch durch seine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus motiviert, schreibt Wühr mit rückgewandtem Blick Vertretern der katholischen Kirche die Rolle von Handpuppen zu. Das Kapitel Ein Abtransport auf dem Platz behandelt ein Puppenspiel zwischen der Autor- Figur und der erfundenen Figur Poppes, die die zwei Kardinäle darstellenden Handpuppen erst durch ihre eigene Bewegung zum Leben erwecken. Die Rede, die die beiden sie führen lassen, entspricht einem mimetischen Aufleben der Vergangenheit: „Wie Sie wissen, habe ich mich am 13. November 44 an Sie mit der Frage gewandt, was man angesichts des Abtransports der Juden nach dem Osten unternehmen solle. / In römisch-katholischer Routine ließ ich den Breslauer korrespondieren: Wir müssen unterbleiben“ (Wühr 1985, 230f.). Hier sprechen die Erzbischöfe Faulhaber und Bertram miteinander, in deren Worten stellvertretend die nach außen kommunizierte Haltung der katholischen Kirche Ausdruck findet, die ein aktives Einschreiten ablehnte. In dem „wiederbelebten“ Gespräch der Kardinal-Puppen wiederholt sich die Geschichte, in der Wiederholung aber setzt die poetische Funktion einer spielerischen Überschreibung der Geschichte aus.

Studien des Verfalls

Bellmer und Wühr schreiben ihren Puppenfiguren in konträren Positionen poetische Wirksamkeit zu. Antworten die zerstörten Puppenkörper Bellmers auf eine als nicht mehr intakt zu erfahrene Wirklichkeit als „Poesie-Erreger“, negieren Wührs Puppen jeglichen schöpferischen Akt. Jedoch bedarf es nach Wühr genau der sich in Bellmers Fotoserien dargestellten Fragmentarisierung und Dekonstruktion, eben eines Aufbrechens des als faktisch gewerteten kulturellen Traditionsbestandes, um die poetische Funktion erst aktivieren zu können. So schreibt Wühr: „Poesie ist das Gedächtnis, in dem wir alle und alle vor uns und aus uns: Lebendige, Tote, Erfundene weitererzählt werden müssen, [...]. Besonders mit Künstlichen und mit Toten tun wir uns da sehr leicht, [...]; in der Annahme auch, ihre Widerspruchslosigkeit drücke eindeutig ihren Wunsch nach Fortsetzungsgeschichten über sie aus“ (Wühr 2002, 32f.).
Wurde bereits aufgezeigt, dass Bellmers Fotografie-Serien das Prinzip von unabschließbaren Fortsetzungen eingeschrieben ist, konstatierte dieser selbst, dass das Objekt, das nur mit sich selbst identisch sei, ohne Wirklichkeit bleibe (Bellmer 1983, 92). Das Erschaffen von Wirklichkeit liegt demnach in dem bewusst herbei geführten Bruch von Ganzheit oder Einheit, im Wandel begriffen. Von Bellmer umgesetzt wird dieser im Kardan-Gelenk: „Ob sie [die Puppe] auf den naheliegenden oder auf den allerfernsten Schaukeln der Verwirrung Platz nimmt, die zwischen dem Belebten und dem Unbelebten hin und her schwingen, es wird sich wohl immer [...] um den mechanischen Faktor der Beweglichkeit handeln, um das Gelenk“ (ebd., 29). Spricht Bellmer von einem Schaukeln der Puppe zwischen „dem Belebten und dem Unbelebten“, zwischen sich einer Festlegung entziehenden Dichotomien, findet sich eine ähnliche Formulierung auch bei Wühr. Als ein „Schaukeln zwischen den Gegensätzen“ (Wühr 2002, 16), das bereits erläuterte methodische Unbestimmt-Bleiben, setzt Wühr die Aufgabe des Falschen fest, das ihm zugleich Poesie bedeutet (ebd., 7).
Bellmer, wie Wühr, postulieren ergo in ihrem künstlerischen Ausdruck des symbolischen „Schaukelns“ das Ende weltlicher Einheitsvorstellungen – im zugleich fragmentarischen und seriellen Charakter ihrer Werke wird deutlich, dass erst der Bruch, das Zersetzen des Ganzen, als „Poesie-Erreger“ dienlich ein Umdenken, einen Prozess der Reflexion anregen kann. Setzt Bellmer hierin auf die poetische Funktion seiner Puppen, negieren Wührs Puppen gerade diese – beide aber sind, auf oppositionellen Seiten stehend, Ausdruck des gleichen Gedankens, des gleichen Verständnisses der partikular zu fassenden, im stetigen Wandel begriffenen Wirklichkeit.


[1] Geboren 1902 in Kattowitz, Polen, gestorben 1975 in Paris; alle Angaben zu Bellmer und seinen Texten (mit Fotografien und Zeichnungen) aus den Jahren 1934–1957 (Die Puppe, Die Spiele der Puppe sowie Die Anatomie des Bildes) sind entnommen aus Bellmer (1983).

[2] 1938 fand in der Galerie des Beaux-Arts in Paris eine internationale Ausstellung von Surrealisten statt, deren zentrales Sujet das künstliche Mannequin war. Hier stellte Bellmer die Fotografien der zweiten Puppe, wie die Puppe selbst aus, die gegenwärtig im Centre Pompidou, Paris, verwahrt ist.

[3] Eine Publikation der ersten Serie erschien mit dem auf deutsch verfassten Vorwort Die Puppe 1934 im Selbstverlag, französische Veröffentlichungen folgten in der Zeitschrift Le Minotaure 1935 und im Verlag G.L.M., Paris 1936. Die zweite Serie erschien, durch den Kriegsausbruch verzögert, 1949 im Verlag Les Editions Premières, Paris.

[4] Behandelt werden hier einzig die in Bellmer (1983) abgedruckten Fotografien, zehn von 28 Schwarz-Weiß-Fotografien der ersten Serie und fünfzehn handkolorierten Fotografien der zweiten Serie, die ebenfalls nur eine Auswahl darstellen. Von den abgedruckten fünfzehn Fotografien der zweiten Serie wurden vierzehn um kurze, von Paul Eluard verfasste, Prosagedichte erweitert.

[5] 1927 in München geboren, 2016 in Passignano, Italien, gestorben.

[6] Hierbei ist zu beachten, dass in den Kapiteln, die die Verlobungsfeier der Figuren Hermann und Dorothea thematisieren, beide in Analogien zu Puppen gesetzt, nicht aber als eigentliche Puppen beschrieben werden, so dass die hier aufzuzeigende Entsprachlichung nicht auf sie zutrifft (vgl. bspw. Wühr 1985, 390: „Wie verleimt schien die Dorothea mir in diesem klebrigen Augenblick und auch noch gesteift. Und der Hermann war unfähig eines Wortes; er saß vor uns wie ausgestopft. Sein Lächeln schien auch ein wenig zu sorgfältig ausgearbeitet. Die Dorothea zeigte schon im halbgeöffneten Mündchen 23 kleine Zähnchen.“).

[7] For more on this range of forms, see Hahn (2012).

[8] A number of medievalists have explored expressions of this anxiety towards images in the Middle Ages. In addition to Camille, see also Belting (1990), Bynum (2011), and Freedberg (1989).

[9] On the changing place of the image in Reformation Europe, see Koerner (2004) and Michalski (1993).


Literaturverzeichnis

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Wühr, Paul (1985): Das falsche Buch. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Wühr, Paul (2002). Das Falsche und die Lüge. In Katja Schneider, Thomas Betz (Hg.), Paul Wühr: Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur Literatur (S. 7-35). Mit Bildern von Jürgen Wolf. München: K. Kieser Verlag (=écart I)..

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung1: Aus der Serie „Die Puppe / Zehn Konstruktions-Dokumente“; Quelle: Bellmer (1983, 18); (c) VG Bild Kunst, Bonn 2020.

Abbildung 2: Aus der Serie „die Spiele der Puppe“; Quelle: Bellmer (1983, 57); (c) VG Bild Kunst, Bonn 2020.



Über die Autorin / About the Author

Janneke Meissner

BA und MA in Kultur und Wirtschaft mit Schwerpunkt Germanistik und BWL; seit 2017 Promotionsstudium an der Universität Mannheim, Arbeitstitel Über das Leben im Falschen: Paul Wührs offenes Spiel der Poesie; Lehrauftrag Universität Mannheim in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und International Cultural Studies; Praktika in Kultureinrichtungen, Theater, Museen.

Janneke Meissner

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