denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus
Nina-Marie Schüchter
Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings
Abstract:
In der raumgreifenden Installation Mondo Cane der belgischen Künstler Jos de
Gruyter
und Harald Thys im Belgischen Pavillon der 58. Biennale in Venedig stehen
mechanische Puppenfiguren im Zentrum, die in Schleifen monotoner Handlungen
gefangen scheinen. Ihnen gegenübergestellt ist eine Gruppe von Anderen, die hinter vergitterten
Zäunen, die Bewohner einer Parallelwelt repräsentieren. Der Beitrag untersucht
unter anderem unter Bezugnahme auf Hannah Arendts Kritik moderner Arbeitsbedingungen,
die Rolle des Tätig-Seins, der des Handwerks und die soziale Konstitution der
Monotonie in der Arbeit von de Gruyter und Thys. Dabei werden die Geschichte der
Alterität und die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Anderen sowie die damit
zusammenhängende
spezifische Medialität der Puppe fokussiert.
Schlagworte: der/die/das Andere; mechanische Puppen; Jos de Gruyter & Harald Thys; Begriff der Arbeit; frühneuzeitliche (Puppen-)Automaten
Zitationsvorschlag: Schüchter, N.-M. Puppen Als Erscheinungsformen Der Anderen – Mondo Cane Von Jos De Gruyter & Harald Thys. de:do 2020, 3, 73-82. DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594
Copyright: Nina-Marie Schüchter. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).
DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594
Veröffentlicht am: 20.10.2020
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Abbildung 1: Jos de Gruyter & Harald Thys: mondo cane
Im Begleitheft zur Ausstellung der Arbeit Mondo Cane ( Hundswelt) des
Künstlerduos Jos de Gruyter und Harald Thys, die den Belgischen Pavillon
der 58. Biennale in Venedig 2019 gestalteten, finden sich zwanzig
fiktive Biografien in Form von kurzen Steckbriefen sowie Schwarzweiß-Fotos
von „Personen“, die als sinnlich-konkret erfahrbare Puppenautomaten das Figurenpersonal
der raumgreifenden Installation ausmachen. Dabei erfahren und
entfalten die in dem Ausstellungs-Beiheft vorgestellten Charaktere als mechanische
Puppen ihre spezifische Materialisierung und Wirkung im Raum. Puppenhafte
Protagonisten tauchen immer wieder in den Arbeiten von de Gruyter
und Thys auf: Während es in den frühen filmischen Arbeiten Menschen sind,
die sich marionettenhaft steif bewegen, werden in späteren Arbeiten dreidimensionale
Puppenkörperteile in Form von stereotypen Styroporschädeln auf
skelettartigen Metallgestellen oder 3D-gedruckten Gipsköpfen inszeniert.1 Die
in der Arbeit Mondo Cane verwendeten Vollkörperpuppen erscheinen in diesem
Kontext als logische Weiterentwicklung des Puppen-Motivs im Oeuvre der
beiden Künstler.
Dabei verweist der Titel der Arbeit Mondo Cane (ital. mondo für Welt,
cane für Hund), der sich sinngemäß übersetzen lässt mit Verfluchte Welt oder
Hundswelt, auf den pseudo-dokumentarischen italienischen Film Mondo Cane
von Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi und Paolo Cavara aus dem Jahr 1962.
Der Film gilt als Grundstein für das sogenannte Mondo-Genre – eine Unterart
des Dokumentarfilms – in dem die Generierung von Schockmomenten und das
Spiel mit Tabubrüchen leitende Stilmittel sind. Mit Bezug auf den Film ist der
Werktitel eine Anspielung sowohl auf das Pseudo-Dokumentarische als auch auf
das Sichtbarmachen von gesellschaftlich tabuisierten Themen (vgl. Abbildung 1).
Beim Betreten des Pavillons trifft man auf (über-)lebensgroße, teilweise
automatisierte Puppen, die im weißen Innenraum verteilt sind. Einige Puppen
befinden sich in seitlichen Nischen, die durch Stahlstangen von der restlichen
Szenerie separiert sind. Die Strukturierung des Raumes ist durch einen Umraum,
der von den seitlichen Nischen bestimmt wird und einen Innenraum definiert, in
dessen Zentrum neun Puppen von einer niedrigen, quadratischen Absperrung gerahmt werden. Die Betrachtenden durchlaufen einen Gang zwischen Umraum
und Innenraum und folgen dabei einer Art Blickregime. Das Personal des Figurenkabinetts
setzt sich unter anderem aus einem Bäcker, einem Künstler, einem
Schleifer,
einer Rattenfängerin und einer Töpferin zusammen. Im Kollektiv lassen sich die Puppen als folkloristisches Panoptikum beschreiben, da sie
aufgrund ihrer
Kleidung und Attribute auf volkstümliche Stereotypen anzuspielen
scheinen. Beide Geschlechter sind repräsentiert, alle Puppen werden
als weiße Menschen dargestellt – ein folkloristisch inszeniertes europäisches
Panoptikum. Die im Inneren des Puppenkorpus verborgene Mechanik versetzt
die lebensgroßen Figuren in Bewegung und lässt sie eine für ihren Berufsstand
charakteristische Tätigkeit ausführen (z.B. Ausrollen eines Teiges, Formen
von Ton auf einer Töpferscheibe). Die Charaktere scheinen dadurch in einer
Schleife monotoner Handlungsabläufe gefangen. Dem entgegengesetzt befindet
sich in den vergitterten Nischen des Pavillons eine Parallelwelt2, die von
„Unangepassten und Gefährlichen“, „Sonderlinge[n] und Störer[n]“ (
Boecker u. Jocks 2019, 264) bevölkert wird.
Abbildung 3: Jos de Gruyter & Harald Thys: mondo cane
Abbildung 2: Jos de Gruyter & Harald Thys: mondo cane
Diese beiden Welten existieren zwar im selben Raum, trotzdem interagieren sie
nicht und bleiben durch Zäune den jeweils Anderen verschlossen (vgl. Abbildungen
2 und 3).
Wer oder was entscheidet über Zugehörigkeit
oder Ausgrenzung? Ist die
berufliche Tätigkeit, die hier sinnbildlich
in gleichförmigen Handlungsschleifen
gezeigt wird, die Legitimation für eine
gesellschaftliche Teilhabe? Welche Mechanismen
sind für die Charakterisierung
der Anderen ausschlaggebend?
Diese Fragen, die dem exemplarisch
aufbereiteten Gesellschaftssystem
von Mondo Cane inhärent sind, bilden
die gedankliche Grundlage für die im
Folgenden vorgenommenen Betrachtungen.
Dabei werden bereits hier zwei
diskursive Spannungsfelder sichtbar:
Abbildung 5: Schleifer von Wexford (Begleitheft zur Ausstellung Mondo Cane, S. 13)
Identität/ Konformität und Ausgrenzung/ Zugehörigkeit. Damit eng verflochten sind die in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftretende Denkfigur der Anderen sowie die damit zusammenhängende spezifische Medialität der Puppe, die sich in der Arbeit von de Gruyter und Thys über die mechanische Puppe als Medium konstituiert. Zentral für die hier angestellten Überlegungen ist die Interpendenz der Erscheinungsformen von Betrachter(körper) und Puppenkörper innerhalb des Verhältnisses von Wahrnehmung und Wahrgenommen-Werden im Rahmen des Raumgefüges von Mondo Cane (vgl. Wagner 2015).
Abbildung 4: Lathgreta Toft (Begleitheft zur Ausstellung Mondo Cane, S. 14)
Um die Arbeit Mondo Cane von de Gruyter und Thys bezüglich ihrer Konfiguration
im Raum näher bestimmen zu können, wird in einem ersten Schritt das Begleitheft
der Ausstellung herangezogen, das innerhalb eines netzwerkartigen Gesamtgefüges
der Arbeit neben dem Bild-Raum-Arrangement eine weitere künstlerische Ausdrucksebene
bildet. Das Heft kann als Steckbrief-Sammlung charakterisiert werden
und besteht aus zwanzig kurzen, beschreibenden Texten und jeweils einer über dem
Text platzierten Schwarzweißfotografie. Die Fotografien bilden die von jeglichem Hintergrund isolierten Puppenkörper mit ihren individuellen Physiognomien, Tätigkeiten
und Bekleidungen ab. Beispielhaft sei hier die Art der Präsentation von zwei
Einzelbiografien im Begleitheft skizziert: Lathgreta Toft (vgl. Abbildung 4) und der
Schleifer von Wexford (vgl. Abbildung 5), die in gewisser Weise eine jeweils von Eintönigkeit
von alltäglichen Arbeitsroutinen bestimmte Existenz verdeutlichen.
Lathgreta Toft stammt aus dem norddänischen Dorf Harken und hat einen
einwandfreien Ruf. Ihr routinierter und stets gleicher Tagesrhythmus ermöglicht
ihr die Produktion „von 1,1 Schals pro Tag“, die sie für die gesamte Harkener
Dorfgemeinschaft strickt, damit jedem Dorfmitglied in einer Zeremonie an den
Weihnachtstagen feierlich ein Schal überreicht werden kann. Sie selber nimmt
aus Pflichtbewusstsein nicht an dieser Zeremonie teil, da auch die kleinste Unterbrechung
des Strickens das Jahresplanziel von 1,1 Schals pro Tag zunichtemachen
würde (Begleitheft der Ausstellung 2019, 14).
Um den Schleifer von Wexford hingegen ranken sich blutige Mythen. Der
zwar angesehene und für sein Handwerk allseits geschätzte Wexforder Bürger
soll ein perfides Doppelleben führen. Seine von Fleiß und Perfektion geprägte
Arbeit als Schleifer, bestimmt seinen Alltag. Nachts jedoch nutzt er seine
Fähigkeiten, um die Begierde nach menschlichem Blut zu befriedigen, so der
Mythos. Nachdem er für einige seiner Morde zur Verantwortung gezogen wird,
verschwindet er spurlos und wird nie wieder in Wexford gesehen (vgl. ebd., 13).
In beiden Biografien wird die Dominanz der Arbeits-Attribute, zum einen
in Form von Stricknadel, Wolle und Schal, zum andern als Schleifmaschine und
Schleifstein, sowohl im Text als auch durch die Fotografie deutlich. Schleifstein
und Wolle stellen das konkrete Verbindungselement
zwischen Text und Bild her. Eine weitere
Gemeinsamkeit findet sich zudem in der Kleidung,
die an ein Konglomerat aus volkstümlichen, mitteleuropäischen
Trachten erinnert. Offenkundig ist
allerdings vor allem die inhaltliche Relevanz des
Tätig-Seins. Dabei verweisen Puppe und Fotografie
zusammen wiederum auf das im Installationsraum
entstehende Bild bzw. auf die dort materialisierten
Puppengestalten (vgl. Abbildung 6).
Im Gesamtkontext des Werkzugangs besitzen
die Puppengestalten im Raum und die Fotografien
im Begleitheft eine jeweils medienspezifische
strukturelle Ähnlichkeit, die sich durch den Akt
der Verdoppelung konkretisiert:
Abbildung 6: Schleifer von Wexford (Mondo Cane innerer Raum)
Denn die Puppe kann verblüffend echt und lebendig erscheinen, und die Fotografie suggeriert den Blick in die Wirklichkeit und ist doch nur Repräsentation. Puppe und fotografisches Bild evozieren einen permanenten Wechsel zwischen ‚Realität‘ und Fiktion, ‚Original‘ und Kopie und stellen damit ihre Struktur als Spur explizit zur Schau (Käufer 2006, 25).
Die Puppe imitiert, dupliziert und simuliert den menschlichen Körper, sie ist Repräsentantin für den abwesenden Leib, genauso wie die Fotografie, die sich als indexikalische Lichtspur der Wirklichkeit konstituiert und sich als Nabelschnur zwischen dem fotografierten Gegenstand und dem Blick der Betrachtenden beschreiben lässt (vgl. Barthes 1980, 91). Die Puppengestalten, die hier im Medium der Fotografie abgebildet sind, potenzieren also folglich dieses Wechselspiel zwischen Abbild, Spur und Original – sie sind das Abbild eines Abbildes und unterstreichen die indexikalische Struktur der Arbeit.
Die Idee, künstliche Reproduktionen des Menschen zu erschaffen, existiert seit
der Antike, unter anderem in Form von anthropomorphen Automatenfiguren,
filigran
geschnitzten Marionetten, Spielzeug- oder Modepuppen, den sogenannten
Mannequins, und technisch hochkomplexen Androiden oder Robotern. Vor
diesem Hintergrund ist die Stellvertreterfunktion der Puppe im Kontext kultureller
Praktiken eng verknüpft mit ihrer Geschichte. So fungiert sie in Form der
sogenannten Effigie – einer Puppe aus Wachs, Holz oder Leder – als Repräsentationsform
und Platzhalter, beispielsweise bei verstorbenen Königen im römischen
Totenkult oder im französischen Zeremoniell des 15. und 16. Jahrhunderts. Die
Effigie leugnet die Abwesenheit des Verstorbenen, suggeriert seine Lebendigkeit
und verschleiert auf diesem Wege die Herrschaftsunterbrechung (vgl. Hamdorf
1991, 50ff.). Somit funktioniert die Puppe stets als „Abbild, Vorbild und Nachbild,
doch eines ist sie nie: Urbild. Sie ist immer ein Imitat ohne Original. Puppe
in der Puppe in der Puppe. Ihr Logos ist Analogie, ihr Eidos ist ohne Identität“
(Treusch-Dieter 1999, 10). Bezieht man diese von Gerburg Treusch-Dieter beschriebene
Ontologie der Puppe auf die Arbeit Mondo Cane, so lässt sich ihr Aufbau
im Hinblick auf die Inszenierung der Puppen im Raum, teilweise verbannt
hinter Gitterstäben, als exemplarische Gesellschaftsordnung beschreiben. In dieser
Ordnung fungieren die Puppenkörper als „Abbild, Vorbild und Nachbild“ von
Bürger*innen eines exemplarischen Gesellschaftssystems, innerhalb dessen die einzelnen Individuen sich einem festgelegten Normenkanon fügen und die damit
einhergehenden Konsequenzen tragen: „Sie sind in ihrer Alternativlosigkeit so
gefangen, dass sie wie Paralysierte agieren. Alles in allem stumme Autisten, die
von ihrer Traumatisierung nichts merken.“ (Boecker u. Jocks 2019, 266). Diese
von der Kuratorin Anne-Claire Schmitz in einem Interview zur Ausstellung markierte
Existenz der Mondo Cane-Akteure, lässt sich mit dem Begriff der „autistische[
n] Schleife“ (ebd.) von de Gruyter ergänzen. Die Schleifenbewegung ist auf
mehreren Ebenen zu verorten: Zum einen besteht das Figurenpersonal nicht nur
aus hohlen Puppenkörpern. Ihnen ist ein mechanisches Innenleben inkorporiert,
einem Uhrwerk gleich, das ihnen Bewegungen ermöglicht, die jedoch einer monotonen,
immer wiederkehrenden Endlosschleife folgen (vgl. ebd.). Zum anderen
ist es die Ontologie der Uhr selbst, die stets im Kreis läuft und als Antriebsmotor
die Puppen der Mondo Cane-Welt in (Bewegungs-)Schleifen gefangen hält.
Um 1300 trat die Räderuhr erstmals in Erscheinung, gekoppelt an das Bedürfnis
nach einem gleichförmig und einheitlich ablaufenden Zeitrhythmus und fand
im Laufe des 14. Jahrhunderts eine weitere Verbreitung in Europa (vgl. Sulzgruber
1995, 83). Oft wurden während ihrer Entwicklung praktische von künstlerischen
Aspekten der Uhrennutzung überformt, beispielsweise durch das Aufkommen
von mechanischen Automatenfiguren, die das Interesse fortan dominierten. Die
Uhr, so lässt sich zusammenfassen, etablierte sich als „repräsentatives Objekt einer
Zurschaustellung
und Mittel des gesellschaftlichen Prestige“ (ebd., 100).
Über die Mechanik der Mondo Cane-Puppen, verkörpert durch das Schweizer
Uhrwerk, lassen sich darüber hinaus Verbindungslinien zu der von Julien Offray de
La Mettrie in seiner 1748 entstandenen Schrift L’Homme-Machine – Die Maschine
Mensch postulierten Theorie: „[d]er Mensch ist eine Maschine“ (La Mettrie 1748, 27)
herstellen. La Mettrie zieht nicht nur „die kühne Schlußfolgerung, daß der Mensch
eine Maschine ist und daß es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz – in
unterschiedlicher Gestalt – gibt“ (ebd., 117), sondern ist darüber hinaus davon überzeugt:
„[d]er [menschliche] Körper ist nur eine Uhr“ (ebd., 111). Die Divergenz zwischen
lebendigem und künstlichem bzw. mechanisiertem Körper, die bei La Mettrie
gleichermaßen funktionieren, wird in Mondo Cane im Phänomen des Puppenkörpers
aufgelöst. Der künstliche Körper „dezentriert die eigene Körperwahrnehmung auf
besondere Weise. Man erkennt sichtlich einen menschenähnlichen Körper [...] sich
menschlich bewegend, der jedoch das fremde Moment der Künstlichkeit als Grundprinzip
seiner Erscheinungsweise in sich trägt“ (Wagner 2015, 95). Das Material aus dem die Puppen geformt ist – die inkorporierte Mechanik und ihre Oberfläche
– offenbaren demnach ihre fremde Struktur. Sie erscheinen auf den ersten Blick von
ihrer
menschlichen Gestalt her vertraut, ihre mechanischen Bewegungen markieren
jedoch die Differenz zwischen Puppenkörper und Betrachter(körper). Meike Wagner
spricht in diesem Kontext vom „Fremdheits-Prinzip“ (ebd., 94) der Puppe.
Abbildung 7: Winterlandschaft (Mondo Cane)
Dieses Fremdheits-Prinzip der Puppe lässt sich als erste Ebene markieren, auf
der die Betrachtenden innerhalb des Mondo Cane-Gefüges mit der Existenz der
Anderen in Kontakt treten. Die Puppe offenbart zunächst ein Gegenbild unseres
Selbst, durch das Oszillieren zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit wird ihr
Fremdheitscharakter potenziert und tritt hier gleichermaßen als Irritationsmoment
auf. Die Mechanik stellt dabei eine Schlüsselfunktion dar.
Die damit verbundene Beziehung von Handwerk und Technik wird in den
vier Zeichnungen ersichtlich, die jeweils an einer der vier Wände im Zentrum des
Pavillons platziert sind. Sie zeigen Landschaftsansichten in den verschiedenen
Stadien der Jahreszeiten. Die Zeichnungen
sind von Hand gefertigt, waren
somit Teil eines handwerklichen
Produktionsprozesses, sie wurden
jedoch im Nachhinein mithilfe des
Bildbearbeitungsprogrammes Photoshop
technisch eingefärbt: Bevor
sie auf eine Metalloberfläche gedruckt
wurden, fand durch den Prozess des
Einscannens eine digitale Bearbeitung
statt (Boecker u. Jocks 2019, 264).
Abbildung 8: Koch, der auf einem Bratrost geigt
Auf den ersten Blick ist dieser Bearbeitungsschritt
bildlich nicht nachvollziehbar,
da die Kolorierung auch durch Kreide oder Aquarellfarben entstanden
sein könnte. Anhand der Winter-Zeichnung (vgl. Abbildung 7) ist die Spur des
Photoshop-Brush-Pinsels im unteren Bereich des Bildes jedoch erkennbar.
Nur bei den Zeichnungen wird eine solche Form der high technology
eingesetzt, während Technologie ansonsten im Kontext handwerklicher
Tätigkeiten ästhetisch an Vergangenes, Regressives, Folkloristisches gekoppelt ist (vgl. ebd., 267). Diese museal wirkende Verbindung von handwerklichen und
technologischen Elementen findet sich auch auf der Ebene der Puppenkörper.
Durch die entschleunigten Bewegungsschleifen, in denen die Puppen agieren,
verweisen sie viel eher auf schematische Muster als auf
authentische menschliche Bewegungen im Kontext handwerklicher
Bewegungsabläufe.
Abbildung 9: Haarmensch, Petrus Gonsalvus
Diese eigentümlich und befremdlich wirkende Fusion
von handwerklichen Produktionsprozessen und Mechanik
im Mondo Cane-Gefüge stellt eine Verbindung her mit den
frühneuzeitlichen Automaten in den Kunst- und Wunderkammern
des 16. und 17. Jahrhunderts. Beide Male geht
es um das Motiv: Inszenierung des Anderen. Vor allem in
den Sammlungen fürstlicher Milieus befanden sich automatisierte
Puppen, in denen die Darstellung des Anderen als
Narrationsfigur dient: Kleinwüchsige, Zwerge (vgl. Abbildung
8) und Haarmenschen (vgl. Abbildung 9) stehen stellvertretend
für das Interesse an körperlichen Abnormitäten
und Kuriositäten in der Frühen Neuzeit.
Die Auseinandersetzung mit diesen für das heutige
Verständnis eigentümlichen Körperdiskursen finden in
unterschiedlichen Medien, u.a. in Gemälden und (mechanischen)
Skulpturen statt. In diesen bilden exotische Tiere,
außereuropäische Motive und Zwerge ein beliebtes Motiv.
Die mechanischen Automaten – bei denen das Andere
primär
in Form des Exotischen und Fremden in Erscheinung
tritt – befanden sich stets in einem Spannungsfeld aus
Belustigung und Naturerkenntnis. Exemplarisch zu nennen
sei hier der vermutlich in Augsburg gefertigte Figurenautomat
Reitender Pascha (um 1595) (vgl. Abbildung 10) aus
der Sammlung des Mathematisch-Physikalischen Salons
in Dresden oder die Automatenuhr mit Afrikaner (Anfang
17. Jahrhundert) (vgl. Abbildung 11) aus der Sammlung des
Kunsthistorischen Museums in Wien.
Über stereotype Merkmale und Attribute wie Turban,
dunkle Hautfarbe und gezielt eingesetzte Kolorierungen werden die abgebildeten Figuren als außereuropäisch stilisiert und als die Anderen
markiert und inszeniert. Dominik
Collet beschreibt dies als Herstellung
einer künstlichen Denkfigur der Anderen und die frühneuzeitlichen Sammlungen
als einen Ort, durch den „Stereotype naturalisiert und imaginierte
Fremdheit konstruiert wurden“ (Collet 2012, 164).
Während das Andere in den frühneuzeitlichen Kunst- und
Wunderkammern demnach über außereuropäische, stereotype
Merkmale oder körperliche Makel generiert wird,
scheint im Falle des Mondo Cane-Gefüges das entscheidende
Distinktionsmoment die Erwerbstätigkeit zu sein: Wer
nicht in das Schema der gesellschaftlichen Normen passt
bzw. wer sich diesen nicht fügt, wird ausgegrenzt.
Abbildung 10: Figuren-Automatenuhr Reitender Pascha
In jeder Gesellschaft gibt es bestimmte Werte und Normen, die die Grenzen des Handelns innerhalb dieser Gemeinschaft vorschreiben. In der Mondo Cane-Welt bildet dieses normative Zentrum die arbeitende Gesellschaft; geduldet werden diejenigen, die diese Existenz anerkennen. Die Biografien der Anderen, die in den Nischen und hinter den Gittern zu finden sind, basieren dagegen auf Mythen und ominösen Gerüchten (vgl. Begleitheft der Ausstellung 2019). Ausnahmen gibt es allerdings auch im Innenraum des Geschehens: der Schleifer von Wexford und der sogenannte Schweizer wahren den Schein der Normativität, brechen aber moralisch partiell aus dem vorgegebenen Raster des gesellschaftlichen Zentrums aus.
Abbildung 11: Automatenuhr mit Afrikaner
Da sie jedoch gelernt haben sich anzupassen, gehören sie dazu und werden akzeptiert und toleriert. Hier entlarvt sich somit die Willkürlichkeit der Ausgrenzungsmechanismen innerhalb gesellschaftlicher Systeme. Das Andere, hier verkörpert durch die Puppen hinter den Zäunen, tritt insbesondere im Zuge der Moderne als dezidiert markierter Störfaktor innerhalb des gesellschaftlichen Ordnungssystems zutage. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückt das Verhältnis des Ichs zum Anderen in den Fokus und ist Gegenstand philosophischer Reflexion. Während in der antiken und mittelalterlichen Weltanschauung der Andere zunächst nur als Teil eines geordneten, großen Ganzen betrachtet wird, bekommt er in der Neuzeit eine Vermittlungsposition zugeschrieben. Aber erst das Denken des 20. Jahrhunderts vermag die Andersheit des Anderen zu betonen und sie durch Ab- oder Ausgrenzung zu markieren (vgl. Bedorf 2011, 9). Auf diese Entwicklung innerhalb der Geschichte der Alterität scheint uns die Parallelwelt von Mondo Cane zu verweisen, in der die Geister eines nationalstaatlich gedachten Europas immer noch wirksam sind, obwohl diese als längst überwunden galten: „In der westlichen Welt, in der wir leben, lässt sich beobachten, wie übertrieben sich die Neue Politik auf Tradition und Folklore beruft.“ (Boecker u. Jocks 2019, 267). Aktuelle zeithistorische Bezüge lassen sich auch in den individuellen Lebensläufen der Puppencharaktere aufzeigen, denn sie beinhalten Themen wie Flucht, Vertreibung, Zerstörung, Isoliertheit, zerrüttete Familienverhältnisse und soziale Abgründe. Auch wenn die Mondo Cane-Welt explizite Zuschreibungen und Verweise offenhält, sind historische Themen wie Grenzziehungen, Distinktionsgesten, Aus- und Abgrenzungen stets präsent und erlauben es, das Konstrukt der Anderen und ihre scheinbare Fremdheit auch für die Gegenwart zu reflektieren. So entsteht der Fremde „[...] wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht, und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen [...]“ (Kristeva 1988, 11), der Fremde ist ein Teil von uns, „er ist die verborgene Seite unserer Identität“ (Kristeva 1988, 11). Wenn diese Tatsache anerkannt werde, so Julia Kristeva, würden die Kriterien der Ausgrenzungen entlarvt und bedeutungslos. Auch Bernhard Waldenfels macht mit seiner Differenzierung verschiedener Fremdheitsebenen deutlich, wie durchdrungen unsere Lebenswelt von Fremdheitsmomenten ist. Er unterscheidet die relative, strukturelle und radikale Fremdheit und somit unterschiedliche Fremdheitsgrade (Waldenfels 1997, 35f.). Während mit dem Begriff der relativen Fremdheit eine alltägliche Fremdheit erfasst wird, bezieht sich die strukturelle Fremdheit auf alle Dinge, die außerhalb eines bestimmten Ordnungssystems angesiedelt sind, beispielsweise andere Sprachen, Kalender oder Rituale. In der radikalen Fremdheit offenbart sich eine Fremdheit, die an die „Wurzeln aller Dinge rührt“ (Waldenfels 2006, 7) und nicht vollends aufgeschlüsselt werden kann, beispielsweise in Träumen oder Rauschzuständen. Waldenfels betont in diesem Kontext auch das Potenzial der Anerkennung des Fremden als ein das Leben mitkonstituierendes Element:
Die Risse der Fremdheit, die durch die Lebenswelt gehen und sie in Heim- und Fremdwelt zerteilen, sind somit keine Schäden, sie sind das, was die Lebenswelt aufsprengt, am Leben hält und sie vor dem Absinken in das Gleichmaß purer Normalität bewahren könnte (Waldenfels 1997, 183).
Für das Konstrukt der Anderen nimmt der Aspekt des Tätig-Seins einen übergeordneten
Stellenwert im Werk von de Gruyter und Thys ein. Die Erwerbs- bzw.
Berufstätigkeit scheint als Distinktionsmoment zu fungieren, um die Ausgrenzung
der Anderen zu rechtfertigen, Identitäten zu legitimieren und ihre Fremdheit
zu konturieren. Das Tätig-Sein wird im Mondo Cane-Gefüge durch unterschiedliche
handwerkliche Praktiken repräsentiert. Inhaltlich und ästhetisch
wird damit augenscheinlich auf ein vorindustrielles Bild von Arbeit verwiesen,
das mit der zunehmenden Ausprägung kapitalistischer Produktionsstrukturen ab
1800 in einem Arbeitsmodus mündet, der mit Entfremdung einhergeht. In ihrer
physisch greifbaren Monotonie, die durch die fortwährenden, mechanischen
Bewegungen der Puppenautomaten produziert wird, tritt die handwerkliche
Arbeit nicht mehr als melancholisches Sehnsuchtsmotiv vergangener Zeiten
auf, sondern verkörpert einen Arbeitsbegriff, der – bezugnehmend auf den
poiesis-Begriff – die Schaffung eines Werkes als Resultat des Arbeitsprozesses
intendiert und immaterielle Produkte und Leistungen der Arbeit nicht mitberücksichtigt
(vgl. beispielsweise Rifkin 1995, Gorz 2000). Dieser mit der Industrialisierung
aufkommende Arbeitsbegriff lässt sich, im Falle der Mondo
Cane-Protagonisten, mit dem vorindustriellen, vom Handwerk bestimmten Arbeitsmodus
verknüpfen. Die Puppen verweisen dabei auf verschiedene Modi
zugleich. Während sie noch in der Welt des vorindustriellen Zeitalters verhaftet
sind, deuten sie gleichsam auf das neue, industrielle Zeitalter, das sich durch einen
erhöhten Arbeitsdruck und standardisierte Produktionsprozesse auszeichnet,
die auch im 20. und 21. Jahrhundert das Bild der Arbeit und ihre Struktur
prägen. Sie befinden sich somit in einer Umbruchsphase, die durch Traumatisierung,
in Form von endlosen Bewegungsschleifen in Erscheinung tritt und
von einer Sprachlosigkeit der Puppen begleitet wird.
Unter Einbezug Hannah Arendts Kritik moderner Arbeitsbedingungen in
ihrer Schrift Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960), die das Gefangen-Sein
im routinierten Konsum- und Arbeitsleben thematisiert, lässt sich hier der Begriff des Animal laborans (arbeitendes Tier) für das Werk von de Gruyter und
Thys fruchtbar machen. Nach Arendt setzt sich in der Moderne die Existenzweise
des Animal laborans durch, dessen Wirk- und Lebensbereich aus den drei
Komponenten Arbeit, Familie und Konsum besteht: „Das Animal laborans [ist]
angepasst, es ‚taucht in dem Strom des Lebensprozesses‘ unter und betäubt seine
Empfindungen, um‚ reibungsloser ›funktionieren‹ zu können‘“ (Freier 2013, 47;
vgl. Arendt 1960, 410f.). Das Animal laborans ist in seinen Bedürfnissen gefangen,
genauso wie die Figuren in Mondo Cane in ihrer Monotonie und Sprachlosigkeit.
Arendts Vorstellung vom Tätig-Sein orientiert sich dagegen an „einem
Ideal des von menschlicher Mühe unabhängigen Dasein“ (Freier 2013, 47) und
bezieht sich viel eher auf ein soziales und politisches Agieren, das von Aktivität
statt Passivität gekennzeichnet ist. Mit ihrem Begriff der Vita activa beschreibt sie
die drei Grundmerkmale des menschlichen Agierens: Arbeiten, Herstellen, Handeln.
Das Arbeiten betrifft die Grundbedingung des Lebens selbst, es impliziert
die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse und ist eng verknüpft mit dem immerwährenden
Zwang zur Lebenserhaltung. Die Grundtätigkeit des Herstellens
dagegen produziert eine künstliche Welt von Dingen, die den Menschen umgibt
und überdauert, beispielweise das Einrichten des eigenen Zuhauses (vgl. Arendt
1960, 16). Die von Arendt eingeführte Differenzierung zwischen den beiden
Modi Arbeiten und Herstellen resultieren aus der Unterscheidung von Konsumund
Gebrauchsgütern: Die Produkte, die im Prozess des Arbeitens entstehen, lassen
sich, da sie verbraucht werden, als Konsumgüter beschreiben. Produkte, die
aus der Tätigkeit des Herstellens hervorgehen, werden dagegen gebraucht. Die
dritte Ebene, das Handeln, ist nach Arendt losgelöst von materiellen Dingen und
umfasst die Beziehung der Menschen in ihrer Pluralität. Es stellt, anders als die
Tätigkeit des Arbeitens, keinen Zwang, sondern viel eher eine Handlungsoption
dar. Dabei betont Arendt die Wichtigkeit der menschlichen Interaktion, auch für
eine politische Teilhabe innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges:
[...] alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht, sondern auch in dem noch elementareren Sinne, daß nämlich das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seiner Informationoder Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits handeln ist (Arendt 1960, 36).
Das Handeln stellt demnach die höchste und wichtigste Grundtätigkeit der
menschlichen Existenz dar, sie betrifft das soziale und politische Miteinander und setzt die Fähigkeit zu Interaktion voraus. Sie konstituiert die Voraussetzung
für „eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit
für
Geschichte“ (Arendt 1960, 18). Über diese Fähigkeit des Handelns verfügen
die Bewohner der Mondo Cane-Welt nicht. Die Puppen, die Starrheit und
Stagnation suggerieren, hier vor allem verkörpert durch die langsamen, mechanischen
Bewegungsschleifen, sind sprachlos und zu keiner sozialen Interaktion
fähig, nach Arendt verfügen sie somit über keine politische oder soziale
Existenz. Dies trifft insbesondere auf die Bewohner im scheinbaren Zentrum
der Mondo Cane-Welt zu. Die Anderen hinter den Gitterstäben sind dagegen
befähigt sich mitzuteilen und erzählen vereinzelt ihre Lebensgeschichte mit
einer mechanisch-blechernen Stimme. Durch ihre Ausgrenzung verfügen sie
jedoch über keine Möglichkeit zur Partizipation, sie werden demnach zu einer
anderen Form der Sprachlosigkeit, im Sinne einer Nichtwahrnehmung ihrer
Stimme, verurteilt.
Neben der Sprachlosigkeit weisen auch die leeren, starren und pupillenlosen
Augen der Puppen sie als eigenes Medium aus. Auch der Topos der Augen
als zentrales Erkennungsmerkmal lebendiger Geschöpfe hat in Bezug auf das
Puppenmotiv eine lange kulturelle und literarische Tradition. So wird Olimpia,
der weibliche Puppenautomat in E.T.A. Hoffmanns 1816 erschienener Erzählung
Der Sandmann, durch die Besonderheit ihrer Augen entlarvt. Der Protagonist
Nathanael verfällt der Illusion, er habe ein menschliches Geschöpf vor sich, und
lässt sich von Olimpias Erscheinung und ihrer menschenähnlichen Performanz
täuschen. Aber: ihre Augen sind leer und tot, sie ‚entpuppt‘ sich als künstliches
Wesen. Das Element des Oszillierens der Puppe zwischen Realität und Fiktion
nimmt dabei ein zentrales Moment ein. Sprachlosigkeit und nicht sehende Augen
sind entscheidende Merkmale der Puppe als Medium und unterstreichen im
hier betrachteten Werk-Gefüge die Animal-laborans-artige Existenz der Mondo
Cane-Bewohner. Hannah Arendt beschreibt den einschneidenden Wandlungsprozess
zwischen europäischer Vormoderne und Moderne und diagnostiziert
den Sieg des Animal laborans ( Arendt 1 960, 4 07ff.), w onach d as p olitische
Handeln durch die Forderung nach Konformität und Funktionalität im Zuge
dieser Umbruchsphase begrenzt wird. Der Modus der Mondo Cane-Bewohner
lässt die doppelbödigen und vielschichtigen Folgen dieses Sieges im Innenraum
des Belgischen Pavillons als Distinktionsgesten physisch spürbar werden: Entsprechen
die Individuen dieser gesellschaftlich-treibenden Kraft und der damit einhergehenden Forderung nach Konformität und Funktionalität, enden sie als
ahnungslos Traumatisierte in autistisch-monotonen Schleifen, weichen sie ab,
landen sie als pathologisierte Andere hinter Gittern.
Die Erscheinungsformen der Anderen in de Gruyter und Thys‘ Arbeit Mondo Cane wurden auf verschiedenen Ebenen konkretisiert. Die eingesetzte Mechanik besitzt zunächst eine folkloristische Anmutung, die mit Assoziationen an Heimatmuseen und stereotypen Rollenmustern einhergeht und auf ein vergangenes, von Nationalstaaten geprägtes, aber heutzutage wieder präsentes Bild von Europa verweist. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskurse rund um eine alle Lebensbereiche durchdringende Digitalität und die entsprechenden Zukunftsvisionen wird diese archaische Mechanik als markanter Kontrast erfahren. Durch die Konnotation mit der Uhr-Metapher werden darüber hinaus Monotonie und Unendlichkeit der ausgeführten, entschleunigten Bewegungsschleifen der Puppen unterstrichen, die auf einen Modus der Traumatisierung und eine individuelle sowie kollektive Handlungsunfähigkeit verweisen. Gleichzeitig spielen Assoziationen mit der Geschichte der Alterität, die sich in der Moderne durch klare Aus- und Abgrenzungen charakterisiert, eine zentrale Rolle. Sowohl in den frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern als auch in der aktuellen Mondo Cane-Arbeit von de Gruyter und Thys werden die Anderen entweder mithilfe von charakteristischen Attributen oder gerade durch das Fehlen dieser Merkmale bzw. durch andersartige Attribute stilisiert. In diesem Kontext werden auch die Begriffe der Arbeit, die Rolle des Handwerks und die soziale Konstitution der Monotonie bedeutsam. Mit dem Begriff des Animal laborans konturiert sich darüber hinaus der damit zusammenhängende Arbeitsmodus. Die Animal-laborans- artige Existenz der Bewohner und die der Anderen, die den zwanghaft-normativen Gefügen gesellschaftlicher Strukturen nicht entsprechen, werden durch das Medium der Puppe besonders herausgearbeitet. Die Anderen treten zum einen auf der inhaltlichen Ebene, in Form des Tätig-Seins, zum anderen im Medium der Puppe selbst auf. Im Hinblick auf Arendts Theorie der Vita activa lässt sich der mit der Industrialisierung aufkommende Arbeitsbegriff im Falle der Mondo Cane- Protagonisten mit dem vorindustriellen, vom Handwerk bestimmten Arbeitsmodus verknüpfen. Die Puppen verweisen auf verschiedene Modi zugleich, sie befinden sich in einer Art Umbruchsphase zwischen vorindustrieller Zeit, Industrialisierung und digitalem Zeitalter und repräsentieren eine Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Hier liegen Anknüpfungspunkte an Gesellschaftsdiagnosen der Gegenwart auf der Hand. Vor dem Hintergrund von Flüchtlingskrisen und der damit verbundenen Tatsache, dass sich immer mehr Menschen über immer größere Distanzen hinweg bewegen, sich globalisierte Strukturen ausbauen und das Digitale alle bisher bestehenden Strukturen durchdringt, erscheinen die Mechanismen des Mondo Cane-Kosmos mehr als aktuell. Die Tatsache, dass auch gegenwärtig, „das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild [der Anderen] sehr schlicht und vereinfachend, auf ein Grundmuster weniger Stereotypen bezogen“ (Beck-Gernsheim 2007, 11) ist, unterstreicht diese These. Der Schleifer von Wexford, Lathgreta Toft und all die Anderen erscheinen in diesem Licht auch als Akteure eines gegenwärtigen Gesellschaftssystems.
[1] Exemplarisch zu nennen sind hier die Ausstellungen „Konkurs Eksperten“ (26.10.18-06.01.19, Kunsthal Aarhus) oder „Optimundus“ (08.02.-19.05.13, M HKA in Antwerpen).
[2] Die beiden Künstler setzen sich intensiv mit dem Begriff der Parallelwelt auseinander und entwickeln eine Art pseudowissenschaftliche Theorie, in der sie zwischen realer und paralleler Welt differenzieren und deren Wechselverhältnisse markieren (vgl. de Gruyter u. Thys 2013, 41ff.).
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Abbildung 1: Mondo Cane. An exhibition by Jos de Gruyter _ Harald Thys curated by Anne- Claire Schmitz - Belgian Pavilion - La Biennale di Venezia 2019 - Courtesy and copyright of the artists and the Belgian Pavilion - Image Nick Ash.
Abbildung 2: Mondo Cane. An exhibition by Jos de Gruyter _ Harald Thys curated by Anne- Claire Schmitz - Belgian Pavilion - La Biennale di Venezia 2019 - Courtesy and copyright of the artists and the Belgian Pavilion - Image Nick Ash.Abbildung 3: Mondo Cane. An exhibition by Jos de Gruyter _ Harald Thys curated by Anne- Claire Schmitz - Belgian Pavilion - La Biennale di Venezia 2019 - Courtesy and copyright of the artists and the Belgian Pavilion - Image Nick Ash.
Abbildung 4: Lathgreta Toft. Begleitheft zur Ausstellung Mondo Cane, S. 14.
Abbildung 5: Der Schleifer von Wexford. Begleitheft zur Ausstellung Mondo Cane, S. 13.
Abbildung 6: Mondo Cane. An exhibition by Jos de Gruyter _ Harald Thys curated by Anne- Claire Schmitz - Belgian Pavilion - La Biennale di Venezia 2019 - Courtesy and copyright of the artists and the Belgian Pavilion - Image Nick Ash.
Abbildung 7: Mondo Cane. An exhibition by Jos de Gruyter _ Harald Thys curated by Anne- Claire Schmitz - Belgian Pavilion - La Biennale di Venezia 2019 - Courtesy and copyright of the artists and the Belgian Pavilion - Image Nick Ash.
Abbildung 8: Koch, der auf einem Bratrost geigt, wohl Frankfurt am Main, Barockperlen, Gold, Email, Silber, vergoldet, Diamanten, Eisen, 1. Viertel 18. Jahrhundert. Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Fotograf: Jürgen Karpinski.
Abbildung 9: Haarmensch, Petrus Gonsalvus, anonym, Leinwand, 190 x 80 cm. Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, um 1580.
Abbildung 10: Figuren-Automatenuhr, Reitender Pascha, vermutlich Augsburg, Messing, vergoldet, Bronze, gegossen, vergoldet, ziseliert, Holz, Kupfer, vergoldet, Schmuckstein, Stahl, Kaltemail, Tierhaar, versilbert, H: 40,5 x B: 33,5 x T: 22,5 cm, um 1595. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Mathematisch-Physikalischer Salon, Fotograf: Michael Lange.
Abbildung 11: Automatenuhr mit Afrikaner, Kupferlegierung, vergoldet, tw. bemalt, H: 31 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, Anfang 17. Jahrhundert.
MA; Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf, Masterstudium der Kunst- und Designwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste Essen. 2016-2018 Mitarbeiterin in der Akademie der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Seit 2017 Promotionsstudentin mit einem Dissertationsprojekt zu den frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern. Seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Korrespondenz-Adresse / correspondence address:
nina-marie.schuechter@hhu.de