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denkste: puppe / just a bit of: doll | Bd.3 Nr.1.1 (2020) | Rubrik: Fokus


Geschriebenes und gemaltes Ideal – Oskar Kokoschka und die Alma-Mahler-Puppe

Jaana Heine



Focus: Puppen/dolls like mensch – Puppen als künstliche Menschen
Focus: Dolls/puppets like mensch – dolls/puppets as artificial beings



Abstract:
Zwölf Briefe und eine Ölskizze sind überliefert, in denen Oskar Kokoschka der Puppenmacherin Hermine Moos zwischen dem 22. Juli 1918 und dem 6. April 1919 detaillierte Anweisungen zur Erstellung einer nach Alma Mahlers Vorbild gestalteten Puppe gibt. Sie dokumentieren wie die ehemalige Verlobte des österreichischen Expressionisten erst zum bereits artifiziellen Modell stilisiert und in dieser Rolle auf den Körper einer Puppe übertragen wird. Aus verschiedensten Versatzstücken unterschiedlicher Provenienz entsteht ein weibliches sowie künstlerisches Ideal, anhand dessen die Verschränkung von Künstlichem und Natürlichem in der konstruierten Frau ersichtlich wird. Als gänzlich fremdbestimmtes Bild wird sie zum Ursprung männlicher, in diesem Fall explizit künstlerischer, Schöpfungskraft. Es ist eine Inversion des ursprünglichen Pygmalionmythos, der das Ideal aus der Imagination gebiert und Wirklichkeit werden lassen will.

Schlagworte: Oskar Kokoschka; Alma Mahler; Puppe; Fetisch; Muse

Zitationsvorschlag: Heine, Jaana (2020): Geschriebenes Und Gemaltes Ideal – Oskar Kokoschka Und Die Alma-Mahler-Puppe. In: de:do 2020, 3, S. 57-63. DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Copyright: Jaana Heine. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de).

DOI: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/5594

Veröffentlicht am: 20.10.2020

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Oskar Kokoschka, Alma Mahler und die Puppe – zur Vorgeschichte

Rund drei Jahre, von 1912 bis 1915, waren der expressionistische Maler und Schriftsteller Oskar Kokoschka und Alma Mahler, Komponistin und einflussreiche Persönlichkeit der zeitgenössischen österreichischen Kulturszene, liiert. Der Briefwechsel der beiden lässt eine leidenschaftliche, ans Obsessive grenzende Beziehung vermuten. Bereits in seinem ersten Brief (von insgesamt etwa 400 Briefen) bittet der sieben Jahre jüngere Künstler die Witwe des Komponisten Gustav Mahlers: „Bringen Sie mir ein wirkliches Opfer und werden Sie meine Frau“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 30). Im Mai 1914 lässt die schwangere Alma das gemeinsame Kind abtreiben und bald darauf folgt die Trennung. Mit dem Ende der Beziehung verliert Kokoschka den Zugriff auf sein Modell und seine Muse, die großen Einfluss auf das Frühwerk des Künstlers hatte (vgl. Meier 2005, 73). Es fällt ihm entsprechend schwer, den Verlust der obsessiv geliebten Partnerin zu überwinden. Auch nach der Trennung fertigt Kokoschka noch mehrere Zeichnungen mit Almas Konterfei an. Nachdem er 1918 – im Rahmen einer Ausstellung in Dresden – auf die Puppenmacherin Hermine Moos aufmerksam geworden ist, bittet er diese, eine lebensechte Replik von Alma herzustellen.
Zwölf Briefe sind überliefert, in denen Oskar Kokoschka der Puppenmacherin Hermine Moos zwischen dem 22. Juli 1918 und dem 6. April 1919 detaillierte, teilweise mit Zeichnungen einzelner Körperteile veranschaulichte Anweisungen zur Erstellung einer nach Alma Mahlers Vorbild gestalteten Puppe gibt. Zusätzlich fertigt Kokoschka eine lebensgroße Ölskizze Almas an, die Moos als Vorlage dienen sollte. Dabei fordert er von der Puppenmacherin nichts geringeres als „das zu verlebendigen, was ich von Ihren Händen gemacht haben will, daß mir nichts mehr übrig bleibt [...] als mich willig täuschen zu lassen“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 299). Es überrascht nicht, dass ihn das Ergebnis massiv enttäuschte. In seinem letzten Brief vom 6. April 1919 berichtet er Hermine Moos, „ehrlich erschrocken“ zu sein, da die Puppe „in zu vielen Dingen dem widerspricht, was ich von ihr verlangte und von Ihnen erhoffte.
Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre“ (ebd., 312). Auf den wenigen überlieferten Fotos der Puppe (vgl. Abbildung 1) wirkt deren Oberfläche in der Tat sehr plüschig, beinahe wie ein Stofftier, und dürfte somit in keiner Weise der Frau aus Kokoschkas Träumen entsprochen haben.

Abbildung 1:Die Puppenmacherin Hermine Moos vor der Puppe in der elterlichen Wohnung, München 1919

Abbildung 1:Die Puppenmacherin Hermine Moos vor der Puppe in der elterlichen Wohnung, München 1919

Trotz seiner Ernüchterung wird der Künstler allerdings einige Zeit mit der Puppe zusammenleben. Sie taucht in mehreren Zeichnungen und einigen Gemälden zwischen 1919 und 1922 auf, bevor sie bei einem eigens zu diesem Zweke organisierten Fest ein spektakuläres Ende findet. Im Laufe des Abends wird sie mit Rotwein übergossen, enthauptet und in den Garten geworfen (vgl. Kokoschka 1971, 191f.).
Als „meinen Fetisch“ oder auch einfach nur „den Fetisch“ bezeichnet Kokoschka die zu erstellende Puppe wiederholt in seinen Briefen an Hermine Moos. Sehr allgemein gesehen, ist ein Fetisch ein Ersatzobjekt, das durch individuelle oder kollektive Zuschreibungen eine Bedeutung erhält, die ihm nicht grundsätzlich inhärent ist. Das durch die fetischistischen Zuschreibungen aufgeladene Objekt wird für den Fetischisten zu einem Prinzip, an das er Verehrungs-, Furcht- oder Wunschmotive bindet (vgl. Böhme 2006, 17). Sinn und Zweck der Puppe scheint in diesem Fall ihre Fähigkeit zu sein, als Projektionsfläche zu dienen, so wie Rainer Maria Rilke es in seinem berühmten Aufsatz über Puppen zum Ausdruck bringt, wenn er schreibt: „[...] sie [die Puppe] war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung an ihr unerschöpflich wurde“ (Rilke 1914). In den Briefen kommt zudem das Zwischenstadium zwischen Anerkennung und Negierung deutlich zum Ausdruck, das für die Konstruktion des Fetisch typisch ist. Ziel des folgenden Textes ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was hier eigentlich ersetzt wird und wieso. Das heißt, es geht darum nachzuvollziehen, wie und zu welchem Zweck die Frau hier als Fetisch in Puppenform konstruiert wird. Das soll anhand der Briefe Kokoschkas an Hermine Moos unter Einbeziehung der dazugehörigen illustrativen Ölskizze versucht werden. Es geht somit um das Nachspüren von geschriebener und gemalter Idealvorstellung. Denkbar wäre, dass sich dabei exemplarisch herauskristallisiert, wodurch sich die genuin bildnerisch-künstlerische Inszenierung der künstlichen Frau auszeichnet

Geschriebenes Ideal: Kokoschkas Briefe an Hermine Moos

In der Art und Weise, wie Kokoschka in seinen Briefen immer wieder neue Einzelheiten der herzustellenden Puppe beschwört, wird seine Obsession ersichtlich. Dabei gehen seine Anweisungen deutlich über die reine Gestaltung des Puppenäußeren hinaus, denn er gibt Moos zusätzlich handwerkliche Anweisungen, schickt ihr Materialproben schickt und erläutert bestimmte Vorgehensweisen zur Erstellung der Figur. Sein Anspruch ist kein Geringeres, als die (utopische) Vorstellung, die Künstlichkeit der (Puppen-)Frau vollkommen verschleiern zu können. Dabei knüpft er sein zukünftiges Glück an den Erfolg des Projekts und will eine mögliche Enttäuschung um jeden Preis vermeiden. Er erklärt der Puppenmacherin:

„Ich wiederhole, daß mein ferneres Glück und meine Seelenruhe davon abhängen, diesen Mittelpunkt meines Lebens in Händen zu halten“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 299) und fährt fort: „Wenn ich merke, daß es künstlich angefertigt ist [...] bin ich gepeinigt mein Leben lang“ (ebd., 306).

Der (möglichen) Enttäuschung kann Kokoschka nur durch eine gelingende Täuschung entgehen. Immer wieder betont er, wie wichtig ihm die Natürlichkeit des Ergebnisses sei, doch zugleich wird durch von ihm vorgeschlagenen Materialien und Arbeitsschritte deutlich, dass es sich hier um die Erzeugung von etwas zutiefst Künstlichem handelt. So aktualisiert er permanent den Objekt- und Fetischstatus der Puppe, fordert aber zugleich deren Lebensechtheit ein, wobei er durchaus glaubt, diese erreichen zu können. Das wiederum chrakterisiert den fetischistischen Bezug, denn „das Verhältnis zum Fetisch [...] funktioniert und ist doch verblendet; es ist ein bewusst gehandhabter Mechanismus, der in seiner inneren Struktur unbewusst bleibt“ (Böhme 2006, 17). Dabei stellt der Ersatz einer Person durch ein Fetischobjekt auch eine Form der Ermächtigung dieser Person dar. Im Rahmen ihrer Überlegungen zum so genannten „male gaze“ begreift Laura Mulvey (1994, 58f.) den Akt der Fetischisierung als Möglichkeit, der durch die Frau evozierten (Katastrations-)Angst des männlichen Unbewussten beizukommen. Das Ersatzobjekt vermittele weniger Gefahr als vielmehr eine Bestätigung der Ermächtigung.
Die Briefe Kokoschkas zeigen, dass es ihm weniger um eine lebensgetreue Nachbildung Almas geht als um die Manifestation seines grundlegenden Weiblichkeitsideals. Das wiederum setzt er sich – ausgehend von der ehemaligen Geliebten und unter Berufung auf reale Frauen sowie kunsthistorische Beispiele – alsmögliche Muse zusammen: „Der Puppe, die Modell für Kokoschkas Kunst sein wird, ist bereits der verbildlichte Körper einer Muse eingeschrieben“ (Söntgen 1999, 131).
Moos ist angehalten „von allem Weiblichen, das ich mir denken mag, die verführerischste Form auszubilden mit ihren Händen“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 298). So bittet Kokoschka sie mehrmals (ebd., 299), ihren eigenen Körper abzutasten, um so ein möglichst reales Ergebnis zu erzielen. Die Hände, so schreibt er, sollen wie die „einer gepflegten Russin“ und die Füße „so wie von einer Tänzerin: Karsavina“ aussehen. Bezüglich der Brüste führt er aus: „Das vollkommene Modell sind die der Helene Fourment in dem kleinen Rubensbüchlein, wo sie den einen Knaben am Schoß hält und der andere steht“ (ebd., 299f.). Ferner fordert er einen Haarton, „der etwa ein goldenes Kastanienrot ist (Tizianhaar)“ (ebd., 291) und erläutert: „die indische Taille ist nicht mein Ideal [...] sehen Sie sich, bitte, Zeichnungen von Akten des Nikolaus Deutsch, Baldung Grien, Grünewald an, wo der Brustkorb und Bauch so souveränen und vielfältigen Formenreichtum zeigen“ (ebd., 301). Doch werden nicht nur verschiedene – reale wie fiktive – Frauen als Vorbild genommen, sondern er bedient sich zur Kreation seiner „Phantasiefürstin“ auch im Tierreich und verlangt, das Puppenhaupt „mehr wie ein[en] Katzenkopf“ (ebd., 298ff.) zu gestalten.
Kokoschkas Ideal ist demnach ein aus verschiedensten, realen und fiktiven, menschlichen und tierischen Provenienzen zusammengesetztes Kunstprodukt. In seinem Gestus der Beschwörung dieses Ideals erinnert er an den griechischen Maler Zeuxis. Dieser bekam der Legende nach den Auftrag, ein Bild Helenas von Troja anzufertigen. Da er kein Modell finden konnte, das Helenas Schönheit auch nur ansatzweise erreichte, wählte er fünf junge Frauen aus und kombinierte deren jeweils beste Attribute. In der Novelle Sarrasine ordnet Honoré de Balzac seinem titelgebebenden Protagonisten einen ähnlichen Modus zu, der wiederum in seinem Fetischcharakter durch Roland Barthes (1987, 155) analysiert wird. Der weibliche Körper, so Barthes, würde hier lediglich in Partialobjekten wahrgenommen werden, wobei die Zerteilung einerseits zur Konstruktion der Frau vonnöten ist und gleichzeitig eben jene Gemachtheit ausstellt:

Aufgeteilt [...], so ist die Frau nur eine Art Wörterbuch von Fetisch-Objekten. Diesen zerrissenen, zerfetzten Körper [...] fügt der Künstler [...] zu einem totalen Körper zusammen, der endlich vom Himmel der Kunst herabgestiegen ist, und in dem der Fetischismus sich aufhebt [...]. Und doch bleibt [...] dieser rettende Körper [...] ein fiktiver: sein Status ist der einer Schöpfung [...], eines Gegenstandes

Während es bei Kokoschka einerseits gerade diese äußerste Artifizierung zu sein scheint, die als lustvoll erlebt wird, betont er andererseits immer wieder den Aspekt des Natürlichen – die Illusion von Ganzheit. Diese wiederum muss jedoch im Moment, da er die Figur das erste Mal sieht, zerbrechen, genauso wie das Ziel der narzisstischen Projektion des Künstlers (vgl. Söntgen 1999, 125).
Kokoschka erzeugt ein Bild, dessen Zweck es ist, gleichzeitig als Modell und Muse zu dienen, das heißt, wiederum als Bild gebannt zu werden. In diesem Zusammenhang wird allerdings auch deutlich, dass bereits das „Original“, „seine“ Alma als Ursprung seiner Obsession, eine von ihm mit Zuschreibungen belegte und deshalb konstruierte Frau ist. Kokoschkas Alma ist eine Fiktion, von der ausgehend er eine zutiefst hybride Idealfrau schafft. Unter Zuhilfenahme der Interpretationsleitung von Hermine Moos erhält sie als Puppe ihre physische Form. Auf dieser Ebene verschwindet das reale Vorbild beinahe gänzlich, der Konstruktionscharakter der Frau aus männlicher Perspektive wird auf die Spitze getrieben.
In der Alma-Puppe tritt die Verquickung von Künstlichem und Natürlichem sowie die Verschiebung von einem ins andere in aller Deutlichkeit zutage. Das wiederum bedingt das Irritationsmoment beim Erblicken des Endergebnisses: „Wie ein Fetisch täuscht die Puppe über den Mangel hinweg, den sie als weibliche Gestalt verkörpert. Doch gerade ihre kunstvolle Konstruktion stellt den Mangel aus, den die künstliche Frau verhüllen sollte“ (ebd.). Das Fazit, das aus den Briefen Kokoschkas an Hermine Moss gezogen werden kann, lautet: Mit der in den Puppenkörper transformierten Frau wird ein vermeintlich ganzheitliches Ideal erschaffen, das jedoch nicht umhinkann, die Brüche und Fragmente, aus denen es gemacht ist, in aller Deutlichkeit auszustellen. Eine Ölskizze, die Kokoschka der Puppenmacherin schickte, gibt weiteren Aufschluss über die Art von Frau, die der Künstler in der Puppe verkörpert sehen will.

Gemaltes Ideal: Alma Mahler als stehender weiblicher Akt

Durch einen Freund ließ Kokoschka Moos „eine lebensgroße Darstellung meiner Geliebten“(Kokoschka u. Spielmann 1984, 293) in Form einer Ölskizze zukommen. Somit erlaubt diese Ölskizze einen weiteren Aufschluss über die Art von Frau, die der Künstler in der Puppe verkörpert sehen will. Sie ergänzt die bisherigen schriftlichen Ausführungen Kokoschkas und wird in seinem Brief vom 20. August 1918 erläutert, mit der Bitte, das Vorbild „recht getreu nachzuahmen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Geduld und Sensualität in Realität umzuschaffen“ (ebd.). Es wird sich später zeigen, dass in diesem Wunsch möglicherweise der Grund für das wenig zufriedenstellende Endergebnis liegt.
Das 180cm hohe und somit etwa lebensgroße Bild mit dem Titel Stehender weiblicher Akt, Alma Mahler (vgl. Abbildung 2) wurde mit Öl auf Papier gemalt und zeigt eine stehende, nackte Frauenfigur vor einem flächigen braunen Hintergrund.

Abbildung 2: Oskar Kokoschka: Stehender
weiblicher Akt, Alma Mahler, 1918

Abbildung 2: Oskar Kokoschka: Stehender weiblicher Akt, Alma Mahler, 1918

Auch der Rest des Bildes ist in erdigen Tönen gehalten; sie reichen von einem hellen Ocker einiger Körperpartien über das Kastanienrot der Hauptund Schamhaare hin zu den dicken schwarzen Linien, mit denen der Körper umrissen ist. Die Linienführung ist unruhig und der Farbauftrag fleckig, sodass der Bildträger stellenweise zu sehen ist. Der Frauenkörper nimmt fast den ganzen Bildraum ein und steht dabei seltsam verdreht. Der Kopf ist im Dreiviertelprofil abgebildet und blickt die Betrachter*innen aus dem Bild heraus aus dunklen Augen und mit fest geschlossenem Mund an. Das dichte Haar ist offen und reicht beinahe bis zur Taille. Der Stand der abgebildeten Frau ist etwa hüftweit, der sichtbare Arm ist nah am Körper gehalten und der Unterarm nach oben gebeugt. Der Oberkörper ist im Profil abgebildet, während der Körper ab der Hüfte wieder der Drehung des Kopfes folgt. Der vordere Fuß steht fest auf dem Boden, doch der hintere Fuß scheint in der Luft zu hängen, was vermutlich der Funktionalität der Darstellung desselben geschuldet ist: „Das schräg gestellte Bein zeichnete ich nur ein, damit Sie die Formen desselben auch von innen sehen“ (ebd.), erklärt Kokoschka in seinem Brief. Prinzipiell lässt sich aber festhalten, dass die Ölskizze nicht nur illustrativ, sondern darüber hinaus ein autonomes künstlerisches Werk mit besonderer Ästhetik ist. Indem die Skizze eine „psychoästhetische Doppelexistenz“ führt, nimmt sie im Oeuvre des Künstlers einen Sonderstatus ein und markiert „ein Durchbrechen der ästhetischen Schranke zwischen Kunst und Leben“ (Gorsen 1994, 155).
Dieser von Peter Gorsen vorgeschlagenen Interpretationslinie folgend drängt sich, wie bereits in den Briefen, der Gedanke auf, dass es hier weniger um eine naturgetreue Wiedergabe der ehemaligen Geliebten als vielmehr um die Beschwörung eines fiktiven Ideals geht, über das die Skizze Aufschluss gibt. Laut Beate Söntgen (1999, 131) erinnert die Darstellung an die Bilder Peter Paul Rubens‘ von seiner Ehefrau Helene Fourmet im Pelz. So ist auch das zuvor schriftlich von Kokoschka „verlangte“ Tizianhaar vorhanden, das sich eindeutig von Alma Mahlers eigentlich dunkelbraunem Haar unterscheidet. Teilweise veranschaulicht die Skizze das Ideal, welches Kokoschka auch in seinen Briefen evoziert, andererseits gibt das Bild Aufschluss über sein ästhetische Aspekte überschreitendes Weiblichkeitsideal. Denn die Skizze ordnet Alma dem Frauenbild der Zeit entsprechend zwischen Erlöserfigur und bedrohlicher Femme fatale ein – sichtbar wird eine gleichzeitige Überhöhung und Abwertung des Weiblichen. Ingried Brugger (1992, 70) interpretiert die Körperhaltung Almas in dieser Skizze als Bet- und Bittgeste, wobei eine „für den Expressionismus insgesamt kennzeichnende Inkohärenz zwischen Blick und Geste“ zu erkennen ist. Der Blick ist nicht zum Himmel erhoben, sondern die Figur schaut fast herausfordernd aus dem Bild heraus auf die Betrachter*innen. In dieser Diskrepanz kulminieren das Gute und das Schlechte, die Enttäuschung und deren Überwindung: „Kokoschkas Darstellung [...] deutet die verlorene Geliebte ambivalent als Sünderin aus verbotener Liebe wie als Büßerin für die gebrochene Treue“ (ebd.). Sie ist Heilige und Hure gleichermaßen. „Nur eine zur heiligen Magdalena sublimierte Femme fatale ist dem verletzten Künstler als Vorlage für den Puppenfetisch akzeptabel“ (Gorsen 1994, 155).
Zum „Typus der heiligen Sünderin“ (Brugger 1992, 71) stilisiert, kann diese Version Almas alle Wiedersprüche in sich vereinen. Um als Vehikel von Kokoschkas Ideal zu dienen, muss die originale Alma zunächst gewissermaßen rehabilitiert werden. So wird sie gleichermaßen zu seinem künstlerischen und weiblichen Ideal.
Was Kokoschka hier schafft, ist eine „neue dreidimensionale Schöpfung mit den porträtähnlichen Zügen von Alma Mahler“ (Gorsen 1994, 153). Interessant ist dabei, dass Kokoschka zu diesem Zweck eine Studie anfertigt, die laut Gorsen(ebd.) eine „synästhetische Koordination von Tast- und Augensinn“ ist. Rezipiert man die Ölskizze und den zugehörigen Brief gemeinsam, so wird erkennbar, dass es Kokoschka darum geht, „beim Ansehen und Angreifen das Weib [...] lebendig zu machen“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 291). Er verlangt neben einer optischen also auch eine haptische Täuschung, wobei letzterer Aspekt in den Folgebriefen einen höheren Stellenwert einzunehmen scheint. Die Frau wird hier vor allem durch den Tastsinn belebt, wobei Kokoschka diesem jedoch visuelle Qualitäten zuspricht, indem er bemerkt: „Oft sehen die Hände und Fingerspitzen mehr wie die Augen“ (ebd., 295). Dem vorausgehend empfiehlt er Moos nicht etwa, in einem (Körper-)Atlas nachzuschauen, sondern sich selbst so lange abzutasten, bis sie das Gefühl verinnerlicht habe (vgl. ebd., S.294f.).

Kokoschka legt sehr viel Wert auf die Oberflächenstruktur des Puppenkörpers, denn „es handelt sich um ein Erlebnis, daß ich umarmen muß!“ (ebd., 294). Die ihm „wichtigen Flächen“ sind die „entstehenden Gruben“ und „Falten“ (ebd., 291). In dem die Skizze begleitenden Brief ersucht er Moos: „Bitte machen Sie es dem Tastgefühl möglich, sich an den Stellen zu erfreuen, wo die Fett- und Muskelschichten plötzlich einer sehnigen Hautdecke weichen, aus denen dann irgendein Knochenstück an die Außenfläche kommt“ (ebd.). Ferner wünscht er, „daß der Bauch und das gröbere Muskelfleisch am Bein, Rücken usw. eine ziemliche Festigkeit und Körnigkeit besitzt!“ (ebd.). Diese haptischen Qualitäten sind in der Skizze auch vermerkt: „Die Streifung und Lagerung der Fett- und Muskelbündel ersehen Sie ziemlich aus der Lage der weißen Farbflecken, die ich der Natur gemäß anbrachte“ (ebd., 294). Die Malerei wird so zu einer Art Oberflächenstudie des weiblichen Körpers, wie Kokoschka ihn sich herbeiimaginiert. Sigrid Metken sieht sich hier sogar an „Anatomiemodelle erinnert, die den Körper schichtweise nachbilden und dem sezierenden Blick der Mediziner darbieten“ (Metken 1992, 30). Diese Parallelisierung von Künstler und Mediziner ist vor dem Hintergrund der Zeit, in der Weiblichkeit als ein pathologischer Zustand, den es zu analysieren und therapieren galt, wahrgenommen wurde, eine bemerkenswerte Analogie.
Das Endergebnis suggeriert, dass Moos Kokoschka hier beim Wort genommen hat, da dieses durchaus Ähnlichkeit mit der gemalten Darstellung aufweist. Zwar war Kokoschka enttäuscht, doch „in gewissem Sinne hat er [...] genau das erhalten, was er in der Skizze an Ungegenständlichem, Summarischem a usgeführt hat. Die Puppe muss in den Augen von Hermine Moos eine der Malerei [...] analoge Übersetzung in Materialien gewesen sein“ (Brugger 1992, 70).
Doch die Enttäuschung, die Kokoschka beim Anblick der Puppe verspürt hat, brachte ihn offensichtlich nicht davon ab, sie später zu malen. Somit hat die Puppe ihren Endzweck, dem Maler als Inspiration zu dienen, letztlich dennoch erfüllt. Schaut man auf die Ölskizze, dann erfüllte sie diesen Zweck sogar schon bevor er das Ergebnis von Moos’ Arbeit überhaupt in den Händen hielt.

Die Alma-Mahler-Puppe als Modell und Muse

Dass Kokoschka Alma Mahler neben ihrer Rolle als Partnerin vor allem als Muse verstand, wird in seinen Briefen an die Geliebte deutlich:

Ich muss Dich bald zur Frau haben, sonst geht meine grosse Begabung elend zugrunde. Du musst mich in der Nacht wie ein Zaubertrank neu beleben; ich weiss es, dass es so ist. [...] Du bist die Frau und ich der Künstler. [...] Ich sage mich von allem fort, wenn du kommst, damit ich arbeiten kann (Kokoschka u. Spielmann 1984, 115).

Sie ist die notwendige Quelle seiner Inspiration, er die ausführende Instanz. Ohne den inspirierenden Funken Almas glaubt er, nicht schaffend tätig werden zu können. Dabei stellt er alleinigen Anspruch auf sie, was in Eifersucht mündet: „Nutzlose Menschen belebst du, mir bist Du bestimmt worden, und ich soll arm sein?“ (ebd., 116). Es ist interessanterweise eine Eifersucht, die er Hermine Moos gegenüber auch im Hinblick auf die Puppe äußert: „Ich würde sterben vor Eifersucht, wenn irgendein Mann die künstliche Frau in ihrer hüllenlosen Nacktheit mit den Augen oder den Händen berühren dürfte“ (ebd., 304).
Dass der Ersatz Almas weniger als Partnerin denn als Modell und Muse die primäre Bestimmung der Puppe sein soll, wird innerhalb der Briefe an Moos zunehmend deutlich. Die Aktualisierung seiner Muse soll von nun an nicht mehr nur in der Fantasie vonstatten gehen, was Kokoschka als anstrengend empfindet, sondern auch physisch zugänglich sein. „Sie werden den Fetisch so lebenswahr herausputzen, daß ich meine Träume von nun an nicht mehr damit überlasten muß, ihn mir täglich neu zusammenklauben zu müssen aus Erwartungen und Erinnerungen“ (ebd., 299). Weiterhin betont Kokoschka, Moos solle „die behaarten Stellen nicht sticken, sondern wirkliche Haare einziehen, sonst wirkt es, wenn ich eine nackte Figur danach malen will, nicht lebendig, sondern wie Kunstgewerbe“ (ebd., 302). Auch in dieser Hinsicht ist die Lebensechtheit der Puppe von größter Bedeutung. Denn sollten Spuren der Fertigung ersichtlich sein, so „wird es kein Weib, sondern ein Monstrum. Und ich kann nur von einem Weib zu Kunstwerken begeistert werden“ (ebd., 306).
Zumindest seit dem 15. Jahrhundert haben Künstler*innen neben menschlichen Modellen immer auch künstliche Modelle als Vorlage benutzt (vgl. Munro 2014, 5). Im Falle Kokoschkas verquicken sich Mensch und Kunstfigur auf seltsame Weise: Gebannt in den Körper einer leblosen Puppe, verschärft sich die Stillstellung der Frau als Muse und auch die Verkomplizierung von Natürlichem und Künstlichem erhält hier eine weitere Komponente. Denn schließlich ist bereits die menschliche Muse ja in gewisser Weise artifiziell.
Durch die Übersetzung in die Beschreibungen und Illustrationen, die Kokoschka Moos zukommen ließ, wird Alma bereits beschworen in ihrer Rolle als ideales Modell und nicht als eigenständige Person. Durch diese Funktionalisierung ist sie also bereits bevor sie auf den Puppenkörper übertragen wird keine reale Person mehr, sondern längst ein Kunstprodukt. Kokoschka ordnet Alma als Modell bestimmten kunsthistorischen Ikonografien und Darstellungsarten unter, indem er in Briefen und zugehörigen Illustrationen wiederholt auf diese rekurriert. „Der Wille, die Realität in Kunst zu bannen und die Natur (Modell) zur Kunstfigur zu stilisieren, zeugt von dem Versuch einer visuellen Transformation der Wirklichkeit in Imagination“ (Vogelberg 2005, 347). Es ist eine Inversion des ursprünglichen Pygmalionmythos, der das Ideal aus der Imagination gebiert und Wirklichkeit werden lassen will.

Die Enttäuschung Kokoschkas beim Anblick der Puppe bezieht sich dann letztendlich auch ganz explizit auf die durch ihre Beschaffenheit mangelnde Fähigkeit, als Modell herzuhalten, was ja primärer Zweck des Auftrags war. Er bemängelt, „daß Arme und Beine eher wie mit Mehl gefüllte Strümpfe baumeln als wie ein Glied mit Fleisch und Knochen, was ich erst recht nicht erhoffte; denn davon hängt doch wieder ab, ob ich nach dem Modell malen könne und zwar besser als nach einem lebendigen – weshalb ich ja die Puppe machen ließ“ (Kokoschka u. Spielmann 1984, 312).
Letztlich sollte dies Kokoschka jedoch nicht davon abhalten, die Puppe als Modell zu verwenden. Dabei wurde der pygmalionische Wunsch nach Schaffung einer idealen Frau und Muse in seinem Fall so häufig verdreht und verdoppelt, dass der Übergang von der lebendigen Frau in das Kunstprodukt endgültig verschwimmt. In jedem Fall zeigt sich, dass die reale Alma als Person durchgestrichen wird. Indem sie erst zum Modell stilisiert, als Kunstfigur der Muse in den Körper der Puppe verlegt – „a body that could be controlled, manipulated and reconfigured at will“ (Munro 2014, 8) – und in letzter Instanz wiederumin Malerei übersetzt wird, wird Alma ihrer Persönlichkeit entledigt und auf ein fremdbestimmtes Bild reduziert. So lassen sich die Briefe, die Ölskizze und auch die späteren malerischen Abbildungen der Puppe als Zeugnisse eines Prozesses interpretieren, an dessen Ende die Transformation des Menschen Alma Mahler in eine Kunstfigur steht.

Es ist eine Ermächtigung des Mannes über das weibliche Subjekt mit künstlerischen Mitteln, denn „in the end, whether cunningly disguised in a notionally naturalist scene, a key protagonist in a pictorial narrative, or a body dismembered, reconfigured and photographed, the mannequin was only ever what the artist made of it“ (ebd., 3). Die selbst unfruchtbare Kunstfrau wird zum Ausgangspunkt männlicher Zeugungskraft und dient darin der Selbstaktualisierung des Mannes, in diesem Fall in seiner Rolle als schöpferisch tätiger Künstler.


Literaturverzeichnis

Barthes, Roland(1987). S/Z. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Brugger, Ingried(1992). Larve und „Stille Frau“. Zu Oskar Kokoschkas Vorlage für die Puppe der Alma Mahler. In Klaus Gallwitz (Hg.), Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Epilog einer Passion (S. 69-78). Frankfurt a. M.: Städtische Galerie im Städel..

Gallwitz, Klaus (Hg.), Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Epilog einer Passion. Frankfurt a. M.: Städtische Galerie im Städel.

Gorsen, Peter (1994). Alma Mahler, Oskar Kokoschka und die Puppe. Nachträgliches zur Lösung einer fetischistischen Verstrickung. In Klaus Amann, Armin A. Wallas (Hg.), Expressionismus inÖsterreich. Die Literatur und die Künste (S.149-157). Wien/ Köln/Weimar: Böhlau.

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Metken, Sigrid (1992). Stehender weiblicher Akt, Alma Mahler. In Klaus Gallwitz (Hg.), Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Die Puppe. Epilog einer Passion (S. 30-31). Frankfurt a. M.: Städtische Galerie im Städel.

Mulvey, Laura (1994). Visuelle Lust und narratives Kino. In Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.

Munro, Jane (2014) Introduction. In Jane Munro (Ed.), Silent Partners, Artist and Mannequin from Function to Fetish (p.1-11). New Haven/London: Yale University Press.


Über die Autorin / About the Author

Jaana Heine

MA 2019 in Vergleichender Literatur- und Kunstwissenschaft mit einer Arbeit zu Facetten der künstlichen Frau in der Literatur und Kunst an der Universität Potsdam; zuvor Studium der Kultur-, Literatur- und Kunstwissenschaft in Hildesheim, Aarhus und Berlin; lebt und arbeitet in Berlin.

Jaana Heine

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